Читать книгу Babel - Jan de Leeuw - Страница 10
ОглавлениеWer ist Abraham Babel?
Woher kam Abraham Babel? Die offizielle Biografie erwähnte eine wenig auffällige Jugend in einem der Stadtviertel, in dem hauptsächlich Beamte und kleine Selbstständige wohnten. Als einziger Sohn von Rebecca und Ezra Babel trug Abraham Babel sämtliche elterlichen Erwartungen auf seinen zarten Schultern. Er hatte sich angestrengt in der Schule, musste dann aber aufgrund einer schleppenden Krankheit, die ihn von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr ans Bett gefesselt hielt, auf weiteren Unterricht leider verzichten. Diese drei Jahre der erzwungenen Ruhe hatten seine Gier nach dem Leben verschärft, und als er endlich genesen war, beschloss er, keine weitere Zeit auf der Schule zu vergeuden. Er ging arbeiten, zunächst als Verkäufer in einem Geschäft, das hauptsächlich Radios und später die erste Generation von Fernsehgeräten verkaufte. Von seinem ersten Geld kaufte er sich nicht – wie die anderen jungen Männer seiner Umgebung – einen imposanten Buick, sondern Aktien einer großen Elektronikfirma. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern beschloss er, das elterliche Haus zu vermieten, und landete so fast zufällig im Immobiliensektor, dem er später einen Großteil seines Vermögens zu verdanken haben sollte. Mit dreißig besaß er nicht nur drei Mietshäuser, sondern auch ein interessantes Aktienportefeuille. Nicht schlecht für jemanden, der mit so wenig angefangen hatte. Ein anderer Mann hätte ruhig den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt, aber Babel verkaufte seine Häuser und nahm einen großen Kredit auf, um damit ein paar verfallene Gebäude in Hafennähe aufzukaufen. Irgendwann einmal war von einer Hafenerweiterung die Rede gewesen, aber die meisten Spekulanten, die für zu viel Geld die alten Fabriken und bodenverseuchten Grundstücke in der Hoffnung aufgekauft hatten, sich an dem Projekt zu bereichern, waren nach zwanzig Jahren das Warten leid und verkauften ihr wertloses Eigentum nur zu gern an Babel. Er selbst, so ließ er verlauten, habe vor, dort ein Wohnviertel zu errichten. Alle wünschten ihm viel Erfolg. Niemand glaubte an die Zukunft eines Viertels, das mitten im kriminellen Herzen dieser Stadt lag, aber niemand fühlte sich verpflichtet, diese Zweifel mit dem naiven Babel zu teilen. Noch bevor die Vorbereitungen für das Wohnviertel starteten, beschloss ein neuer Bürgermeister, die alten, schon eingestaubten Pläne für die Hafenerweiterung wieder hervorzuholen. Kurzfristig würde das eine Stange Geld kosten, aber langfristig käme es der Stadt eindeutig zugute.
Die Spekulanten beeilten sich, ihre Vereinbarungen mit Babel aufzukündigen, aber die Verträge waren unterzeichnet, und nach all den Jahren fruchtlosen Wartens mussten sie zusehen, wie ein anderer ihre Gewinne einstrich. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, aber zu spät. Mit einem Schlag war Babel nicht mehr der armselige Besitzer einiger Häuser in den Außenvierteln, sondern ein wichtiger Player auf dem Immobilienmarkt. Wie Babel es einmal in einem Interview beschrieb: Er fühlte sich für sein soziales Engagement belohnt. Aus dem Wohnviertel würde zwar nichts mehr werden, aber es gebe andere Orte und andere Projekte, an denen er seine Menschenliebe ausleben könne. Die Tatsache, dass er mit einem Schlag zum Millionär geworden sei, habe nichts mit pfiffigen Entscheidungen oder Glück zu tun, nein, der Finger Gottes habe ihm gezeigt, welche Richtung er mit seinem Leben einschlagen sollte, und er, Babel, werde die Talente, die er besaß, nicht einfach begraben.
So weit die offiziellen Biografien. Die übrigens reißenden Absatz fanden. Wer wollte schließlich nicht von einem Burschen lesen, der durch harte Arbeit und kluge Investitionen zu einem der großen Akteure dieser Stadt aufgestiegen war? Babel war der fleischgewordene kapitalistische Traum. Und die Verlockung des Traums war simpel: Wenn er es fertiggebracht hatte, dann konnten sie es auch. Dass er sein Glück in religiöse Begrifflichkeiten übersetzte, damit konnten sie leben. Auch sie hielten ja irgendwo einen Gott in der Hinterhand.
Manche Journalisten hatten ihre Mühe mit dieser geradezu filmischen Biografie und machten sich daran, in der Vergangenheit des erfolgreichen Mannes zu graben. Sie fanden keine soliden Eltern in einem der ärmeren Viertel dieser Stadt, sondern das Grab einer gewissen Rebecca Babel, einer Waschfrau und unverheirateten Mutter eines Sohnes, den sie noch vor ihrer Flucht aus Polen auf den Namen Abraham hatte taufen lassen. Schulzeugnisse des guten Schülers Abraham Babel blieben unauffindbar; stattdessen stieß man auf das Strafregister eines Gleichnamigen, der von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wegen Hehlerei im Gefängnis gesessen hatte.
Es war verführerisch, in diesem kriminellen Abraham den erfolgreichen Immobilienhändler auszumachen, aber letztendlich gab es zu wenig harte Beweise, die eine unumstößliche Identifizierung ermöglicht hätten. Klarer wurde die Rolle des neuen Bürgermeisters bei der Hafenerweiterung. Nach jahrelangen Untersuchungen stellte sich heraus, dass er einer von Babels Geldgebern gewesen war, als dieser die wertlosen Häuser aufgekauft hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät und Babel bereits zu mächtig.
Das soziale Engagement, das er angekündigt hatte, nahm recht eigenwillige Formen an. Er kaufte tatsächlich Straßenzüge in fast nicht mehr bewohnbaren Vierteln auf, in die sich weder das Gesetz noch vornehme Bürger hineinwagten, aber anstelle von besseren Häusern kamen Bulldozer, Industrieparks, Überwachungskameras und Zwangsräumungen. Der kapitalistische Traum war eindeutig nicht jedem beschieden. Mit dreißig Jahren heiratete er Anna Glück, die Tochter eines Industriellen, der genau wie Babel ein Selfmademan war. Es wurde eine Märchenhochzeit, komplett mitsamt der bösen Fee in Form der Schwester der Braut. Myriam Glück, so wurde geflüstert, war offenbar Babels erste Wahl gewesen. Bis er dahinterkam, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Woraufhin er sein amouröses Augenmerk mühelos auf die jüngere Schwester verlagert hatte.
Es war eine Entscheidung gewesen, die Früchte abwarf. Ein Jahr später wurde Joseph Babel geboren. Dieses ganze finanzielle und häusliche Glück hatte seine Auswirkungen auf Abraham Babel. Der Herr hatte ihm so viel geschenkt. Wie konnte er seine Zukunft absichern? Wie konnte er den Herrn so weit bringen, dass Dieser ihm das Glück nicht wieder nahm?
Er beschloss, den Herrn mit Opfern zufriedenzustellen. Es hatte bei Abel funktioniert, warum also nicht auch bei Babel? Großzügige Schenkungen aller Art fanden ihren Weg in religiöse sowie wohltätige Einrichtungen. Gute Aussichten für Abraham Babel also nicht nur in diesem, sondern auch für das nächste Leben.
Fast mühelos wurde er reicher und mächtiger.
Zum ersten Missklang in dem schönen Lied kam es, als der Sohnemann einen eigenen Willen an den Tag legte und nicht in die Fußspuren seines Vaters treten wollte. Der junge Bursche interessierte sich für die Wissenschaft. Was an und für sich nicht schlimm war, solange er dabei den wichtigsten Daseinsgrund, nämlich die Anhäufung von Geld, nicht aus dem Auge verlor. Joseph Babel sprach jedoch vom Promovieren. Von Ausgrabungen. Von einer wissenschaftlichen Laufbahn.
Abraham Babel ergriff sofort Maßnahmen und drehte ihm den Geldhahn zu. Dem Jungen musste klarwerden, dass die Zeit des Spiels vorbei war. Entweder er fügte sich den Wünschen seines Vaters, oder er würde keinen Cent des von Babel angehäuften immensen Vermögens mehr zu Gesicht bekommen.
Das Unglaubliche geschah. Joseph Babel – oder Joe, wie er sich selbst mittlerweile nannte – brauchte kein Vermögen. Ebenso wenig brauchte er die Bräute, die seine Mutter für ihn aussuchte. Er hatte eine Frau kennengelernt, die seine Leidenschaft für Archäologie teilte und sich ebenso wenig wie er vom Geld blenden ließ.
Abraham Babel regte sich nicht weiter auf. Niemand verschmäht ein Leben voll ungeahntem Luxus, um irgendwo im staubigen Afrika alte Gebeine auszugraben. Er gab seinem Sohn sechs Monate Zeit, um nachzudenken und das Rebellische abzulegen. Derweil war Joe mit seiner frisch gebackenen Braut nach Afrika gezogen, wo er fünfzehn Jahre lang bleiben sollte.
In all den Jahren hatte es keinen Kontakt zwischen Vater und Sohn gegeben. Sofern es Kontakte zwischen Mutter und Sohn gab, geschah dies ohne Abrahams Mitwissen. Joe Babel bekam eine Tochter, aber auch diese freudige Nachricht vermochte die Mauer des Schweigens zwischen beiden Männern nicht einzureißen.
Es war der Herzattacke des Vaters zu verdanken, dass sie sich am Krankenbett einer Abteilung wiedertrafen, die Abraham Babel dem Krankenhaus als Schenkung vermacht hatte.
Der Anblick des Todes tut wundersame Dinge mit einem Mann. Morphium tut noch wundersamere Dinge. Babel verstand gar nicht mehr, warum er diesem fremden, sonnengebräunten Mann, der jetzt mit Tränen in den Augen an seinem Bett stand, so lange böse gewesen war. Er hatte die Hand seines Sohnes schon ergriffen und eine Art von Vergebung gemurmelt, bevor ihm wieder einfiel, dass er keinen Ungehorsam duldete. Aber da war es schon zu spät gewesen. Da hatte seine Frau sich ihrem verlorenen Sohn bereits um den Hals geschlungen. Danach hatten sie alle seine Frau kennengelernt, und fataler als alles Vorangegangene: Dann hatten sie die Perle gesehen, die am Fußende des Bettes stand und alles mit großen Augen in sich aufnahm, ihr ureigenes Enkelkind, die mysteriöse Alice, zu intelligent für ihr Alter, zu fremdartig für ihre Herkunft mit ihren blonden Haaren und blauen Augen und einem Mund wie einer Wüstenrose. Abraham und seine Frau verliebten sich auf der Stelle in sie. Von Abtretung und Abschied konnte keine Rede mehr sein. Nach all den Jahren würden sie ihrem Sohn endlich das geben, was ihm zustand. Ach, natürlich konnte er wieder nach Afrika, wenn er das wirklich wollte. Aber war er es seiner Frau und Tochter nicht schuldig, ihnen das Allerbeste zu geben? Joseph und seine Familie konnten im Babel Tower wohnen. Sie bekamen ein ganzes Stockwerk für sich allein. Sie würden doch noch etwas bleiben? Konnte der Sohn dem Vater, der gerade dem Tod ins Auge geblickt hatte, diesen Wunsch versagen? Doch gewiss nicht.
Die jungen Babels ließen sich überreden.
An dem Tag, als Abraham Babel aus dem Krankenhaus entlassen wurde, saßen sie alle zusammen in der riesigen Limousine, die sie zum Babel Tower, jenem Wunder des einundzwanzigsten Jahrhunderts, bringen würde. Endlich, dachte Babel, während er sich an sein schmerzendes Herz fasste, waren sie wieder komplett. War er wieder komplett. Er konnte einfach nicht genug bekommen von den lachenden Gesichtern, den glänzenden Augen seiner Nachkommen. Er trank die Männlichkeit seines Sohnes und die Schönheit seiner Enkelin. Er saugte ihr Leben in sich auf. Sie waren im idealen Augenblick gekommen. Seine Kräfte waren beinahe versiegt, aber sie gaben ihm neue Vitalität. Für seinen Sohn, für Alice würde er den Himmel erobern. Er hatte noch so viele Pläne.
Sie waren keine drei Straßen mehr vom Turm entfernt – die Limousine brummte ungeduldig im Stau –, als die junge Frau auf sie zukam und Joe trotz des Protests seines Vaters das Fenster herunterließ.
Anna sah die Bombe an ihrem Körper als Erste und schrie.
Babel warf sich über Alice.
Joe verstand noch immer nicht, was Sache war, als die Explosion die Limousine in Stücke zerriss. Kurz darauf fielen die Körperteile aus dem Himmel.
Joe war tot. Seine Frau war tot. Anna war tot. Alice blieb gelähmt, nachdem sie aus dem Auto geschleudert worden und mit einem Knall auf dem Beton gelandet war. Und Babel, der Mann, der schon sein ganzes Leben lang den Finger Gottes auf sich hatte lasten fühlen, kam mit einigen blauen Flecken und einem zweiten Herzanfall davon.
Seine Strafe war es, das Attentat überleben und begreifen zu müssen, was er verloren hatte.
Er zog sich zurück in seinen Turm, legte sich eine kleine Privatarmee zu und verließ kaum mehr seine gesicherte Festung. Der Einsiedler des Turms von Babel war geboren.
Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani