Читать книгу Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby - Страница 6

3

Оглавление

Wir werden gleichzeitig um fünf Uhr wach, bleiben im Bett liegen und lauschen dem Regen. Während der Fahrt mit dem Auto zur Friedhofskapelle dringt die Sonne durch einige Wolkenlücken, und wir fahren unter einem Regenbogen hindurch. Jetzt ist es ein klarer Tag. Die Jungen sitzen eng nebeneinander auf dem Rücksitz. Sie haben die schriftlichen Prüfungen überstanden und können sich an nichts erinnern, weil ihnen alles wie im Nebel vorgekommen ist; bald kommt die Mündliche, und in Kürze sind sie Abiturienten, dann müssen sie in die Welt hinaus. Die Erde dreht sich weiter. Ich kurbele das Fenster herunter, und der Wind erfasst mein Haar. Ich hole Luft, so wie es Kassandra mir beigebracht hat, wenn sich die Unruhe schleichend nähert. Ruhig durch die Nase einatmen, bis tief hinunter in den Magen, dann durch den Mund ausatmen. Ich gab mich dem Alltag mit Kassandra und den Zwillingen hin. Ich habe einmal Tennis gespielt. Ich hatte eine Geliebte, ich hatte zwei gleichzeitig. Ich hatte Freunde und ging aus. Ich hatte einen durchtrainierten Körper, war muskulös und wirkte selbstverständlich auf hübsche Frauen anziehend. Ich war einmal ein attraktiver Mann. Seitdem ist mein Körper zu einer Transporteinheit und einem Nahrungskanal für das Gehirn verkümmert, und ich begann zu welken. Aber es gab nichts, was ich mehr schätzte als nach einem langen Tag im Ministerium nach Hause zu kommen und mich an den Küchentisch zu setzen, mich mit Kassandra zu unterhalten, mit ihren Freundinnen, den Zwillingen, deren Freunden. Die Freude und Geborgenheit wogen reichhaltig die Bedürfnisse und Träume auf, die ich nicht länger identifizieren konnte.

Ich lasse die rote Rose los und folge mit meinen Augen ihrem ungleichmäßigen Hinunterschweben, bis sie auf den weißen Sarg tief unten im Grab auftrifft. Mein Blick begegnet dem von Martin Fisch. Er hat den Zwillingen angeboten, bei ihm einzuziehen, aber sie haben abgelehnt. Ich kann den Duft der Rosen in ihren Händen riechen.

In der Nähe weint ein Baby. Ob es weh tut, das erste Mal zu atmen, und das letzte Mal? Ich denke an Kassandras weißes, zartes Gesicht, ihre hohe, gerundete Stirn, die nach kosmetischen Behandlungen glatten Wangen, ihre schwarzen Wimpern, Engelshaar, das halb den Rücken herunter reicht. Sie schwebt dahin zwischen ihren viel größeren, fast erwachsenen Söhnen mit den breiten Schultern. Ich umfasse diese Schultern.

Ich kann die Geduld meines Chefs nicht viel länger strapazieren. Bald wird es wieder die alten Arbeitszeiten geben, es sei denn, ich bewerbe mich um einen humaneren Job. Der Sarg ist von Rosen bedeckt. Es ist gut, dass er leer ist. Der Gedanke, dass ihr Körper dort eingesperrt wäre, ist unerträglich. Wir alle können Kassandra vor uns sehen, ihre Eltern können sie sehen, die Kollegen, die verflossenen Liebhaber, die Freunde und die mir Unbekannten. Wie der dunkelhäutige Mann am Rande des Trauerzuges. Etwas kommt mir jetzt an ihm bekannt vor. Ja doch, das ist der Grieche Alexandros. Er trägt einen Vollbart, den er damals nicht hatte, als er bei uns wohnte. In dem Moment wendet er seinen Blick zum Himmel, mit von Tränen geröteten Augen, und ich werde in der Zeit zurückgewirbelt, hebe den Telefonhörer ab und sage:

„Hier ist Carl.“

„Carl Bernstein? Der Verfasser eines Artikels über Nahtod-Erfahrungen?“ fragt eine dünne Frauenstimme.

Ich kann meinen Namen nicht verleugnen, ebenso wenig, dass ich vor zwei Jahrzehnten, vor dem Jurastudium, ein paar Monate lang Anthropologie belegt hatte und in dem Fach ein Referat zu dem Thema geschrieben hatte. Anscheinend hatte es jemand ins Internet gestellt. Ich schalte den Mithörlautsprecher des Telefons ein.

„Ja, das bin ich.“

„Ich heiße Vicky, du ahnst nicht, wie froh ich bin, deine Stimme zu hören. Ich rufe im Namen eines jungen Mannes an, er heißt Alexandros. Er ist den ganzen Weg von Griechenland hierher gereist, um einen Dänen namens Paul Weis aufzusuchen. Kennst du ihn?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Störe ich?“

„Nein.“ Meine Antwort kommt sicher etwas zögerlich.

„Alexandros hatte ein Nahtod-Erlebnis, verstehst du, und als er wieder zu sich kam, war es in dem Bewusstsein, dass ihm als Mensch ein höheres Ziel bestimmt war, das über seine jetzige Lebensführung hinausging. Er konnte es nicht näher definieren, nur, dass er nicht länger Häuser für reiche Touristen bauen wollte. Kurz darauf fand er alle Antworten auf seine Fragen in einer griechischen Übersetzung von Paul Weis’ Buch ‚Stimmen des Himmels’. Nach der Lektüre des Buches machte er sich von allen materiellen Bedürfnissen frei. Er verkaufte seine Wohnung und sein Auto und verschenkte sein Geld. Seine Frau und sein Kind zogen in eine billige Mietwohnung, und er selbst begann herumzureisen und von seinen Plänen zu erzählen. Er schrieb darüber auch im Internet, und inzwischen hat er mehrere Tausend Anhänger. Vor einem Monat reiste er dann nach Dänemark, um Paul Weis zu suchen.“

„Ach so.“

„Die einzige Spur, die er verfolgen konnte, war die Adresse der Organisation ‚Universal Link’, die Paul Weis’ Buch herausgegeben hat. Die hat ein Postfach bei einem Postamt hier in der Stadt. Aber Alexandros konnte Paul Weis nicht finden. Er streifte durch das ganze Viertel und klopfte schließlich bei unserer Wohngemeinschaft an die Tür und bat um Hilfe. Seitdem wohnt er bei uns.“

„Und was sollte ich tun können?“ Über den Küchentisch hinweg fange ich Kassandras Blick auf.

„Möglicherweise ist es nur ein Schuss ins Blaue, aber ich stellte mir vor, dass, wenn Alexandros’ Reise ursprünglich einem Nahtod-Erlebnis entsprang, ich bei einer Suche danach im Internet vielleicht jemanden finden konnte, mit dem er anstelle von Weis sprechen könnte.“

„Und so kam ich ins Spiel. Aber worüber soll ich deiner Meinung nach mit ihm sprechen?“ sage ich und kann Kassandras Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Vielleicht kannst du ihm etwas sagen, was ihn auf seiner Suche weiterbringt. Dazu kommt, dass er nicht mehr viel länger bei uns wohnen bleiben kann. Ich dachte, dass er eventuell ein paar Tage bei dir übernachten könnte?“

„Wir haben relativ wenig Platz“, sage ich. Kassandras Kopf bewegt sich auf und ab. „Aber andererseits könnte es wohl gehen.“

Ein paar Tage später steht Vicky in der Tür ihrer Wohngemeinschaft und begrüßt Kassandra und mich mit einem Lächeln. Sie ist älter als ich mir vorgestellt hatte. Ihre blonden, seit langem dauergewellten Locken sind zu einem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden, das Gesicht ist wettergebräunt und ungeschminkt. Sie breitet die Arme aus, und ihr Blick verschwindet irgendwo zwischen unseren Köpfen.

„Willkommen auf dem Lande“, ruft sie.

Wir betrachten die flache Landschaft. Nicht weit entfernt kriechen Hochspannungsmasten über die Felder wie Insekten in einem Science-Fiction-Film.

„Es ist schön hier“, sagt Kassandra.

„Kommt jetzt und begrüßt Alexandros. Er ist 28 Jahre alt, wie Jesus, als er in die Wüste hinauswanderte. Wisst ihr, warum er nach Dänemark gekommen ist?“

„Jesus?“

„Nein, nein“, lacht sie. „Oder vielleicht trotzdem, denn nachdem er Paul Weis’ Buch gelesen hatte, wurde Alexandros klar, wer er in Wirklichkeit ist. Sie wendet sich Kassandra zu. „Ich habe nie an Wunderheilung und so was geglaubt, bis ich Alexandros begegnet bin. Das erste Mal, als er mich berührte, sprengte sich mein Herz durch die Schichten von Trauer, die es bedrückten, und ich wurde von einem wunderbaren Gefühl von Freiheit erfüllt.“

Kassandra lacht und drückt Vicky.

„Aber die anderen in der Wohngemeinschaft sagen, er sei ein Schwindler auf der Durchreise. Alte Kommunisten haben für etwas, was sie nicht verstehen, nur Verachtung übrig“, lacht Vicky. „Die Männer hier im Haus haben Angst vor Veränderungen und wollen nicht mit ihm sprechen. Sie sehen in ihm eine Bedrohung ihrer Stellung und bezeichnen ihn als Stein im Schuh des Kollektivs.“

„Wie lange bleibt er im Land?“ frage ich.

„Er sagt, dass sich innerhalb von 40 Tagen nach seiner Abreise aus Griechenland alles verändert haben wird, und erst heute morgen haben wir darüber gesprochen, dass 33 Tage vorüber sind. Ich werde ihn vermissen.“

Wir ziehen Mäntel und Schuhe aus. In der Küche begegnen wir einem Mann mit graumelierten Haaren in löchrigen Jeans und mit einer Brille auf der Nase, er beeilt sich wegzukommen, ohne die fremden Elemente zu begrüßen. Vicky kocht Tee und ich bringe die Trinkbecher zum Kamin. Wir setzen uns in die mit verschlissenem Samt bezogenen Sessel und reiben uns die Hände. Ich lege meine Füße auf den Rand des Kamins nahe am Feuer. In dem Moment steht Alexandros vor uns, und wir springen auf und drücken ihm die Hand. Die Augen des Griechen sind dunkel und blicken in die Ferne. Er geht mir bis zur Schulter und ist unter seinem T-Shirt wie ein Ringer gebaut. Vicky stellt uns vor und gießt uns Tee in die braunen Trinkbecher ein. Die Stille erfüllt den Raum, und Wärme umfängt uns. Alexandros hat ein Buch auf dem Schoß liegen.

„Danke, dass ihr gekommen seid“, sagt er schließlich mit tiefer, weicher Stimme. Mit seinen schwieligen Händen öffnet er das Tabakspäckchen und holt ein Stück Zigarettenpapier heraus. Er füllt es mit Tabak, rollt es zusammen und leckt daran, um es zu versiegeln. „Paul Weis ist der Schlüssel. Er ist der Verfasser dieses Buches – es heißt ‚Stimmen des Himmels’“.

Er zündet die Zigarette an, bläst Rauch in die Flammen des Kaminfeuers und sieht mich mit unbeweglichen Augen an. Die Zigarette balanciert zwischen den schmalen Lippen, und jetzt leuchtet die Glut wiederum auf. Er wendet sein Gesicht Kassandra zu.

„Es ist in viele Sprachen übersetzt worden und in spirituellen Kreisen weltweit bekannt. Paul Weis gründete die Organisation Universal Link, welche die ursprüngliche Ausgabe herausgab. Universal Link hatte ihren Hauptsitz hier in der Stadt, existiert aber nicht mehr, und niemand hier weiß, was aus Mr. Weis geworden ist.“

„Erzähl ihnen, was deiner Meinung nach mit der Welt geschehen wird“, unterbricht Vicky.

„Universal Link ist mehr als ein Verlag“, fährt Alexandros langsam fort, ohne Notiz von ihr zu nehmen. „Es ist der Name für eine Operation, die die Menschheit vor dem Untergang retten soll, wenn die alles umfassende Zerstörung einsetzt. Vielleicht ist euch bereits klar, dass wir uns am Rand des Abgrunds befinden? Die Erdbevölkerung wächst explosiv, und alle Menschen sollen sich jeden Tag satt essen und sollen Autos, Fernsehen, Kühlschränke und all das übrige Materielle haben, was wir für selbstverständlich halten. Es wird ein Kampf jeder gegen jeden, und keiner kann gewinnen. Nicht lange, und es wird ein neuer Weltkrieg ausbrechen, und Atomexplosionen werden Vulkanausbrüche und Erdbeben auslösen, die jegliches Leben auf der Erde auslöschen. Aber Sekunden bevor der Erdball in Flammen und Schreien ertrinkt, werden Raumschiffe unter Führung von Commander Ashtar aus der Andromeda-Galaxis hierher kommen und die Auserwählten mit sich nehmen.“

Er saugt den Rest aus seiner Zigarette und schnipst sie in den Kamin.

„Wenn wieder Ruhe auf der Erde eingekehrt ist, werden die Auserwählten zurückkommen und zusammen mit dem wiedergekehrten Christus eine neue Lebensform schaffen. Das habe ich in einer Offenbarung jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod gesehen. Und später las ich das gleiche in diesem Buch, und ich begriff, dass ich in all dem, was geschehen wird, eine Rolle zu spielen habe. Und das habt ihr auch.“

Ich suche Kassandras Blick, aber ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Alexandros. Der Grieche hebt den Blick:

„Ihr bekommt keine Probleme mit mir. Ich faste und brauche nur ein wenig Wasser und einen Platz, wo ich schlafen und während der Wartezeit meditieren kann, und ein bisschen Tabak, das ist alles.“

Kassandra nickt unmerklich. Ich vertraue blind auf ihre Urteilskraft und erkläre, er sei uns willkommen. Etwa eine Woche oder so. Darüber sprechen wir noch.

„Von Staub bist du genommen. Zu Staub sollst du wieder werden. Vom Staub wirst du auferstehen.“ Der Wind erfasst eine Wolke aus Staub und wirbelt sie in die Luft.

Jetzt rückt die Menschenmenge näher an das Grab heran, und die Rosen färben den Sarg noch roter. Alexandros ist verschwunden. Vielleicht ist er gar nicht hier gewesen, vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Wäre er denn sonst nicht geblieben und hätte uns begrüßt? Jetzt kommen sie und sprechen ihr Beileid aus, mit Tränen in den Augen liefern sie Mitgefühl und Umarmungen ab, wie man es halt so tut, aber anstatt etwas zu geben, dringen sie in meinen letzten Freiraum ein, pumpen Tränen hinein, bis kein Sauerstoff mehr übrig bleibt.

Dann ist es überstanden, und die Zwillinge und ich fahren im Auto mit heruntergelassenen Fenstern weg, wie immer in Richtung Norden, den Øresund entlang. Ich fahre auf den üblichen Parkplatz, und wir steigen aus und gehen eine Zeitlang schweigend am Wasser entlang.

„Wir haben uns noch“, sagt Albert und sieht Robert und danach mich an. Wir stehen nebeneinander, die Gesichter dem Øresund zugewendet. Nicht weit von der Küste findet eine Segelregatta für Optimisten-Jollen statt.

„Ich wünschte, Mama wäre hier“, murmelt Robert.

„Wir drei haben uns noch, wir müssen weiterleben“, sagt Albert.

„Das weiß ich ja, aber ich vermisse sie!“

Mein Blick folgt einer der kleinen Jollen.

„Ich glaube, ich habe Alexandros bei der Beerdigung gesehen.“

Robert wendet sich mir zu.

„Er war da. Ich habe ihn auch gesehen.“

Gesetz des Menschlichen

Подняться наверх