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ОглавлениеIch habe das Gefühl, als hätte das Telefon schon etliche Male geläutet, als ich aufwache und den Hörer ans Ohr lege. Es ist Donald vom Ministerium. Die Übergangenen und Verbitterten nennen ihn Donald Dick. Ich sehe an mir selbst herunter, ich habe immer noch meine Kleidung und meine Schuhe an, konnte gestern Abend keine Ruhe finden.
„Kommst du heute rein, Carl?“ Er mobilisiert die ganze Freundlichkeit, die er in besonders peinlichen Situationen in Reserve hat.
Der Fernseher läuft, und aus dem Text der Laufschrift Breaking News geht hervor, der Ministerpräsident zöge in Erwägung, den Ausnahmezustand über Dänemark zu verhängen. In den vom Terror betroffenen europäischen Städten wandern Menschen wie Zombiefiguren in den Straßen herum, getrieben von Massenangst. Sobald sie auf ein Hindernis stoßen, wechseln sie die Richtung. Sie haben vergessen, was sie zurückgelassen haben, und wissen nicht, wonach sie suchen.
„Ich habe eine, wie soll ich sagen, ziemlich anspruchsvolle Sache übertragen bekommen. Ich hoffe, du kannst mir dabei helfen, die zu erledigen.“
In Kopenhagen patrouillieren die gepanzerten Mannschaftswagen des Militärs, und die Politiker in Christiansborg halten Krisensitzungen. Sie haben bereits neue Sondergesetze verabschiedet, die den Geheimdiensten freie Hand lassen. Die Beamten in der Zentralverwaltung haben sich in ihren Büros niedergelassen, von denen aus sie den Politikern mit Gesetzesentwürfen assistieren. Donald gilt als harter Knochen, aber das sind alle, die auf der gleichen Hierarchie-Ebene stehen wie er, sonst würde man auch nicht soweit kommen. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, sich dafür zu entschuldigen, dass er an einem Samstagabend oder Sonntagnachmittag wegen einer Aufgabe anruft, die es sofort zu erledigen gilt. Oft informiert er einen kaum, das meiste muss man sich selbst zusammenreimen und dazu noch beten, dass man die Aufgabe nicht missversteht, wie zum Beispiel die Ausarbeitung eines Redemanuskripts für den Minister in einer Angelegenheit, die man nicht kennt und in die man sich deshalb erst einmal gründlich einarbeiten muss. Vielleicht ist die Opposition in Besitz von Informationen gekommen, dass die Regierung vorschriftswidrig oder kritikwürdig gehandelt hat. Dann ist es an mir, die Informationen zu dementieren, ungeachtet wie korrekt sie auch sein mögen. Ich erinnere mich an eine Vielzahl von Fällen, insbesondere in Bezug auf die Teilnahme Dänemarks an den Kriegen im Irak, in Afghanistan und in Libyen, in denen ich mit Hilfe von Argumentationen, basierend auf Hinweisen auf anonyme Quellen und die Rücksicht auf die Staatssicherheit, mehr als einen Minister davor gerettet habe, von der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt zu werden. In seltenen, schwachen Momenten suchen mich die Lügen heim. Normalerweise empfinde ich einen gewissen Stolz darüber, dass ich über die notwendige intellektuelle Kapazität verfüge und mich in einer Position befinde, in der meine Überlegungen entscheidend sind, gesellschaftliche Destabilisierung zu verhindern. Die Misskreditierung der Motive, die die politischen Führer eines Landes leiten, wirkt zerstörerisch auf die Demokratie. Es gibt Situationen, und wird sie immer geben, die nach alternativen Versionen der Wahrheit rufen, und ich bin und bleibe ein Meister auf diesem Gebiet. Bisweilen träume ich sogar in der Behördensprache.
„Nur eine Stunde. Es geht nicht direkt um den Terroranschlag, und trotzdem. Es ist ein ziemlich gutes Angebot für dich. Komm um 13 Uhr.“
Im Hörer ertönt ein Klick. Donald ist ein eminent tüchtiger Schauspieler. Nur die besten dieser Art erreichen die Spitze im Außenministerium. Ich habe bemerkt, dass auf meiner Hierarchie-Ebene alle das gleiche Pokerface aufsetzen und gute Miene zum bösen Spiel machen können, wenn es sein muss. Alles ist Technik, wir können alles mögliche auswendig lernen, und wir können unsere Gefühle abkoppeln und Eiseskälte gegenüber denen praktizieren, die versagen und die geopfert werden müssen, damit wir selbst schneller vorwärts kommen. Auf meiner Stufe der Hierarchie muss man mit dem Dolch umgehen können. Man muss wissen, was erforderlich ist, um seinen Gegner für kürzere Zeit oder auf Dauer mattzusetzen.
Ich koche Hafergrütze für die Zwillinge. Sie müssen zur mündlichen Prüfung. Der eine Arm Roberts liegt auf der Bettdecke, Albert befindet sich darunter.
„Warum hast du uns nicht geweckt?“ ruft Albert, als er bemerkt, wie spät es ist.
Robert springt auf und läuft hinaus zur Dusche.
„Da ist Hafergrütze“, sage ich.
„Gibt es keine Brötchen?“ murmelt Albert.
„Ich habe verschlafen. Soll ich euch fahren?“
„Ja, danke“, sagt Robert auf dem Weg durch die Küche, ein Handtuch um den Körper gewickelt. „Die Formeln warten nicht.“
Albert schließt die Tür zum Badezimmer und kommt einen Moment später wieder heraus. Dann laufen wir die Treppe hinunter. Ich verstehe nicht, wie sie das hier so durchziehen können. Mein Herz klopft heftig in der Brust, es schreit nach Kassandra, wie ein Rauschgiftsüchtiger nach seinem Stoff.
Ich sitze auf dem Fahrrad und versuche, meine üblichen mentalen Überschüsse zu mobilisieren. Das ist notwendig, will man die Spiele und Machtkämpfe im Ministerium durchstehen, die vor allem daher rühren, dass das System des Außenministeriums keine anderen Ziele kennt als einen Posten als Botschafter. Die mehr als neunzig Prozent der Mitarbeiter, die das Ziel nicht erreichen, werden deshalb im voraus zu Verlierern erklärt. Sie müssen mit dem nach unten gestreckten Daumen und dem daraus folgenden Zustand der Niederlage leben. Sie haben es nicht geschafft, waren nicht tüchtig genug, nicht skrupellos genug, nicht intelligent genug, sie hatten nicht das, was dazu erforderlich ist. Sie ertrugen nicht die Leichen im Keller, das Gewissen plagte sie, sie schafften es nicht, sich vorzudrängen, um im Rampenlicht zu stehen und Anerkennung auf Kosten anderer zu ernten. Ihre ekelhaft falsche Bescheidenheit hinderte sie daran, die richtigen Karten auszuspielen. Über neunzig Prozent der Mitarbeiter sind misslungene Beamte, Hilfsarbeiter, die das Ministerium mehr oder weniger gezwungenermaßen bis zum Rentenalter durchfüttern muss. Die wenigen erfolgreichen Kollegen kehren den Verlierern den Rücken zu, sprechen nicht mehr mit ihnen, beantworten nicht ihre Anfragen, und betrachten sie nur, wenn diese es nicht sehen, und sie tuscheln untereinander, dass da einer geht, der nicht aus dem richtigen Stoff gemacht ist und deshalb vom System nichts erwarten kann, einer, der völlig fertig ist.
„Wie viele Male bist du schon ins Ausland entsandt gewesen?“ fragt Donald und sieht mich über den Rand seiner Brillengläser an. Natürlich kennt er die Antwort bereits.
„Zwei Mal – bei den Vereinten Nationen in New York und an der Botschaft in London. Ich rechne eigentlich damit, dass man mich in einem Jahr wieder rausschicken wird.“
„Ich werde deine nächste Entsendung gerne beschleunigen. Wir haben ein Problem in Athen, muss ich dir sagen, und ich brauche da unten einen soliden Mann. Ich schwanke zwischen einigen Mitarbeitern, du weißt schon, welchen, aber ich tendiere am ehesten zu dir.“
„Was für ein Problem gibt es in Athen?“
„Der Botschafter, Montgomery heißt er. Du kennst ihn ja.“ Auf Donalds Gesicht zeigt sich andeutungsweise ein Lächeln.
Pierre Montgomery ist ein paar Jahre älter als ich und hat Blitzkarriere gemacht. Er war drei lange Jahre mein Vorgesetzter. Wenn Donald schon ein scharfer Hund ist, dann ist Montgomery ein rasender, hungriger Wolf mit einem Wurf frierender Junger im Bau.
„Lass mich sagen, wie es ist: Das System hat ihn falsch eingeschätzt. Er funktioniert nicht und wird allmählich zum Alkoholiker. Es gibt da mehrere Fälle. Bei einem geht es um finanzielle Fehldispositionen und bei dem anderen um Autofahren unter Alkoholeinfluss. Beide haben wir glücklicherweise abschließen können. Schlimmer steht es um die Anklagen wegen Anwendung körperlicher Gewalt gegen einen Mitarbeiter der Botschaft. Mir war gar nicht klar, dass Gewalt körperlich sein kann. Nun, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Presse von der Schweinerei Wind bekommt. Außerdem hat seine Frau, Frida Montgomery heißt sie, Kontakt zu uns aufgenommen. Sie hat Angst vor ihm. Anscheinend hat er sich nicht mehr im Griff und ist außer Kontrolle geraten, ein losgehendes Geschoss. Du weißt, was das bedeutet.“
„Tragisch. Was kann ich tun?“
Wir wissen beide, dass ich weiß, dass Pierre Montgomery einer von Donalds treuesten Alliierten im System ist. Ich rufe mir Montgomery ins Gedächtnis. Ein kleingeistiger, karrieresüchtiger Streber von 160 Zentimetern, ausgestattet mit einem, wie man sagt, außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, mit hervorstehendem Bauch und psychopathischen Charakterzügen. Einer der gewissenlosesten Menschen, denen ich während meiner Jahre im Ministerium begegnet bin. Es ist wohl kaum möglich, dass ein Mensch böse geboren werden kann, aber bei Pierre Montgomery bekommt man Zweifel. Er kommt einem vor, als sei er bis tief in seine Seele hinein voller Bosheit, und mit allem, was er tut, verfolgt er zwei gleichwertige Ziele: sich selbst zu nützen und anderen zu schaden.
„Es ist extrem wichtig, dass du dich bedeckt hältst. Einen diplomatischen Skandal können wir nicht dulden. Der eigentliche Grund für deine Entsendung bleibt zwischen uns. Offiziell hast du um eine unplanmäßige Entsendung aufgrund des plötzlichen Todes deiner Freundin ersucht. Das System hat beschlossen, unter Berücksichtigung deines Status’ und der an dich gerichteten Erwartungen deinem Wunsch zu entsprechen. Das ist die ganze Geschichte, Schluss.“
„Und mein Titel?“
„Jetzt hör mal zu, Bernstein. Die Menschen, die wir in die Welt hinaus entsenden, sind jahrzehntelang an allen Ecken und Kanten getestet und für schwer genug befunden worden. Montgomery aber ist so leicht wie eine Feder. Er ist ein Fehlschuss, ein Symptom für einen gigantischen Systemfehler, der in der Theorie nicht vorkommen kann und in der Praxis nie vorkommen darf. Aber selbst die stärkste Stahllegierung kann eine unvorhersehbare Schwachstelle haben. Das Schlimmste ist, dass er uns in der Hand hat. Sollte er sich vor der Presse bloßstellen, gäbe es einen ungeheuren Skandal. Und genau damit hat er gedroht, falls wir ihn feuern würden. Sonst, das kann ich dir versichern, säße er schon längst hinter irgendeinem Schreibtisch weit weg von allem. Er hat sich bereiterklärt, sich für mindestens drei Monate von der Botschaft fern zu halten, aber es werden wohl eher sechs werden. Er geht in eine Entziehungsklinik für Alkoholiker auf der Insel Santorin, und dann rückst du nach und übernimmst in der Zwischenzeit den Posten. Wir lassen verlautbaren, dass er erkrankt ist, irgendetwas Nebensächliches, ich denke da an Schleudertrauma nach einem Verkehrsunfall oder vielleicht Stress, solche Diagnosen sind zur Zeit modern. Das wird die Supermänner im Auswärtigen Dienst etwas menschlich erscheinen lassen. Wir können ihm auch eine Krankheit andichten, die zur Invalidität führt, Parkinson oder ähnliches, und das als Entschuldigung benutzen, ihn frühzeitig in Pension zu schicken, wenn er seine Finger nicht von der Flasche lässt. Sag was, Carl!“
Ich bin sprachlos. Hier sitze ich einem Mann gegenüber, der selbst noch nicht Botschafter ist, und bekomme das Angebot, einen Botschafter zu vertreten. Das ergibt keinen Sinn und kommt in diesem System nicht vor. Entweder braut sich da etwas zusammen, oder ich habe quasi in der Lotterie gewonnen. Ich spüre ein warmes Gefühl in der Brust, das sich in meinem Körper ausbreitet und in mein Gesicht hochsteigt, als ich begreife, dass seine Worte gleichzeitig bedeuten, dass das System mir soeben genehmigt, durch das Nadelöhr zu treten.
„Ach ja, und im übrigen ist Griechenland ja Konkursmasse, aber das ist nicht deine Sorge. Du sollst nicht deren wirtschaftliche Probleme lösen, bloß Dänemarks Interessen bestmöglich wahrnehmen. Das schaffst du locker, Bernstein. Wenn du dich zusammenreißt, natürlich.“
Mir gelingt es nicht zu antworten, bevor er seinen Redestrom fortsetzt:
„Warum ergreife ich nicht selbst die Chance?“ Er bringt eines seiner seltenen Lächeln zustande. „Glaub es oder nicht, ich bin zum Botschafter in Rom ernannt worden und werde in drei Wochen abreisen.“
„Glückwunsch“, bekomme ich hervorgestammelt. Das hatte ich nicht kommen sehen, und dann Rom, eine gefragte Botschaft. Er hat seine Kontakte in Ordnung, das muss man ihm lassen.
„Du drängst ja auch danach, wieder in die Welt hinaus zu kommen. Du hast dir ja wohl schon ausgerechnet, dass es deiner weiteren Karriere förderlich sein wird, wenn du die Aufgabe perfekt löst. Machst du aber Fehler, wird dich der Rückschlag wieder bis an den Start zurückwerfen.“
„Das einzige ist ...“
„Ja, Bernstein?“
„Ich mache mir Sorgen um die Zwillinge.“
„Haben die keinen Vater?“
„Sie haben nur sporadisch Kontakt zu ihm. Sie brauchen mich.“
„Tatsache ist, dass sie einen Vater haben, und dass ich ein außergewöhnliches Angebot für dich habe.“
„Ich muss zuerst mit ihnen sprechen. Ohne ihr Einverständnis reise ich nicht ab.“
„Ich habe Leute, die würden für diese Chance einen Mord begehen, und du weißt, von wem ich spreche.“
Ich weiß ganz genau, wer da mit im Spiel ist. RP, der führende Arschkriecher meiner Generation und deswegen ein richtiges Arschloch. MS, der nach eigener Aussage einen IQ von 180 hat, dabei aber ein nachplappernder Angsthase der schlimmsten Sorte ist. KR, der sich selbst herausstreicht, indem er auf die Fehltritte anderer verweist, die er der Leitung des Ministeriums zuspielt, die wiederum ihn nicht loswerden kann, weil er der Bruder eines einflussreichen Politikers ist. Es wäre eine Katastrophe, würde ich von einem von denen überholt werden, und Donald weiß das. Trotzdem sagt er:
„Du kannst es dir bis heute Abend 10 Uhr überlegen. Wenn du dabei bist, ist die Abreise spätestens Sonntagmorgen, also in drei Tagen. Jede Stunde zählt.“
Er stellt sich ans Fenster, als würde er sich etwas unten auf der Straße anschauen. Dann dreht er sich um und sieht mich an.
„Du bekommst da unten noch eine ergänzende Aufgabe.“ Er zögert. „Sei dir darüber im klaren, dass dies weit über deine Sicherheitsstufe hinausgeht, aber ich bin von höchster Stelle autorisiert, dich zu informieren. Es floriert hartnäckig die Theorie, dass die hinter den Bombardierungen in Kopenhagen und andernorts in Europa stehenden Spinner in Wirklichkeit zu einer der Öffentlichkeit nicht bekannten Terrorzelle gehören, die ihren Sitz in Griechenland hat. Vielleicht weißt du, dass die wichtigste ethnische Minderheit im nördlichen Griechenland Muslime sind. Es lebt auch eine große Zahl muslimischer Einwanderer im Land. Es wir deine Aufgabe sein, in aller Diskretion natürlich, den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den dänischen Geheimdiensten und den griechischen zu koordinieren. Auf diese Weise bekommst du auch die Chance, deinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir diese Teufel erwischen, die deine Freundin getötet haben. Ich gehe nicht davon aus, dass du etwas dagegen hast.“
Ich bin mir völlig bewusst, dass das Gespräch mit Donald mich hypnotisiert hat, trotzdem kann ich die Fesseln der Hypnose nicht zerbrechen. Ich kann Blut riechen, eine einzigartige Möglichkeit, meine schlimmsten Konkurrenten auf Distanz zu halten. Der Job in Athen wird meine Karriere im günstigsten Fall um vier Jahre beschleunigen. Ich habe es verdient. Ich kann es kaum erwarten, dass meine verschmähten Kollegen, durch ungeschriebene Regeln gezwungen, mit demütigen Glückwünschen angekrochen kommen. Donald und ich wissen, dass es mir unmöglich ist, zu diesem Angebot Nein zu sagen. Ich kann mir selbst vormachen, dass ich es überdenken und mit dem einen oder anderen darüber reden muss, aber das ändert nichts daran. Ungeachtet der Konsequenzen für mich selbst und andere gibt es nach allen meinen Jahren im Ministerium nur eine Antwort. Kann man mich dann als Mensch bezeichnen? Oder bin ich vielmehr ein ferngesteuerter, gefühlskalter und äußerst diplomatischer Beamtenroboter?
Auch Albert und Robert kennen die Antwort im voraus. Wir vereinbaren, dass sie mich für einige Wochen im Juli in Athen besuchen kommen sollen. Zuerst aber kommen die Abiturpartys und anschließend Badeurlaub auf einer griechischen Insel.
„Wenn sich herausstellt, dass ihr allein nicht zurechtkommt, oder es aus anderen Gründen nicht geht, komme ich sofort nach Hause.“
„Oder wir kommen runter zu dir“, murmelt Robert. Sein Fuß berührt den meinen unter dem Tisch.
„Ja, genau.“
„Selbstverständlich musst du abreisen“, sagt Albert mit klarer Stimme.
Ich habe das Bedürfnis zu hören, dass es so in Ordnung ist, damit ich mir ihr Einverständnis später ins Gedächtnis zurückrufen kann. Ich weiß, es ist falsch, sie zu verlassen, aber wenn ich weg und allein bin, haben die beiden zumindest sich.
Nachdem sie zu Bett gegangen sind, setze ich mich ins Wohnzimmer in dem Bewusstsein, dass ich nicht schlafen können werde. Als ich für einen Moment die Augen schließe, sehe ich Kassandra am Wasser entlang auf mich zukommen, sie ist in Begleitung eines Mannes. Es ist Alexandros mit seinem neuen, kurz geschnittenen schwarzen Bart, der das Gesicht größtenteils verdeckt.
Mir fällt der Nachmittag ein, an dem wir von dem Besuch bei der Wohngemeinschaft in Mittelseeland nach Hause kommen. Ich mache mich auf die Suche nach Paul Weis, dem Mann, wegen dem Alexandros nach Dänemark gekommen war. In den Adressenregistern im Internet ist er nicht zu finden, dagegen aber eine Person, die sich als sein Enkel herausstellt. Ich rufe an und erkläre die Situation. Der junge Mann sagt, es sei nicht mehr möglich, mit Paul Weis in Kontakt zu kommen. Er sei wenige Tage zuvor gestorben. Der Enkel war auf seiner Beerdigung und ist faktisch gerade erst wieder zur Tür herein. Abgesehen von diesem sonderbaren Zusammentreffen der Ereignisse setze ich meine Suche im Netz fort und stoße auf ein Interview mit Paul Weis, der berichtet, wie an einem Tag im Frühjahr 1965 ein göttliches Wesen zu ihm gesprochen hatte:
Es geschah am 13. März 1965 um 3.15 Uhr, als ich von der Nachtschicht nach Hause kam. Ich fuhr damals Taxi. Wie gewöhnlich setzte ich mich ins Wohnzimmer, um vor dem Schlafengehen noch eine zu rauchen. Plötzlich hörte ich eine männliche Stimme sagen: ‚Mach die Zigarette aus, ich will mit dir reden.’ Ich sah mich im Zimmer um, aber da war niemand zu sehen. Ich bin nicht so leicht zu schockieren, also dachte ich nicht weiter darüber nach, sondern rauchte ruhig weiter. Da wiederholte die Stimme ihre Aufforderung, wiederum nahm ich einen ordentlichen Zug aus der Zigarette, gleichsam demonstrativ dem Unbekannten gegenüber, der mir sagen wollte, was ich in meinen eigenen vier Wänden zu tun oder zu lassen hätte. Da gingen alle Lichter in der Wohnung aus, und ich sah einen Lichtschein, und aus diesem ertönte die göttliche Stimme.
In den darauf folgenden Stunden entspann sich ein Dialog zwischen Paul Weis und der Stimme. Einige Tage später kam er mit einer Gruppe Menschen in Kontakt, die sich für Okkultismus interessierten. Während ihrer ersten Sitzung begann die Stimme durch Paul Weis zu sprechen. Dies setzte sich in den folgenden Jahren fort. Alle Botschaften wurden auf Band aufgenommen, niedergeschrieben und in dem Buch ‚Stimmen des Himmels’ zusammengefasst. In den dänischen Bibliotheken aber kennt man dieses Werk nicht.
Ich lausche den widerhallenden Stimmen zwischen den schrägen Dachfenstern und den Betonplattformen mit Kiosken, Automaten und mit Gepäck behängten Menschen und schweren, ruhigen Metallwesen, grüne, silberfarbene, schwarze und rote, die sich in die eine oder andere Richtung bewegen. Ich beobachte eine Taube, die in niedriger Höhe vorbeiflattert und einen Landeplatz findet, von dem aus sie in sicherem Abstand dem schrillen Streit der Möwen um die Reste von etwas Essbarem zusieht. Die Frage ist, ob sie es schaffen, zu Ende zu fressen und sich rechtzeitig von dem massiven Körper des Zuges zu entfernen, der in diesem Moment auf der Grenze zwischen dem Lichtermeer draußen und dem Zwielicht des Bahnhofs in Sicht kommt. Ich vergesse die Vögel und spähe hinter den getönten Fenstern, die vorbeigleiten, nach Alexandros. Auf dem Bahnsteig herrscht lebhafte Aktivität. Menschen mit Rollkoffern, Rucksäcken und Laptop-Taschen stehen bereit, während sie mit ihren Handys telefonieren, Kaffee aus Pappbechern trinken, küssen. Dann öffnen sich die Türen, und die Reisenden strömen heraus. In der Menschenmenge ist Alexandros an seiner Ringerfigur zu erkennen, er streckt die Hand aus.
„Paul Weis ist tot“, sage ich, als wir auf der Rolltreppe stehen.
Im Gesicht des Griechen ist keine Reaktion zu sehen. Wir bewegen uns durch das Gewimmel des Hauptbahnhofs und treten hinaus ins Sonnenlicht. Etwas ist mit der Sonne geschehen. Sie ist wärmer und schärfer geworden, und ich blinzele gegen die brennende Goldkugel und denke, dass genau jetzt der Frühling beginnt.
„Ich kam, und Mr. Weis ging“, sagt Alexandros tonlos, als wir im Auto sitzen. „Sein Tod ändert nichts an den Realitäten. Er arbeitet von der anderen Seite aus weiter, und jetzt stehe ich an der Spitze der Aktivitäten hier auf der Erde.“
Alexandros sitzt unruhig auf dem Sitz und dreht sich um und starrt den Radfahrern und Fußgängern hinterher, an denen wir vorbeifahren. Er kommt meiner Frage zuvor:
„Ich kommuniziere mit ihren Seelen. Es fing im Zug an. Meine Seele fragt ihre Seelen, ob sie mit auf die Reise gehen werden, wenn die Raumschiffe kommen. Ist die Antwort ‚Ja’, übertrage ich meinen energetischen Abdruck, er ist der Zugangscode zu Ashtars Flotte und damit zu der neuen Welt.“
„Ich gehe davon aus, dass wir auch eingeladen werden, an Bord zu kommen?“ sage ich und versuche, nicht allzu nachsichtig zu lächeln.
„Natürlich. Stell dich darauf ein, dass du und Kassandra zu den Führern in der neuen Welt gehören. Sonst wäre ich mit euch nicht in Kontakt. Später wirst du alles verstehen, mein Freund“, fügt er hinzu und tätschelt mir beruhigend den Arm. „Die Bewegung, von der ich ein Teil bin, vereint Tausende von Menschen in vielen Ländern, junge, alte, Handwerker, Ingenieure, Ärzte, Priester, Studenten, Hausfrauen. Sie alle haben ‚Stimmen des Himmels’ gelesen, sie sitzen vor den Computerbildschirmen bereit und warten auf Nachricht von mir. Ich mache die ersten entscheidenden Schritte, und sie folgen mir auf meinen Spuren, wenn die Zeit gekommen ist. Und das wird bald der Fall sein. Stunde um Stunde werde ich von mehr Kraft erfüllt. In den letzten Wochen ist meine Intuition in einem Maß geschärft worden, dass ich die Antworten auf jegliche Fragen schon wahrnehme, bevor sie in meinem Bewusstsein zu Ende formuliert sind.“
Alexandros wird in Alberts Zimmer untergebracht. Die Zwillinge begrüßen den Griechen kurz und gehen zu einigen Freunden. Momentan sehen wir sie nicht so häufig. Ich koche Tee für Alexandros, aber er vergisst, ihn zu trinken, weil er die ganze Zeit redet:
„Die Zerstörung beginnt in höchstens sechs Tagen“, sagt er. „Denn dann sind es vierzig Tage her, dass ich meine Reise begonnen habe. Ihr wisst ja noch, dass Jesus nach vierzig Tagen in der Wüste in den Himmel aufgefahren ist. Bevor er wegging, sagte er zu seinen Jüngern: ‚Ich werde euch nicht vaterlos zurücklassen; ich komme zu euch. Die Welt sieht mich nicht mehr, aber ihr seht mich, denn ich lebe, und auch ihr werdet leben’. Und dann ging er hinaus in die Wüste, um allein zu sein, zu Gott zu beten und darüber nachzudenken, wie er den Menschen helfen könnte, an Gott zu glauben.“
„Betrachtest du uns als deine Jünger?“ fragt Kassandra.
„Carl ist einer der Jünger. Du stehst mir noch näher. Mehr kann ich nicht sagen. Es ist zu früh. Sobald ich aus eigener Kraft fliegen kann, werde ich alles wissen, und dann werde ich alles erzählen. Ich warte auf ein Zeichen, aber es gibt schon viele andere Zeichen. Städte und Landgebiete werden aufgrund steigender Wasserstände überschwemmt werden. Mutter Erde wird uns etliche große Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis bescheren. Waldbrände werden enorme Gebiete veröden lassen. Tausende von Menschen werden in Kriegen getötet werden; Millionen werden sterben, durch Hunger, verunreinigtes Trinkwasser und unheilbare Krankheiten, ausgelöst durch mutierte Bakterien, die in Labors für chemische Kriegsführung oder von der Natur selbst geschaffen wurden. Der Zerfallsprozess ist in vollem Gang und nimmt Tag für Tag an Intensität und Schnelligkeit zu.“
In dem Moment flimmert das Sonnenlicht durch die Fensterscheibe, und Alexandros deutet auf das sinnreiche System der Schatten, die sich über die Wand bewegen.
„Dieser überirdische Bescheid bekräftigt, dass alles so sein wird, wie ich sage. Meine Kraft wächst fortdauernd, und es dauert nur noch kurze Zeit, bis ich meine Arme ausbreiten und fliegen kann, wohin ich im Universum will. Freut euch, denn auch ihr werdet das können, wenn ich nach dem Aufenthalt im Raumschiff zurückkehre. Zu der Zeit dann wird das Magnetfeld der Erde schneller schwingen als jetzt, und wir werden uns in einer anderen Dimension befinden, wo alle Menschen in jeglicher Hinsicht frei sind. Das ist das Reich der Freiheit, das Gott denen versprochen hat, die ihn lieben.“
Alexandros verbringt die Tage damit, durch Kopenhagen zu streifen und seinen energetischen Abdruck zu verteilen. Er verbringt auch Stunden mit Meditation in der ‚Kirche Unserer Lieben Frau’. Und eines Abends erzählt er uns von den Vorgängen, die seiner Abreise nach Dänemark vorausgegangen waren.
„Vor drei Monaten fahre ich in einem nagelneuen Auto durch Athen. Aber nicht ich lenke den Wagen, ich kann nicht fahren. Ich bin krank, ich sterbe fast. Ich habe meine eigene Baufirma und schufte mich ab mit einer Prachtvilla am Meer in Lemos im Süden der Stadt. Sie ist aus Marmor und hat vier Garagen, die Einfahrt hat einen Belag aus Granitschotter, es gibt einen 25 Meter-Swimmingpool und einen Garten mit Wegen und Blumenbeeten, umgeben von Golfplatz-Rasen.
Alexandros macht einen tiefen Atemzug.
„Den ganzen Tag schon hat es mir vor Augen geflimmert, aber ich tue es als gewöhnliche Überanstrengung und Müdigkeit ab. Trotzdem rufe ich nach der Arbeit meine Cousine an, die in der Nähe wohnt und eine anerkannte Heilpraktikerin ist. Jetzt bin ich es, dem sie hilft. Sie sitzt hinter dem Steuer, als die Schmerzen mich wie ein Pistolenschuss in die Stirn treffen. In diesem Moment verwandelt sich die Welt draußen vor den Fenstern des Autos in einen vibrierenden Nebel, und Menschen, Gebäude und Fahrzeuge gleiten gallertartig durcheinander. Es tut weh, wenn ich Luft hole, und ich habe ein Gefühl, als könnte ich mich auf dem Sitz nicht rühren. Ich rufe meiner Cousine zu, sie solle sich beeilen, und ich habe Angst und fühle, dass ich sterben werde. Das werde ich auch. Das muss man, wenn das Gehirn von jemandem hundert Mal größer ist als der Schädel. Meine Schmerzen werden stärker und stärker, und im ganzen Körper breitet sich Panik aus, und ich beginne, am Sicherheitsgurt zu reißen und zu zerren. Ich schnappe nach Luft, ich bin dabei zu ersticken. Jetzt werde ich aus dem Auto gezogen, schon befinde ich mich in einem Aufzug und dann in einem Bett. Der Schweiß strömt mir am Körper herunter. Ich schlage den Kopf gegen das Kopfteil des Bettgestells, es bricht, und weiter in die Betonwand und ich falle auf dem Bett um. Im selben Moment verschwinden die Schmerzen.“
Alexandros wischt sich mit dem Handrücken Tränen von seiner Wange.
„Ich kann sehen, wie meine Cousine dasteht und mit der geballten Faust auf meine Brust hämmert und dabei ruft, ich solle atmen, aber dafür gibt es keinen Grund, denn ich schwebe durch den Raum und fühle mich dabei unglaublich gut. Ich kann wirklich fliegen, es ist wunderbar, Nirwana. Sie gibt mir künstliche Beatmung und drückt auf meine Brust, aber das wirkt nicht, denn ich soll nicht zurück zu den Schmerzen. Ich fliege unter der Zimmerdecke umher, tauche hinunter zum Fußboden, schwinge mich vor die Tür, wieder hinauf zur Decke und weiter die Wände entlang. Es fühlt sich ein wenig wie Schwimmen an, es geht nur schneller und macht viel, viel mehr Spaß. Ein paar Meter über dem Bett bleibe ich in der Luft hängen und schaue auf mein eigenes friedvolles Gesicht herab. Meine Cousine sitzt auf der Bettkante und schluchzt. Jetzt dreht sie sich um und legt die Handflächen auf mein Gesicht. Die Worte strömen nur so aus ihrem Mund und hüllen mich in Segnungen und Gebete. Es ist ihre Aufgabe, mich zum Leben zu erwecken, das muss und will sie, und das tut sie auch, denn kurz darauf bin ich zurück in meinem schmerzenden Körper im Bett.“
Alexandros massiert auf der Stirn einen Punkt über einem Auge, dann fährt er fort:
„Dann öffnet sich Gottes Auge vor mir, und als ich in dieses hinein fliege und weiter durch das Licht, beginne ich in rasender Fahrt Visionen zu haben, wie das Universum aufgebaut ist. Mein Gehirn ist brennendheiß, und meine Trommelfelle knistern wie eine überlastete Computer-Festplatte. Plötzlich fühle ich einen schneidenden Schmerz, der gleichzeitig in meinen Handflächen und meinen Füßen entsteht. Ich sehe, wie meine Cousine telefoniert, und bald schon liege ich im Krankenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Das Morphium zeigt keine Wirkung, und die Schmerzen in Kopf, Händen und Füßen werden immer schlimmer. Drei Tage und Nächte lang wäscht sie mir die Stirn mit kalten Lappen und betet für mich. Drei Tage lang sehe ich die ganze Zeit alles auf einmal. Ich befinde mich auf der Grenze zwischen verschiedenen Dimensionen und lebe in diesen allen, ohne an einem der Orte vollständig zugegen zu sein. Allmählich aber beginnen die Schmerzen zurückzugehen, und ich falle in einen tiefen Schlaf.“
Alexandros leert seinen Teebecher.
„Als ich aufwache, sagt meine Cousine, dass ich Jesus bin, der auf die Erde zurückgekehrt ist. Zuerst werde ich wütend auf sie und schimpfe sie aus, aber dann erzählt sie, dass ich die ganze Zeit über in einer Sprache gesprochen habe, die an Aramäisch erinnert, die Muttersprache Jesu. Später überkommen mich Zweifel, und ich bitte sie, den Mund zu halten. So einer wie ich, der in einem kleinen Flecken im nördlichen Griechenland geboren wurde, kann unmöglich Jesus sein.“
„Aber dann findest du Paul Weis’ Buch?“ sage ich.
Alexandros nickt.
„Ein großer Teil des Buches ist eine Wiedergabe der Informationen, die ich selbst im Grenzland zwischen Leben und Tod erfahren habe. Ich befinde mich im Auto auf dem Weg nach Hause, als ich endlich begreife, dass meine Cousine Recht hat. Ich beginne am ganzen Körper zu zittern, fahre an die Seite und bleibe stehen, und während ich da so sitze und versuche, zur Ruhe zu kommen, kommen die Erinnerungen. Ich will mein Leben zurückhaben. Ich will Häuser bauen und Geld verdienen, mich volllaufen lassen, mit allen möglichen Frauen schlafen, mich mit Idioten herumschlagen, alle und jeden und mich selbst auch belügen, was das Zeug hält, und der raue Typ sein, der ich immer gewesen war, den ich kenne und dem ich vertraue. Zugleich aber weiß ich, dass es keinen Weg zurück gibt. Ich lasse die Gedanken kommen und gehen und bemerke, dass mein Gehirn langsam das Leben akzeptiert, das ich bisher geführt habe. Nach meinen Jahren beim Militär bin ich durch die ganze Welt gereist und habe überall gearbeitet. Als Bodyguard in Dubai, als Bauarbeiter in Italien, als Tellerwäscher in Frankreich. Ich nahm die Jobs an, wie sie mir über den Weg kamen, während ich nach meinem Platz in der Welt suchte – dort, wo ich mich zurechtfinden und eine Familie gründen könnte. Ich bin nahe dran, als ich vor einigen Jahren mit meiner Freundin in Dubai lebe. Wir arbeiten und sparen Geld zusammen, damit wir nach Australien reisen und uns dort niederlassen können. Aber sie verlässt mich und geht mit einem anderen Typen in die USA. Lieber wollte sie mit viel Geld nichts sein, als ohne Geld alles. Und dann gehe ich zurück nach Griechenland und fange an, Häuser zu bauen. Ich kurbele die Fensterscheibe des Wagens herunter und registriere den Luftzug von den vorbeifahrenden Autos. In diesem Moment lasse ich meine Vergangenheit los und schaffe Platz dafür, dass die Energie aus dem Universum frei in meinen Organismus fließen kann. So empfinde ich es, und jetzt kann ich auch weiterfahren. Als ich nach Hause komme, gebe ich alles Materielle auf und beginne zu fasten und zu meditieren.“
Der Schrei rollt über die Felder und trifft mein Gesicht wie ein plötzlicher Windstoß, der einen Gestank nach verfaultem Fleisch mitbringt. Ich weiß, dass der Schrei vom Wald her kommt, wo er sich in einer Kehle gebildet hat. Er hat sich mit einer Geschwindigkeit von 340 Metern in der Sekunde über die Erdoberfläche im Dunkel zwischen den Bäumen bewegt und ist aus dem Waldrand hervorgeschossen wie eine Kanonenkugel. Jetzt zerre ich ihn vom Gesicht und halte ihn vor mir hoch. Schwellende Würmer winden sich durch die frisch ausgefressenen Löcher des bluttriefenden Schädels. Jetzt reißt sich der Schrei los und beginnt, um meinen Kopf herumzusausen, immer schneller geht es, und tiefer und tiefer dringt er in mein Bewusstsein. Bis ich die Augen öffne und mich im Bett aufsetze. Die Zwillinge halten sich umfasst, sie haben von einem Schrei geträumt, der nicht enden wollte. Er kam von Kassandra, sagen sie.