Читать книгу Babel - Jan de Leeuw - Страница 7

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Naomi starrte auf den Turm auf der anderen Straßenseite, der sie erwartete. Vielleicht war es ein Scherz, aber die Baumeister hatten die Fassade des Turms so entworfen, dass sie dem riesigen Kopf eines mythologischen Tieres glich. Die grün getönten Fenster im ersten Stock ergaben die Augen des Monsters, und die vergoldete Drehtür auf Straßenebene war das Maul, in dem die eine Beute nach der anderen verschwand. Manchmal spie das Monster eine verschmähte Beute wieder aus, die dann verstört hinaus ins Freie gewankt kam.

Sie durfte nicht länger zögern. Das Gebäude beobachtete sie. Wie ein Taucher, der sich zum Sprung bereitmacht, atmete sie tief ein, huschte zwischen Autos und Taxis hindurch und zwang sich hinein in das Maul.

Drinnen war alles gigantisch. Die Eingangshalle, gepflastert mit weißem Marmor, war größer als ein Fußballfeld. Eine Reihe identischer Frauen in identischen weißen Blusen mit identischen Mini-Headsets und Augen, die im Licht ihrer Laptops glänzten, gönnte ihr einen gelangweilten Blick, als sie zum Schalter ging. Gewohnt, die Berühmten und Mächtigen der Erde an ihrem Desk vorbeiflanieren zu sehen, zeigten sie sich von einem Mädchen mit einem billigen kleinen Koffer in der Hand nicht beeindruckt. Herrenloser Müll.

Naomi holte einen dünnen Papierstapel aus dem Koffer und legte ihn auf den Schalter. Eine der Frauen warf einen Blick auf die Dokumente.

«Personalangelegenheiten werden zwei Blocks weiter behandelt. Hast du das nicht gewusst?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Du kannst froh sein, dass ich heute so gut drauf bin.»

Die Frau tippte mehrere Nummern ein.

«Keine Ahnung. Knapp fünfzehn, vermute ich», redete sie in ihr Headset. «Das Übliche. Waisenhauspapiere. Nein, sauber ist sie.»

Die Frau schob die Papiere zurück.

«Warte hier. Jemand kommt dich holen.»

Zehn Minuten später kam eine andere Frau auf Naomi zu. Alles an ihr war streng und gestrafft, angefangen vom weißen Hosenanzug, der ihren mageren Leib umschloss, bis hin zu ihrer Gesichtshaut – was ihren Augen etwas Orientalisches verlieh. Ihr Mund war ein giftiger roter Strich. «Papiere.» Sie spie das Wort förmlich aus.

Naomi überreichte ihr das Bündel.

Die Frau schaute von den Papieren zu Naomi und zurück.

«Komm mit», sagte sie und verschwand durch eine Tür hinter dem Schalter.

Naomi folgte ihr in einen dämmrigen Flur. Eine zweite Tür führte zu einer Treppe. In dem kahlen Neonlicht stiegen sie hinab. Es folgten weitere Flure und Treppen, tiefer und tiefer, weiter weg von dem Sonnenlicht und dem Leben, bis sie zuletzt in den Kellern des Turms ein fensterloses Büro betraten.

«Setzen!», sagte die Frau und glitt hinter ihren Schreibtisch. Das Zimmer sah genauso streng und beherrscht wie sie selbst aus.

«Woher kommst du?»

«Aus dem Waisenhaus.»

«Hat man dir da keine Manieren beigebracht? Man antwortet niemals ohne Anrede.»

«Ja, Frau … »

«Mein Name ist Prynne. Merk dir das. Was waren deine Eltern?»

«Meine Eltern sind tot, Frau Prynne.»

«Das ist mir klar, Kind, sonst kämst du nicht aus dem Waisenhaus. Ich will wissen, was sie waren, als sie noch lebten.»

«Mein Vater hat bei der Metro gearbeitet. Meine Mutter war Hausfrau.»

«Geschwister?»

Naomi zögerte etwas.

«Weißt du es nicht sicher?»

«Ich hatte eine kleine Schwester», sagte Naomi. «Aber sie ist auch tot.»

«Großeltern?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Ich hoffe, du gehst etwas weniger leichtsinnig mit deinem Leben um als der Rest deiner Familie. Immer wieder neues Personal abzurichten passt mir nicht.»

Sie besah die Papiere. «Du liebe Güte, derartige Banalitäten kann man sich nicht ausdenken. Ein Spüllappen hat ein spannenderes Leben.» Sie hob den Kopf. «Zum Glück für dich hat diese Alltäglichkeit jetzt ein Ende. Ab heute arbeitest du für einen ganz besonderen Arbeitgeber.»

«Sie, Frau Prynne?», fragte Naomi.

Einen Moment lang schien sich der rote Strich zu einem Lächeln verziehen zu wollen, aber Prynnes Augen blieben kalt.

«Ich spreche von Abraham Babel, Kind! Dem Finanzgenie, das diese Stadt vor dem Untergang gerettet hat, dem Mann, der dem erschöpften Kapital neues Leben eingehaucht und ganz allein die bereits in ihren Grundfesten erschütterten Banken gestützt hat.» Sie nagelte Naomi mit ihrem Blick fest. «Gestern warst du ein Niemand. Heute erhältst du Zutritt zu dem exklusivsten Ort des Landes. Ist dir eigentlich klar, welche Ehre das ist? Wenn du hart arbeitest, kannst du es weit bringen. Nicht sofort natürlich. Man steigt nicht mühelos die Leiter hinauf, und nicht jeder schafft es, denn viele sind berufen … Aber wenn du nicht aufgibst, hast du eine Chance. Ich hoffe, du bist dankbar für das, was das Schicksal dir zugedacht hat.»

Naomi nickte.

«Hier gilt lediglich eine Regel: Man macht keine Fehler. Niemals. Ich toleriere keine Entschuldigungen, verstanden? Es stehen genug Mädchen bereit, deinen Platz einzunehmen. Du bekommst zwei Nachmittage im Monat frei. Ansonsten ist es dir zu keinem Zeitpunkt gestattet, das Gebäude ohne Erlaubnis zu verlassen. Manche deiner Kolleginnen dachten, sie bräuchten sich um diese Regel nicht zu scheren. Sie haben falsch gedacht. Du erhältst keinen Besuch. Solange du unter mir arbeitest, sind Handys oder Laptops verboten. Freundschaften kannst du besser drangeben, solange du hier tätig bist.»

«Ich habe keine Freunde, Frau Prynne.»

«Sehr gut», sagte diese und schaute auf ihre Armbanduhr. «Dann bring ich dich jetzt zur Garderobe.»

Naomi folgte ihr abermals durch ein Gewirr von Fluren.

Die Garderobe erwies sich als riesige Lagerhalle, vollgestopft mit Kleiderregalen.

«Frau Hu!», rief Frau Prynne. «Haben Sie einen Moment für uns?»

Eine kleine Frau mit hervorstehenden Augen hinter dicken Brillengläsern tauchte zwischen den Regalen auf.

«Ein Neuzugang, Frau Prynne?»

«Eine Sub. Medium, schätze ich. Sie braucht die gesamte Ausstattung: Schuhe, Socken, Unterwäsche und natürlich Hosen und Hemden.»

Frau Hu griff nach dem Bandmaß, das sie um den Hals trug, und schlang es um Naomis Taille.

«Einatmen. Ja, so. Jetzt ausatmen. Sehr gut.»

Sie nahm Maß an Naomis Brust und Schultern und kniete sich anschließend hin, um Naomis Beine zu messen.

«Perfekte Figur. Sie könnte direkt auf den Laufsteg.»

Frau Prynne schnaubte.

«Dafür ist sie zu dick.»

«Zu dick?»

«Schauen Sie sich die Brüste an. So etwas sieht man auf keinem Catwalk.»

Frau Hu verschwand in der Dunkelheit der Regale.

«In diesem Gebäude herrscht eine strikte Ordnung», sagte Frau Prynne. «Du gehorchst Arbeitnehmern mit einem höheren Rang. In deinem Fall sind das alle.»

Frau Hu kam mit einem ganzen Kleiderstapel zurück. Alles war dunkelgrau, bis auf die weiße Unterwäsche. Frau Prynne nahm ein Shirt vom Stapel.

«Siehst du das hier?»

Auf dem Shirt war oben links die Abbildung eines schwarzen Turms zu sehen. Unter dem Turm waren mit rotem Garn die Buchstaben «Sub» in das graue Material gestickt.

«Das ist dein Rang. Du bist eine Sub. Direkt über dir sind die F5-er. Die putzen die Gemeinschaftsräume der unteren dreißig Etagen. Über ihnen stehen die F4-er. Was sind die noch mal, Hu? Die Fahrer?»

«Die Laufburschen, glaube ich.»

«Egal. F3 steht über F4, E5 über F1 und so weiter. Je höher der Rang, desto besser ausgebildet, desto mehr Erfahrung beziehungsweise Verantwortung.»

Sie knöpfte ihre Jacke auf.

«Ich selbst bin C1, und Frau Hu» – sie zeigte auf das dunkelgrüne Shirt von Frau Hu – «ist eine E2.»

«Wer sind die A-s?», fragte Naomi.

«Die Kleine ist ehrgeizig», sagte Frau Hu.

«Unwissend, wollten Sie sagen. Die A-s arbeiten oben im Turm, in den Räumlichkeiten von Abraham Babel oder besser in denen seiner Enkelin. Mach dir keine Sorgen, mit ihnen wirst du nichts zu tun haben.» Frau Prynne fischte einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche. «Das hier ist der Schlüssel zu deinem Spind. Da hinein legst du deine restliche Kleidung. Frau Hu zeigt dir, wo es ist und wohin du mit deiner schmutzigen Wäsche musst. Keine Ahnung, was du aus dem Heim gewohnt bist, aber hier erscheinst du jeden Tag in frischen Sachen.»

Naomi nickte.

«Ab heute fängt dein neues Leben an. Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber falls du dir Mühe gibst, sind deine Nöte vorbei. Hier bei Babel kümmern wir uns um alles. Du bekommst eine Gratis-Zahnversorgung und einen zweimonatigen Gesundheitscheck bei den besten Ärzten. Kost, Logis und Kleidung hast du frei, und dein Lohn wird am ersten Tag des Monats auf dein Konto überwiesen.»

«Ich habe kein Konto, Frau Prynne», sagte Naomi.

«Dann bekommst du das Geld in einem Umschlag, bis du eins eröffnet hast. Wichtig ist, dir darüber klar zu sein, dass du in eine neue Familie aufgenommen bist, die für dich sorgt und die darauf achten wird, dass dir nichts zustößt. Im Tausch für diese Fürsorge erwartet Babel Loyalität.»

«Loyalität?»

«Treue, wenn du das Wort besser verstehst! Babel kommt an allererster Stelle. Er kommt vor deiner Mutter, vor deinem Gott und vor deinen Träumen. Wenn Babel etwas von dir will, dann gibst du ihm das. Verlangt er von dir zu springen, dann springst du, selbst wenn es vom Dach des Turms wäre. Und mit Babel meine ich nicht nur den Mann ganz oben an der Spitze. Wir alle sind Babel.» Sie zeigte auf den roten Buchstaben auf ihrer Bluse. «Ich bin Babel. Frau Hu ist Babel. Mach uns glücklich und du machst Abraham Babel glücklich. Aber wenn du uns unglücklich machst …»

«Machen Sie der Kleinen keine Angst», sagte Frau Hu.

«Sie soll wissen, woran sie hier ist. Sie ist kein Model auf einem Catwalk, sondern eine Putzhilfe.»

Sie wandte sich wieder zu Naomi.

«Du arbeitest schnell. Du stellst keine Fragen. Du schaust niemandem in die Augen. Du redest nicht. Du atmest nicht. Du bist unsichtbar, verstanden?»

«Ja, Frau Prynne.»

«Enttäusche mich nicht. Nicht wie deine Vorgängerin.»

Naomi verkniff sich die Frage, was mit ihr geschehen war.

Frau Hu zeigte ihr die Duschen und die Spinde. Naomis Spindnummer war 1014.

«Arbeiten hier mehr als tausend Leute?»

«Kind! Hier arbeiten Tau-sen-de von Menschen! Natürlich übernachtet das Personal aus den Büros und Geschäften nicht im Turm. Diese Ehre ist nur Babels direkten Arbeitnehmern vorbehalten.»

Und sie musste diese Ehre mit jeder Menge anderer Menschen teilen, begriff Naomi, als sie ihren Schlafplatz sah. Dutzende von Betten waren in Reihen in einem großen unterirdischen Saal aufgestellt.

«Schlafe ich hier?»

«Du schläfst hinten, bei den anderen Subs», sagte Frau Hu. Sie gingen durch den Schlafsaal. Hier und da lagen Mädchen und Frauen auf ihren Betten. Manche schliefen oder lasen, andere schienen zu beten, starrten die Decke oder auch Naomi und Frau Hu an. Am Ende des Raums, abgesondert von den übrigen, standen zwölf Betten. Auf zwei davon lagen Mädchen. Frau Hu nickte ihnen zu, und beide nickten kurz zurück. Vor dem letzten Bett an der Wand blieben sie stehen.

«1014», sagte Frau Hu. «Hier schlief deine Vorgängerin.»

In einer Schublade unter ihrem Bett konnte Naomi ihren Koffer verstauen. Sie legte die Kleidung, die sie auf Anraten von Frau Hu mit hierher genommen hatte, auf das Bett.

«Sonst musst du wieder den ganzen Weg zu den Spinden zurückgehen, um dich umzuziehen», sagte Frau Hu. «Hier hast du auch etwas mehr Privatsphäre.»

Sie deutete auf einen Vorhang, der um das Bett gezogen werden konnte.

«Frau Prynne kommt gleich, um dir deine ersten Aufgaben zu erläutern. Besser, du bist dann schon in Uniform.»

Naomi nickte.

«Neue Menschen, neue Regeln und neue Kleider. So ein erster Tag ist immer schwierig, aber das gibt sich. Am Anfang hast du vielleicht noch etwas Heimweh nach Hause …»

«Ich habe kein Zuhause», sagte Naomi.

Frau Hu sagte nicht «sehr gut». Sie lächelte betrübt und ließ Naomi hinten im Saal zurück.

Kaum war Frau Hu fort, da wurde Naomi schon von dem Mädchen im Bett neben ihr angesprochen.

«Du musst die Neue sein! Ich bin Lisbeth.»

Mit ihren kurzen braunen Haaren wirkte sie zunächst wie sechzehn, aber der Blick in ihren kleinen Augen war älter. Wenn sie sprach, sah man eine Reihe kleiner, scharfer Zähne.

«Das ging schnell. Issa ist noch keine Woche verschwunden, und schon hat man sie wieder ersetzt.»

«Verschwunden?»

«Ui, habe ich das gesagt?»

Sie schaute zu dem Mädchen in dem anderen Bett, das sich schulterzuckend umdrehte und tat, als ob das Gespräch sie nicht interessierte.

«Achte nicht auf Deborah. Sie ist müde.»

«Müde von deinem Gelaber», maulte das Mädchen.

«Kann ich dir helfen?», fragte Lisbeth und hob Naomis Koffer vom Bett. «Du hast nicht viel mitgebracht von zu Hause. Ach ja, stimmt auch, du kommst sicher aus dem Heim wie deine Vorgängerin. Das tut mir so furchtbar leid für dich.»

«Nicht nötig», sagte Naomi. Sie nahm Lisbeth den Koffer aus der Hand und verstaute ihn in der Schublade unter dem Bett.

«Ich darf gar nicht daran denken», sagte Lisbeth. «Natürlich hoffst du manchmal heimlich, deine Eltern wären nicht deine wirklichen Eltern, sondern eines Tages würde ein schickes Auto in deiner Straße halten, aus dem deine richtige Mutter gerannt kommt, um dich mitzunehmen in dein neues Leben. Sie war früher arm, aber jetzt ist sie reich und mächtig und bereut es, dass sie dich jemals weggegeben hat. Und du weißt endlich, wer deine Eltern sind.»

«Ich kenne meine Eltern», sagte Naomi.

«Ach», sagte Lisbeth. «Und wie bist du dann im Waisenhaus gelandet?»

«Sie sind tot», sagte Naomi.

«Lisbeth», rief das Mädchen in dem anderen Bett, «halt endlich den Schnabel!»

Lisbeth redete auch dann noch weiter, als Naomi den Vorhang zuzog und in ihre neue Kleidung schlüpfte. Sie erzählte, wie sie spekuliert habe, wer wohl die Neue sei, aber dass sie nie so jemand Hübsches erwartet hätte. Fand Deborah nicht auch, dass die Neue hübsch sei? Natürlich sei Schönheit nicht immer ein Vorteil, erst recht nicht hier, in den Abgründen von Babel. Denn wenn die Männer einen einmal im Visier hätten … Tiere seien sie, die immer nur an das Eine dachten. Selbst sie, Lisbeth, habe Mühe, sie sich vom Leib zu halten, und sie sei ein anständiges Mädchen, das ihre Ware nicht so sehr feilbot, falls Naomi verstand, was sie meinte.

Naomi kam hinter dem Vorhang hervor. Ihre Brüste passten perfekt in das graue Shirt. Der erste Anblick machte, dass Lisbeth ihr Lächeln entglitt.

Ja, zu hübsch zu sein sei gefährlich. Die Mädchen seien nicht mehr an einer Hand abzuzählen, die, von ihrer Schönheit verraten, die Aufmerksamkeit eines der C-s oder B-s erregt und geglaubt hätten, auf diese Weise würden sie rasch befördert. Damit gewännen sie aber keinen Respekt. Sie würden benutzt und weggeworfen wie ein billiger Putzlappen. Das werde ihr nicht passieren. Sie riet Naomi, diesen Weg nicht einzuschlagen. Denn eine Frau, die gewarnt sei …

Lisbeths Redefluss endete erst, als die Tür am anderen Ende des Saals aufging und Frau Prynne eintrat. Lisbeth war nicht die Einzige, die verstummte. Die meisten Frauen zogen rasch ein Bettlaken glatt, wischten sich die Krümel vom Shirt oder ordneten ihr Haar, als Prynne durch den Saal schritt. Bei Naomi, die neben dem Bett bereitstand, blieb sie stehen. «Ich habe mir den Stundenplan angeschaut», sagte sie, «und halte es für das Beste, wenn du vorläufig die Aufgaben deiner Vorgängerin übernimmst.»

Sie zählte die Aufgaben auf. Naomi war zusammen mit einem Teil der anderen Subs für die Sauberkeit in den Schlafsälen, den Duschen und Toiletten sowie den Freizeiträumen und Dienstaufzügen zuständig. Gearbeitet wurde im Turnus. «Deine Kolleginnen werden dir erklären, wie das funktioniert.»

«Ich helfe ihr gern», sagte Lisbeth.

«Warum wundert mich das jetzt nicht?», sagte Frau Prynne. «Einen Tag in der Woche arbeitest du in der Wäscherei. Wie ich schon sagte, hast du zwei Nachmittage im Monat frei. Es wäre praktisch, wenn du mir möglichst schnell die gewünschten Tage durchgibst. Wann willst du nach draußen?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Ich brauche keine freien Tage.»

Lisbeth fiel der Unterkiefer herab. Selbst Deborah drehte sich um.

«Überleg dir, was du sagst», antwortete Frau Prynne.

Lisbeth packte Naomi am Arm.

«Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wenn du die Tage nicht nimmst, dann …»

Sie warf einen kurzen Blick zu Frau Prynne.

«Natürlich ist es eine Riesen-Ehre, hier zu arbeiten, aber manchmal muss man mal raus, und wäre es nur, um frische Luft zu schnappen oder seine Freunde zu sehen.»

«Das ist nicht nötig», sagte Naomi.

«Wenn du deine freien Tage hergibst, sitzt du ununterbrochen in den Kellern, ohne jemals die Sonne zu sehen.»

«Ich brauche keine Sonne.»

«Du nimmst deine freien Tage, genau wie alle anderen», sagte Frau Prynne. «Ich will nicht, dass jemand behauptet, wir würden unser Personal ausbeuten. Wenn du keine Nachmittage wählst, Naomi, dann wähle ich sie für dich.»

«Vielen Dank», sagte Naomi.

«Komm mit, dann zeige ich dir, wo das Material liegt und wie du mit den Putzmaschinen umgehen musst.»

An diesem Nachmittag putzte sie zusammen mit Lisbeth und Maria und Rosario, zwei weiteren Subs, die zwölf Dienstaufzüge. Im Gegensatz zu den Fahrstühlen, die die Besucher und die Bewohner benutzten, fuhren diese Aufzüge bis in die Keller des Turms hinab. Sie mussten sich beeilen, denn jeder Lift stand nur zehn Minuten still.

«Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir plötzlich nach oben rauschen», sagte Lisbeth, als sie sah, dass Naomi, den Lappen in der Hand, bei einer Tastatur zögerte. «Alles wird von der Überwachung kontrolliert. Es ist egal, worauf wir drücken. Die Dinger fahren erst wieder, wenn die da oben es wollen.» Sie zeigte auf eine Kamera in der Ecke des Aufzugs. «Glaubst du mir nicht? In welches Stockwerk würdest du wollen?»

«Keine Ahnung.»

«Nein? Immer, wenn ich die Aufzüge putze, frage ich mich, wo ich wohl herauskommen würde, falls ich zufällig doch nach oben fahren würde. Ob ich wohl in einer Botschaft oder im Palast von einem dieser Ölscheichs lande? Oder vielleicht im Stadtmuseum?»

«Ein Museum? Hier im Turm?»

«Das hier ist nicht einfach irgendein Gebäude, Naomi! Es ist eine vertikale Stadt. Eine, aus der jeglicher Unrat ferngehalten wird. Hier findest du keine Besoffenen, die dich belästigen oder bespucken. Hier gibt es keine Staus oder Streitigkeiten oder offenen Geschwüre, sondern nur hübsche Menschen. Alle riechen hier nach Parfüm und Aftershave und Geld.» Lisbeth seufzte. «Am liebsten würde ich in den dreihundertfünfundfünfzigsten wollen.»

«Was gibt es da zu sehen?»

«Das City View Restaurant! Das höchste Restaurant der Welt. Es hat eine unvergessliche Aussicht, heißt es.»

«Du bist noch nie dagewesen?»

«Bei unserem Lohn?»

Lisbeth tippte drei Zahlen ein.

«Hier hat nicht jedes Stockwerk eine eigene Taste. Dreihundertdreißig Tasten, das wäre wohl etwas zu viel des Guten.»

Auf dem Bildschirm neben der Tastatur erschien in großen, grünen Ziffern 325, doch der Aufzug blieb brav stehen.

«Höher kann man nicht.»

«Ich dachte, es gäbe dreihundertdreißig Stockwerke?»

«Ja, aber dieser Aufzug geht nur bis zum dreihundertfünfundzwanzigsten. Wenn du noch höher willst, musst du in einen anderen Fahrstuhl umsteigen, der bis zu Babel hinaufführt, bis in den Himmel sozusagen. Aber in den steigt man nicht einfach so. Das geht nur mit Genehmigung.»

«Wenn man eine A ist?»

«Genau.»

«Babel wohnt im höchsten Stockwerk?»

«Ja, das weiß doch jeder.»

«Und wer wohnt in den vier Stockwerken darunter?»

«Seine Enkelin hat ihre eigenen Räumlichkeiten direkt unter seinen.»

«Und der Rest? Wer wohnt da?»

«Niemand.»

«Bekommen sie die Apartments nicht vermietet?»

«Bist du verrückt? Für die Apartments in Babel gibt es eine Warteliste von anderthalb Jahren. Du hast keine Ahnung, was die Leute dafür übrighaben, hier zu wohnen.»

«Warum steht dann so viel leer?», fragte Naomi.

«Herr Babel hat gern etwas Platz zwischen sich und den übrigen Bewohnern des Turms. Es ist eine Frage der Sicherheit. – Reine Wichtigtuerei, wenn du mich fragst», flüsterte Lisbeth. «Um zu zeigen, wie reich er ist.»

«Als ob jemand das bezweifeln würde», sagte Naomi.

«Du müsstest mal seine Räume sehen», sagte Lisbeth. «Überall Gold und Marmorbrunnen und Möbel, die aus alten Palästen zusammengeraubt sind, und die Flure vollgestopft mit teurer Kunst.»

«Hast du das selbst gesehen?»

«Pah!», kam es aus dem anderen Aufzug. «Lisbeth in Babels Räumlichkeiten? Glaub bloß nicht alles, was sie dir sagt, Neue. Sie redet einfach irgendwas daher. Nicht ein Sub kommt jemals da hinauf.»

«Ach wirklich, Rosario?», rief Lisbeth zurück. «Und was ist mit Betty?» Sie wandte sich zu Naomi. «Betty ist eine Freundin von mir. Sie ist eine A.»

«Wenn Betty wirklich eine A wäre, wie sie behauptet, warum isst sie dann noch unten im Speisesaal?», rief Rosario.

«Weil sie noch in der Probezeit ist.»

«Probezeit? Weißt du, was ich von deiner Probezeit und deiner Freundin denke?»

Durch den Aufzug ging ein Ruck. Die Mädchen verstummten.

«Die Überwachung wird ungeduldig», sagte Lisbeth. «Wir sollten uns beeilen.»

Als sie mit den Aufzügen fertig waren, nahm Lisbeth Naomi mit zum Speisesaal. Naomi zögerte an der Tür, aber Lisbeth zog sie weiter.

«Es sieht kompliziert aus, aber ich zeige dir, wie es geht.»

Wie viele Menschen saßen hier an den niedrigen Tischen? Tausende? Die Stimmen, das Geschirr und scharrende Stühle machten einen solchen Lärm, dass Lisbeth Naomi anschreien musste.

«Hast du besondere Essgewohnheiten?»

«Was?», rief Naomi.

«Gibt es Dinge, die du nicht essen magst oder darfst? Die Reihe da ist halal und dort in der anderen Ecke ist es koscher. Vernünftig, die beiden nicht zu nahe beieinander zu platzieren. Vegetarier und Veganer können links ihr Essen finden, und wenn du Laktose-, Gluten- oder Zuckerfreies suchst, musst du in die Allergiker-Ecke. Bist du gegen irgendwas allergisch?»

«Nein.»

«Keine religiösen Essenseinschränkungen?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Perfekt. Dann können wir uns bei der leckeren Reihe anstellen.»

Alle Kontinente waren hier vertreten und sämtliche Hautschattierungen, von Honiggelb bis hin zu einem so tiefen Schwarz, dass das Licht sich darin spiegelte. Naomi sah Reihen glänzender Zähne, Berge von eingeöltem Haar, Wälder von Henna und Meere von Schleiern. An Halsketten baumelten Kruzifixe, Sicheln, Sterne, goldene Hände, steinerne Augen, Haifischzähne und astrologische Symbole. Tätowierungen schlängelten sich in Nacken und verschwanden unter Ärmeln. Sie schritt durch eine Wolke blumig duftender Französinnen und zwängte sich an Deutschen mit kräftigen Masseurarmen vorbei. Thailändische Mädchen, zerbrechlich wie Lilien, aber mit stählernen Augen, schirmten sie gegen einen von Männern besetzten Tisch ab, die ihr mit zugekniffenen Augen folgten. Mit ihren breiten Kiefern, kohlschwarzen Augen und dicken Schnurrbärten ähnelten die Männer einer Räuberbande aus dem Märchen.

Als sie an der Reihe war, wusste Naomi kaum, was sie wollte. Lisbeth bemerkte ihre Verwirrung und übernahm die Regie. Sie wählte für sie beide Suppe, Püree und Huhn.

«Den Nachtisch und den Kaffee holen wir uns später», sagte sie.

Naomi steuerte einen freien Platz an einem Tisch an, aber Lisbeth hielt sie zurück.

«Nicht zu nah bei den Männern. Es ist nicht unwichtig, wohin und zu wem du dich hier setzt. Du musst die Augen offenhalten.»

Lisbeth drehte sich um und stieß mit ihrem Tablett gegen eine hinter ihr stehende Frau. Die Suppe spritzte in alle Richtungen.

«Dumme Kuh! Gib Acht, wohin du trittst!»

Naomi spürte Hunderte von brennenden Blicken auf sich.

«Meine Bluse! Meine Schuhe!», rief die Frau.

«Entschuldige, Betty, ich hatte dich nicht gesehen.»

«Was? Was nimmst du dir da heraus?»

«Entschuldigung, Frau Tarris.»

«Ich brauche deine Entschuldigung nicht, dumme Sub! Du hättest mich verbrennen können mit dieser heißen Suppe!»

«Es tut mir leid, Frau Tarris.»

«Und was ist mit den Flecken auf meinen Schuhen?»

Lisbeth ging in die Hocke, knöpfte ihre Bluse los und tupfte damit die Schuhe ab.

«Betty, lass gut sein!», rief jemand.

Die Frau drehte sich wütend um.

«Habt ihr keine Augen im Kopf? Oder könnt ihr es durch die Flecken vielleicht nicht mehr lesen?» Sie deutete auf ihre Brust. «Das hier ist ein A. Ein A!»

Lisbeths Tränen tropften auf die Schuhe.

«Genug, Sub! Du machst alles nur noch schlimmer.»

Die Frau zog ihren Fuß weg, sodass Lisbeth das Gleichgewicht verlor und in die verschüttete Suppe fiel.

«Es kostet mich zehn Minuten, mich umzuziehen. Wenn ich dadurch in Schwierigkeiten gerate, dann werde ich es dir heimzahlen!» Sie stieg über Lisbeth hinweg und verließ den Saal.

Naomi stellte ihr Tablett auf den Boden und half Lisbeth auf.

«Setz dich. Ich bringe dir einen neuen Teller.»

«Ich habe keinen rechten Appetit», sagte Lisbeth. «Ich denke, ich lasse das Essen ausfallen.» Sie rannte aus dem Saal.

Naomi nahm ihr Tablett. Die Köpfe wandten sich wieder ihren eigenen Tellern zu, und die Ränge schlossen sich, als sie an den Tischen entlangging. Schließlich fand sie am äußeren Ende eines Tischs noch einen leeren Platz.

Zwei Mädchen, das F3 deutlich lesbar auf ihren Shirts, wischten das verkleckerte Essen fachgerecht und schnell auf.

«Was habe ich gehört, Lisbeth?», fragte Deborah abends im Schlafsaal. «Du bist heute deiner guten Freundin Betty in die Arme gelaufen?»

Die anderen Mädchen kicherten in ihr Bettzeug.

«Hat sie dir schon Bescheid gegeben, wann du nach oben darfst? Sie wollte doch ein gutes Wort für dich einlegen, als beste Freundin?», setzte Glenda in dem Bett neben Deborah noch eins drauf.

«Wie schön, dass man auch befördert werden kann, ohne gleich auf die Knie zu sinken», sagte Deborah. «Ohne sich dafür erniedrigen zu müssen.»

So ging es noch eine Weile weiter.

Lisbeth biss in ihr Kissen, bis die Mädchen allmählich genug hatten.

«Naomi?», flüsterte sie, als leises Schnarchen ihren Teil des Saals erfüllte. «Bist du wach? Was heute im Speisesaal passiert ist …»

«Ich habe es schon vergessen», sagte Naomi. «Das solltest du besser auch tun und jetzt schlafen.»

«Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir erklärt habe, wie es zwischen Betty und mir ist.»

«Ich kenne Betty nicht», sagte Naomi.

«Du kennst mich», sagte Lisbeth.

«Ja», seufzte Naomi, «ich kenne dich.»

«Du musst wissen, dass Betty eine von uns war. Keine dumme Sub wie Deborah, die stolz ist, dass sie hier die Drecksarbeit tun darf, solange sie nur draußen erzählen kann, dass sie für Babel arbeitet. Betty hatte Ehrgeiz. Sie wollte aufsteigen. Wenn man sie sah, wusste man, sie würde es schaffen. Sie war passioniert. Sie konnte selbst Frau Prynne um den Finger wickeln. Die hat sogar einmal fallenlassen, Betty könnte irgendwann einmal vielleicht ihren Platz einnehmen, wenn sie sich weiter so ins Zeug legte. Und Frau Prynne ist ein C1! Betty hatte Frau Prynne gegenüber genickt und getan, als wäre es zu viel der Ehre, aber hinter ihrem Rücken war sie wütend. Dachte diese Prynne, sie, Betty, würde sich mit einem C zufriedengeben? Sie würde es noch sehr viel weiterbringen. Betty hat sich getraut, solche Sachen zu sagen, weil wir Freundinnen waren, verstehst du? Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, als sie ganz neu war. Wir waren ein Team. Ich habe manchmal ihre Arbeit gemacht, damit sie versuchen konnte, eine obere Arbeit zu bekommen.»

«Eine obere Arbeit?»

«Eine Arbeit über der Erde. Ihrer Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, befördert zu werden. Sie würde sich nicht in den Kellern von Babel begraben, bis sie alt und hässlich war, also verbarg sie ihr Sub-Shirt unter einer Jacke und nahm die Touristenaufzüge. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorstellte, von jemandem bemerkt zu werden, aber ich wusste auch, dass sie recht hatte und dass Putzen und Bettenmachen nicht die beste Art war, etwas zu erreichen. In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es noch keinen Schritt weiter geschafft. Betty war meine Chance, höher hinaus zu kommen.»

«Ihr ist es gelungen. Sie ist jetzt eine A.»

«Ja, sie ist eine A. Sie selbst hätte nie anzunehmen gewagt, dass es so schnell gehen würde.»

«Ist sie irgendwem aufgefallen?»

«Nicht einfach irgendwem!»

«Babel etwa?»

«Babel?»

Lisbeth kicherte.

«Was soll ein Mann wie Herr Babel mit einer wie Betty? Er kann durchaus etwas Besseres kriegen. Übrigens, Herr Babel trauert noch um seine Frau. Und er ist alt.»

«Alte Männer haben auch Augen im Kopf.»

«Herr Babel würde nie etwas mit seinem Personal anfangen.»

«Du kennst ihn gut.»

«In diesem Gebäude geschieht nichts, was die Subs nicht wissen. Falls jemals etwas Derartiges passiert wäre, dann hätte ich es gehört.»

«Wem ist Betty denn aufgefallen?», fragte Naomi.

«Lichtenstern natürlich.»

«Wer ist das?»

«Was? Du hast noch nie von Lichtenstern gehört?»

Dass sie von Lichtenstern erzählen konnte, ließ Lisbeth die Demütigung des Nachmittags vergessen. Es war klar, dass sie viele Nächte dagelegen und an Lichtenstern gedacht hatte. Er war Babels Vertrauter, obwohl er noch nicht so lange in dessen Diensten stand. Das an sich war schon ein Wunder, wenn man wusste, wie misstrauisch der alte Mann war. Aber Lichtenstern hatte ihn verzaubert. Wo Babel ging und stand, sah man Lichtenstern. Sie nannten ihn Babels Schatten. Oder auch «den Vampir».

«Warum?»

«Warte, bis du ihn irgendwann einmal siehst. Dann wirst du es verstehen.»

«Ich brauche ihn nicht zu sehen», sagte Naomi.

«Auch nicht, wenn er aus dir vom einen auf den anderen Tag eine A machen kann? Glaube mir, seit Betty das hinbekommen hat, erliegen ihm die Frauen noch schneller.»

«Dass er aussieht wie ein Vampir, schreckt sie nicht ab?»

«Er sieht nicht aus wie ein Vampir. Er hat keine scharfen Eckzähne oder so, aber er ist sehr blass, und seine traurigen schwarzen Augen scheinen dich geradewegs zu durchleuchten.»

«Das klingt nicht so schlimm.»

«Lass dich durch sein Äußeres nicht irreführen. Er ist ein berechnender und gnadenloser Mann. ‹Der mit den kalten Händen› wird er auch genannt.»

«Solange ich die nicht zu spüren brauche, bin ich zufrieden», sagte Naomi und drehte sich weg von Lisbeth.

«Du weißt nie, ob du sie nicht zu spüren bekommst», beeilte sich Lisbeth zu sagen. «Es heißt, er kommt manchmal hier herunter in die Schlafsäle. Er wartet, bis wir schlafen, und dann schleicht er sich ein. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, plötzlich seine kalten Hände auf deinem Körper zu spüren?»

«Ich versuche mir lediglich vorzustellen, wie es sich anfühlt zu schlafen», sagte Naomi.

Lisbeth schwieg.

«Na ja», sagte sie eine Weile später, «Betty ist ihm einfach im Foyer in die Arme gelaufen. Niemand weiß, was sie gesagt hat, aber vom einen auf den anderen Tag war sie eine A. Es ging so schnell, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, sich von mir zu verabschieden. Das ist jetzt zwei Monate her. Ich war nicht beunruhigt, als ich nicht sofort etwas von ihr hörte. Sie braucht Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie würde mich nicht vergessen. Nach heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Was meinst du, wie lange muss ich noch warten?»

Naomi antwortete nicht.

Am nächsten Morgen erkämpfte sich Naomi im Dampfnebel einen Weg zwischen den halbnackten Frauen hindurch zu den Spiegeln in den Waschräumen. Sie sah die verschlafenen Gesichter, die wieder mühsam in Fasson gebracht wurden; Knitterleinwände, die als Untergrund für neue Gesichter mit volleren Lippen, einer glatteren Haut und dichteren Wimpern herhalten mussten. Haare in allen möglichen Farben, Längen und Formen fanden ihren Weg in die Abflusslöcher der Duschen, aus denen Naomi sie später herauszupfen durfte, um sie anschließend noch nass und klebrig in Plastiksäcke zu werfen, in denen auch Tampon-Verpackungen, leere Tuben, Kaugummi, Zahnseide, Deo-Sticks und Wattestäbchen landeten; die Überbleibsel der täglichen Schlacht gegen die Zeit.

Auch im Speisesaal herrschte Betrieb. Die Männer waren mit dem Trimmen und Rasieren schneller fertig als die Frauen und saßen schon beim Kaffee. Manche hoben die Köpfe, als sie hereinkamen, anderen beugten sich über ihre Zeitungen, ihre Karten, ihre Gebetbücher oder ihren letzten Toast. An den Frauen, die trotz der Vorbereitungen in der Dusche den Schlendrian der Nacht noch nicht ganz von sich abgestreift hatten, schienen sie morgens weniger interessiert zu sein.

Hier und da hatten sich Pärchen abgesondert. Manche passten vom Alter und der Hautfarbe gut zusammen, aber es gab auch weniger naheliegende Kombinationen. An dem Tisch, zu dem Lisbeth Naomi lotste, saß ein Mann mit einem riesigen gelben Turban und einem noch riesigeren schwarzen Bart. Seine Nachbarin war eine zierliche Asiatin. Die beiden schienen die Sprache des jeweils anderen kaum zu verstehen, doch das war nicht nötig; das Paar orientierte sich offensichtlich am Klang der Worte. Der Mann klang brüsk. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Frau nahm die Hand, drehte sie um und zeichnete etwas mit dem Finger auf seine Handfläche. War es eine Wegbeschreibung? Sie tippte auf ihre Armbanduhr und zeigte neun Finger. Er nickte und drückte ihre Hand an seine Lippen. Die weiße Hand verschwand fast in seinem schwarzen Barthaar.

«Sie starren dich an.»

«Wer?»

«Wer?», wiederholte Lisbeth. «Die Männer im Saal, merkst du das denn nicht?»

Naomi beugte sich über ihr Frühstück. Lisbeth besaß weniger Scheu und blickte schamlos um sich.

«Diese ersten Tage sind wichtig, Naomi. Sie haben Frischfleisch gerochen. Erscheinst du jetzt zu entgegenkommend, werden sie dich fortwährend belästigen. Schau sie nicht an.»

«Das tue ich nicht», sagte Naomi, «aber du.»

«Ach, mich kennen sie, ich laufe keine Gefahr. Solange ich in deiner Nähe bin, werden sie dich in Ruhe lassen. Jedenfalls, solange du sie nicht irgendwie ermunterst.»

«Ich ermuntere niemanden», sagte Naomi, «aber manche Leute drängen sich einem auf.»

Lisbeth schien sich nicht an Naomis wortkargen Antworten zu stören. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Es gab Lieblingsthemen wie ihre Familie in der Stadt und natürlich ihre Meinung über die anderen Mädchen. Oder wie großartig es sei, für Babel zu arbeiten. Das merke sie, wenn sie an ihren freien Tagen durch die Stadt ging. Es war dem Personal verboten, in Arbeitskleidung nach draußen zu gehen, aber manchmal vergesse sie das, besonders an heißen Tagen, wenn man in seinem Dienstshirt auf einer Bank sitzen und die Reaktionen der Passanten beobachten konnte, sobald deren Auge auf den gestickten Turm fiel. Man sehe zuerst das Erstaunen, dann die Erkenntnis, dass sie es mit einer von Babels Arbeitnehmerinnen zu tun hatten. Naomi habe ja keine Ahnung, wie viele Männer sich ihr, Lisbeth, schon aufdrängen wollten, nachdem sie den magischen Turm gesehen hätten. Nicht dass sie auf diese Avancen eingegangen wäre. Sie sei doch nicht verrückt. Sie würde sich nicht an Männer verschwenden, die genug Zeit hatten, ihre Nachmittage im Park zu verbringen.

«Ich verstehe es nicht. Es ist doch nur ein Gebäude», sagte Naomi.

Lisbeth erschrak und schaute in die Luft, als könnten sie jeden Moment vom Blitz getroffen werden.

«Es ist nicht einfach nur ein Gebäude! Es ist eine Energie. Hast du das denn nicht gespürt, als du zum ersten Mal hier hereingekommen bist? Ich war so nervös, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig werden.»

Babel sei das Zentrum der Welt. Hier passiere es. Hier drängten sich die Filmstars, die Medaillengewinner und die Banker, um dazuzugehören. Hier werde über das Leben von Millionen Menschen entschieden. Jedes Wort, das ein Minister oder auch nur eine Sekretärin womöglich fallen ließ, könne das Ende einer Regierung oder das Aufblühen einer Volkswirtschaft bedeuten. Eine sich öffnende Tür, ein herumliegender Brief oder eine Begegnung in einem der Aufzüge könne die Weltkarte neu zeichnen. Lieber werde sie ihr Leben feudelnd und schrubbend in den Kellern von Babel verbringen, als irgendwo anders einen gut bezahlten Bürojob anzunehmen. Manchmal lege sie ihre Hand an die Wände, und dann fühle sie es durch das Gebäude rasen.

«Was?»

«Elektrizität. Die Fäden des Lebens, die flimmern, die singen, die nach oben fliegen und wie Schnüre in den Händen von Abraham Babel zusammenkommen.»

«Du tust so, als wäre er ein Gott.»

«Ja, aber das ist er auch.»

«Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen», sagte Naomi. «Er ist nur ein alter Mann.»

«Genau», sagte Lisbeth. «Ein alter Mann, der trotz der ganzen harten Arbeit, trotz der vielen Entscheidungen und Sitzungen und Attentate weiterlebt und weiterarbeitet. Was denkst du: Wie alt ist er?»

«Siebzig?»

«Pah! Eher hundert. Oder zweihundert. Niemand kennt sein wahres Alter. Niemand weiß, woher er kommt. Er ist ein Mysterium, ein Unsterblicher. Es ist nicht normal, dass ein Mann so viel Geld und Macht hat. Das bekommt man nicht einfach so. Er muss einen Pakt geschlossen haben mit …» Sie zeigte auf den Boden.

«Was meinst du?»

«… dem Teufel. Nein, Naomi, lach jetzt nicht. Es ist mein Ernst. Denk mal darüber nach. Wie sonst wird man so reich? Und jetzt läuft sein Vertrag bald aus. Darum ist Lichtenstern hier. Um ein Auge darauf zu haben, dass er nicht entwischt.»

«Lichtenstern ist der Teufel? Und der läuft hier herum?»

«Warte nur, bis du ihn siehst.»

«Prynne ist mir schon Teufel genug. Wir sollten besser weiterarbeiten, wenn wir nicht wollen, dass sie uns demnächst im Nacken sitzt.»

Neben dem Tratsch über Babel und die anderen Mädchen hatte Lisbeth ein unerschöpfliches Thema, und zwar, wie reich und erfolgreich sie später sein würde. Ihr jetziges Leben sei lediglich eine Probezeit. Irgendwann werde sie irgendwer aus diesem abstumpfenden Dasein pflücken. Einen Grund dafür, warum ausgerechnet sie und nicht eine der anderen Subs das verdient haben sollte, nannte sie nie. Nein, sie zweifle nicht daran, dass es so kommen werde. Sie kenne das Muster: Erst musste man wie ein modernes Aschenputtel in den Kellern arbeiten und die Demütigungen ertragen. Das Wichtigste sei, nicht in Zweifel zu verfallen, denn wenn man nicht fest genug daran glaube, dann konnte das Glück einem am Ende doch noch entwischen.

Lisbeth zweifelte nicht, das konnte sie sich nicht erlauben. Wie sollte sie ohne Hoffnung in den dunklen Tiefen überleben? Wenn man genug Entbehrungen ertragen hatte und nicht mehr tiefer sinken konnte, dann würde das Wunder geschehen. Meistens war es ein Mann, der ihr frisches kleines Gesicht unter den Rußflecken aufschimmern sähe. Manchmal war dieser Mann Lichtenstern, und dann vergaß sie einstweilen, dass sie ihn gerade noch als fleischgeworden Teufel abgestempelt hatte. Es gab Tage, an denen sie ihre Fantasien in eine praktischere Richtung dirigierte. Dann träumte sie, beim Putzen einmal ein Diamantarmband oder wichtige Papiere zu finden. Als ehrliche Finderin würde sie daraufhin nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer Stelle in einem der oberirdischen Büros belohnt. Einer Stelle, die sich zuletzt auch nur als eine Gelegenheit herausstellen würde, einen erfolgreichen Mann kennenzulernen. Darauf zu bauen, dass harte Arbeit ihr den Weg nach oben ebnen würde, hätte Verrat an ihren Träumen bedeutet. Lisbeths Haltung war «Alles oder nichts», und weil es jetzt schon fünf Jahre lang «nichts» gewesen war, bestärkte sie das nur noch in der Überzeugung, das «Alles» noch vor sich zu haben. Dass sie von Hunderten anderer Frauen umgeben war, die es auch nirgendwohin schafften, schien sie nicht zu entmutigen.

In der Zwischenzeit machten die anderen Subs ihr das Leben sauer. Deren Kommentare konnte sie ignorieren, aber die Schikanen nicht. Oft war abends ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke verschwunden. Sie wurde in den Duschen eingesperrt oder nachts unsanft geweckt, und auch Naomi als Lisbeths «Busenfreundin» wurde schon bald drangsaliert.

Es begann mit einer Haarbürste, die von ihrem Nachtschrank verschwand. Naomi fragte am nächsten Morgen, ob jemand wisse, wohin sie verschwunden sei, aber die Mädchen mimten die Ahnungslosen. Sie bekam von Frau Prynne eine neue Bürste und eine negative Beurteilung.

Seitdem packte sie ihre Sachen in ihren Spind, aber es gab andere Möglichkeiten der Schikane.

Als sie von einer Abendschicht zurückkehrten, waren ihr Bett und das von Lisbeth klatschnass. Jemand hatte einen Eimer Wasser über Bettzeug und Matratzen ausgekippt. Lisbeth versuchte zu tun, als ob nichts wäre, aber Naomi sah die Tränen in ihren Augen.

«Du!», rief Naomi Rosario zu. «Wer war das?»

Rosario saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare.

«Wovon sprichst du?», sagte sie.

Zu diesem Zeitpunkt waren noch vier andere Mädchen im Saal: Maria, Deborah, Christel und Tu. Keine von ihnen hob den Kopf. Ihre Gleichgültigkeit verriet ihre Mitwisserschaft.

«Davon», sagte Naomi. Sie fasste Rosario am Arm und schleifte sie zu dem nassen Bett.

«Bist du verrückt geworden? Lass mich los!»

Sie warf Rosario auf das Bett und setzte sich auf sie.

«Was soll das, Neue? Lass sie los!»

Die anderen Mädchen sprangen von ihren Betten.

«Noch einen Schritt näher, und ich breche ihr den Arm», sagte Naomi.

Sie verdrehte Rosario den Arm, bis diese aufschrie.

«Was fühlst du?»

«Lass mich los!»

«Was fühlst du?»

«Es ist nass.»

«Wie kommt das?»

«Ich weiß es nicht.»

«Wenn du mir sagst, wer es war, lasse ich dich los. Sonst …»

«Au! Das ist unfair! Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!»

«So einfach kommst du nicht davon. Du kannst nicht die Augen schließen und sagen, du wüsstest von nichts. Wenn du weißt, wer es war, und schweigst, dann bist du mitschuldig.»

«Es langt jetzt, Neue», sagte Deborah. «Lass sie los.» Sie kam auf Naomi zu.

«Wenn ich dir den Arm breche, Rosario, dann deshalb, weil Deborah es so will. Das verstehst du doch?»

Naomi drehte Rosarios Arm noch mehr zu ihrem Nacken hin. Rosario schrie aus Leibeskräften.

«Es war Deborah! Es war Deborah!»

Naomi ließ Rosario los und ging zu Deborahs Bett.

«Was hast du vor?»

«Na, was wohl? Ich gehe schlafen. Es war ein langer Tag.»

Naomi knotete ruhig die Ärmel ihrer Bluse auf.

«Geh von meinem Bett, bevor ein Unglück geschieht, Neue.»

«Wenn du Probleme mit meiner Bettwahl hast, kannst du das ja sofort Frau Prynne erzählen.» Naomi deutete mit einem Kopfnicken auf einen Schatten hinter Deborah.

Deborah war erstaunt, dass Frau Prynne zu dieser Zeit im Schlafsaal sein sollte, und drehte sich um.

Naomi fasste sie an den Haaren und knallte sie dreimal fest mit dem Kopf auf das Fußende des Betts. Als sie Deborah losließ, fiel diese stöhnend zu Boden. Maria und Tu rannten zu ihrer Freundin und versuchten, sie hochzuziehen.

«Du hast mir den Kiefer gebrochen, du Fotze! Ich gehe zu Prynne! Das kostet dich deinen Kopf!»

«Nur zu!», rief Naomi. «Und bitte sie auch gleich, den Reserveschlüssel zu deinem Spind mitzubringen. Ich kenne sie nicht so gut wie ihr, aber mir scheint, sie fasst einen Streit zwischen Subs nicht so schwer auf wie den Diebstahl von Babels Eigentum.»

«Du durchgeknallte Fotze!», rief Deborah.

«Schlaf gut», sagte Naomi. Sie stieg aus ihrem Rock, faltete ihn zusammen, legte ihn auf Deborahs Nachtschrank und kroch unter die Bettdecke. Deborah hielt sich den Kopf mit beiden Händen und machte sich im Saal auf die Suche nach einem trockenen Bett. Gefolgt von Lisbeth.

An ihren freien Nachmittagen saß Naomi meistens auf einer Bank in einem Park unweit des Turms. Sie kaufte Obst an einem Stand neben dem Eingang zum Park und beobachtete Frisbee-Fanatiker, Hundespaziergänger, Mütter mit klebrigen Kindern, schwänzende Schüler, Alkoholkranke und Baseballspieler. Sobald der Schatten des Turms auf ihre Bank fiel, wusste sie, dass es Zeit wurde zurückzukehren.

An einem dieser freien Tage wurde sie von Geschrei aufgeschreckt. Es kam von der anderen Seite des Parks. Über den Rasen, im Slalom zwischen ballspielenden Kindern, kam ein Jugendlicher in ihre Richtung gerannt. Er stolperte, rappelte sich wieder auf und rannte wie ein Besessener weiter.

Kurz darauf wurde klar, warum. Zwei Polizisten waren hinter ihm her. Alter und Donuts hatten ihren Tribut gefordert, aber sie gaben nicht auf, und das Meer der Parkbesucher teilte sich, als sie vorbeistolperten. Der Jugendliche rannte an Naomis Bank vorbei. Ihre Blicke kreuzten sich. Er zögerte und sprang dann in das Gebüsch hinter ihrer Bank.

Sofort darauf keuchten die Polizisten an ihr vorüber. Als sie merkten, dass sie den Jungen aus den Augen verloren hatten, blieben sie stehen. Der Ältere der beiden, rot angelaufen, die Hand auf seiner Pistolentasche, wandte sich zu ihr.

«Wohin ist er verschwunden?»

«Der Junge, der gerade hier vorbeigelaufen kam?», fragte Naomi.

«Wer sonst?»

«Er ist über die Hecke gesprungen. In diese Richtung.»

«Unmöglich. So schnell kann er nicht gewesen sein.»

Naomi zuckte mit den Schultern.

«Du musst doch gesehen haben, wohin er verschwunden ist!»

«Über die Hecke. Vielleicht können Sie ihn noch einholen, aber ich bezweifle es. Er war sehr schnell. Was hat er denn ausgefressen?»

«Das geht dich nichts an. Ich will von dir lediglich wissen, wo er ist.»

Sie stand auf. Ihre Jacke öffnete sich, und der Turm, der sich über ihre Brüste spannte, konnte dem Blick der Polizisten unmöglich entgehen.

«Du bist eine von Babel», sagte der Jüngere von ihnen. «Wie ist es denn da oben?»

«Harry!»

«Was denn? Es ist das erste Mal, dass ich eine von denen treffe. Ich bin neugierig!»

«Deswegen sind wir nicht hier.»

«Es tut mir leid», sagte Naomi, «aber er ist wirklich über die Hecke gesprungen. Weshalb sollte ich Sie anlügen?»

Die Männer tauschten einen Blick.

«Wo genau ist er denn rübergesprungen?»

Sie zeigte auf eine Senkung in der Hecke.

Der Jüngere tippte sich an die Mütze und rannte los. Der Ältere schaute sich noch einige Male um und folgte ihm dann.

Sie setzte sich wieder, nahm die Tüte mit Kirschen auf den Schoß und angelte sich seelenruhig eine heraus.

«Sind sie weg?»

«Sie sind auf die andere Straßenseite.»

«Danke.»

Sie hörte ein Rascheln. Dann saß er neben ihr.

«Naomi, nicht wahr?»

«Ja.»

«Ich bin’s, Aziz.»

«Ich weiß, wer du bist», sagte sie und hielt ihm die Tüte hin.

«Vielen Dank.» Er nahm sich eine Faust voll Kirschen.

«Dann weißt du auch, warum ich abgehauen bin.»

«Ja», sagte sie.

«Und du bist nicht angeekelt von mir?»

«Es geht mich nichts an.»

«Erst ging es ja auch nur mich etwas an. Und dann plötzlich alle.»

«Nimm die ganze Tüte», sagte Naomi. «Ich habe genug.»

«Willst du nicht aus einer Tüte mit mir essen? Angst, ich könnte dich anstecken?»

Sie musterte ihn kurz, pflückte sich eine Kirsche, die zwischen seinen Fingern baumelte, und steckte sie sich in den Mund.

«Entschuldige. Du hast mir vorhin geholfen, also müsste ich es eigentlich besser wissen. Aber auf die Dauer … Du bist immer anders gewesen als die anderen, Naomi. Still. Man konnte merken, dass du deinen eigenen Gedanken folgtest. Du bist keine Mitläuferin. Nicht wie …»

«Meine Mutter?»

«Ich habe es gehört.»

«Die ganze Welt hat es gehört.»

«Entschuldige.»

Naomi zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf ihr Shirt.

«Jetzt arbeitest du bei Babel.»

Sie zog ihre Jacke zu.

«Schon gut. Ich brauche nichts zu wissen. Ich habe andere Dinge um die Ohren.»

«Warum waren sie hinter dir her?»

Der Junge zog eine Jeanshose unter seinem Pulli hervor.

«Geklaut?»

«Ja, ich bin ein Dieb geworden. Warum nicht? Der Mensch muss leben, und Klauen ist die geringste meiner Sünden. Du bist nicht schockiert?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Lass mich raten: Es geht dich nichts an.»

Sie lächelte.

«Was für eine interessante Art, das Leben zu betrachten. Hätte ich das früher gewusst, dann hätte ich dir mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aus uns hätte ein schönes Paar werden können.»

Sie runzelte die Stirn.

«Nein? Nein, du hast recht. Es hätte nicht funktioniert. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass du nichts lieber wolltest, als den ganzen Kram hinter dir zu lassen.»

Er spuckte die Kerne vor sich aus.

«Hörst du manchmal noch etwas von ihnen?», fragte er, als die Tüte fast leer war. «Von der Familie? Meiner Mutter?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Nichts? Niemand?»

«Und du?», fragte sie.

«Ich? Für sie bin ich tot. Und wenn ich so dumm wäre, zu ihnen zurückzugehen, dann würden sie dafür sorgen, dass ich echt draufgehe.»

«Das würden sie nie tun.»

«Egal. Ich habe jetzt ein neues Leben. Ich bin frei. Werde geliebt. Ja, ich, der dumme Aziz, werde geliebt. Wer hätte das gedacht?»

«Schön für dich.»

Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange, noch bevor sie sich wegdrehen konnte.

«Kann ich irgendwas für dich tun? Gibt es etwas, das ich für dich stehlen kann?»

«Nein, vielen Dank.»

«Weißt du …»

Er riss ein Stück von der Tüte und schrieb mit Kirschsaft eine Adresse darauf.

«Hier. Falls du mich mal brauchst, oder …» Er zögerte. «Falls du irgendwas von meiner Mutter hören solltest. Man weiß ja nie. Dann gib mir Bescheid. Danke für die Kirschen.»

Er rannte davon.

Sie wartete nicht auf den Schatten des Turms, bevor sie den Park verließ.

Naomi arbeitete schon lange genug in Babel, um gleich beim Aufwachen zu wissen, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft hing. An anderen Tagen stolperten alle gleichzeitig zu den Waschräumen, aber diesmal blieben die Mädchen in ihren Betten liegen. Lisbeth, die halb betäubt aus dem Bett gekrochen war, blieb mitten im Saal stehen und blickte um sich. Warum folgten die anderen Subs nicht?

Naomi schaute zu Deborah. Die war zu still, zu achtlos.

«Maria, was tust du, wenn du deine Familie vermisst?», fragte Deborah.

«Dann frage ich Prynne, ob ich sie anrufen darf.»

«Und du, Naomi, was tust du?»

Deborah sagte nicht «Neue», sondern «Naomi.» Zu freundlich.

Naomi warf die Bettdecke von sich ab.

«Ich kann mich erinnern, wie schwer ich es hatte, als ich gerade hier anfing», sagte Deborah zu niemanden im Besonderen. «Ich vermisste meine Familie enorm. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte vergessen, wie sie aussahen. Zum Glück hatte ich Fotos von ihnen. Fotos können eine enorme Stütze sein, nicht wahr, Naomi?»

«Vielleicht», sagte Naomi.

«Natürlich hast du als Waise solche Probleme nicht. Du brauchst keine Fotos mit dir herumzuschleppen, denn sie sind ohnehin alle tot. Du bist eine der Glücklichen, hab’ ich recht, Naomi?»

«Glücklich genug, keine Zeit mit offenbar endlosen Grübeleien zu verlieren.»

Sie ging an Lisbeth vorbei, die aus Angst vor dem, was kommen würde, noch wie erstarrt im Schlafsaal stand.

«So glücklich, nicht abhängig von Fotos wie diesem zu sein», sagte Deborah.

Naomi drehte sich um. Deborah hatte ein Foto in der Hand.

«Das habe ich in deinem Koffer gefunden. Im Futter versteckt. Vermutlich von einem früheren Besitzer des Koffers. Oder bedeutet dieses Foto dir etwas, Naomi?»

Deborah hielt das Foto in die Höhe und zeigte es den anderen Mädchen. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die Haare unter einem stramm über die Stirn gebundenen Schal verborgen. Sie hatte die Armen um die Schultern von zwei Mädchen gelegt. Das jüngere Mädchen, ein Kind noch, war etwas dunkler als die Frau, aber dennoch deutlich ihre Tochter. Das andere Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt. Sie war blass, so als sähe sie selten die Sonne. Mutter und jüngere Tochter lachten. Die ältere Tochter schaute ernst. Es war unverkennbar eine junge Naomi.

«Das ist doch kein Foto von deiner Familie, Naomi? Nein? Arme Naomi. Die, ohne es zu wissen, ein Foto von einer glücklichen Familie mit sich herumschleppt. Nun, dafür habe ich eine Lösung.»

Deborah zog ein Feuerzeug hervor. «Oder hättest du das Foto gern wieder, Naomi? Dann komm und hol es dir.»

Naomi bewegte sich nicht. Es war Lisbeth, die zum Erstaunen aller auf Deborah zulief.

«Gib das Foto zurück, Deborah. Es gehört dir nicht.»

«Sieh an! Der Hund bellt.»

Die anderen Mädchen lachten.

«Pfeif sie zurück, Naomi, oder das Foto geht in Flammen auf.»

Alle schauten jetzt auf Naomi. Was würde sie tun? Ein Flämmchen flackerte über dem Feuerzeug, nah an einer Ecke des Fotos.

«Eine kleine Entschuldigung genügt, Naomi. Mehr nicht. Dann bekommst du es zurück.»

«Tu, was du nicht lassen kannst», sagte Naomi. Sie drehte sich um und ging zu den Duschen. Sie hatte den Saal noch nicht verlassen, da kroch ihr der Geruch von verbranntem Fotopapier schon in die Nase.

Sie blieb länger als sonst unter der Dusche. Sie fühlte, wie ihr die Tropfen über die Wangen rannen.

«Das zahlen wir ihr heim», sagte Lisbeth am Nachmittag, als sie die Aufzüge putzten, in sicherer Entfernung von Maria und Rosario, die mit den Aufzügen am anderen Ende des Flurs angefangen hatten.

«Lass gut sein», sagte Naomi, «sie hat mir einen Dienst erwiesen.»

Lisbeth schaute sie verwundert an.

«Ist doch egal, ob sie dir damit einen Dienst erwiesen hat. Sie wollte dir wehtun.»

«Ich kann ihr nicht immer mit Prynne drohen. Sie ist schlau genug, die Sachen, die sie uns gestohlen hat, nicht mehr in ihrem Spind aufzubewahren.»

«Ich kann mit Betty reden.»

«Mit Betty?»

Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Suppe, dass Lisbeth diesen Namen fallenließ.

«Ja, sie ist wieder unten.»

«Sie ist kein A mehr?»

«Doch. Aber sie ist krank. Da oben ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, und alle, die krank sind, werden sofort weggeschickt, damit sie den alten Mann und seine Enkelin nicht anstecken.»

«Steht Immunität vor der Grippe denn nicht in seinem Pakt mit dem Teufel?»

«Lach du nur; das kann unsere Chance sein, uns Betty zu nähern. Ihr Zimmer befindet sich in dem Stockwerk über uns. Wir können sie ganz einfach besuchen. Außer dem Arzt sieht sie nicht viele Leute. Sie hat sich nämlich nicht viele Freunde gemacht, seit sie eine A ist.»

«Wie könnte sie uns denn helfen?»

«Ein Wort von Lichtenstern zu Prynne, und Deborah wird entlassen.»

«Du würdest so weit gehen?»

«Du nicht? Auch nicht nach der Sache mit dem Foto?»

«Wird Betty sich nicht wundern, wenn wir vorbeikommen?»

«Sie wird sich über ein bekanntes Gesicht freuen.»

«Ich bin kein bekanntes Gesicht.»

«Wir sind ein Team», sagte Lisbeth und fasste Naomi am Arm. «Mitgefangen, mitgehangen.»

«Es wäre einen Versuch wert», sagte Naomi. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück. In diesem Moment schoss der Fahrstuhl nach oben.

«Merkwürdig», sagte Lisbeth. «Wir hatten noch ein paar Minuten.»

«Wenn er weg ist, brauchen wir ihn auch nicht zu putzen», sagte Naomi. «Wenn wir uns ranhalten, ist dieser Aufzug in fünf Minuten fertig, und wir können zu Betty.»

«Besser, wir bringen ihr etwas mit. Was hältst du von Weintrauben?»

«Glaubst du, Weintrauben funktionieren noch bei einer, die den Luxus von Babel gewohnt ist?»

«Was würdest du ihr mitbringen?»

«Ein paar Modemagazine?»

«Das ist eine bessere Idee. Ich freue mich, dass du jetzt hier arbeitest, Naomi. Ich habe das Gefühl, dass wir mehr als Freundinnen sind. Es ist, als wäre unser Schicksal miteinander verbunden, empfindest du das auch so? Wir werden große Dinge erleben, wenn wir zusammenbleiben.»

In diesem Augenblick kam der Fahrstuhl wieder nach unten. Die Mädchen erschraken, als ein Mann ausstieg. Er trug einen grauen Anzug. Auf seinem blütenweißen Hemd war kein Buchstabe oder Turm auszumachen. Er war hübsch, selbst für babelsche Maßstäbe. Sein dickes schwarzes Haar hatte er nach hinten gekämmt. Die Nase war groß und streng, und seine Augen – zwei dunkle Pfuhle in einem bleichen Gesicht – waren unmöglich zu ignorieren. Sie sogen einen auf und ließen einen nicht los. Sie versengten einen. Als er Naomi von Kopf bis Fuß musterte, errötete sie bis in den Nacken.

«Herr Lichtenstern!», rief Lisbeth und machte eine kleine Verbeugung. Maria und Rosario kamen angelaufen, um das Wunder mitanzusehen.

«Wenn Sie Betty suchen», sagte Lisbeth, «die liegt auf minus vier. Ich kann Ihnen zeigen, wo es ist. Ich hatte gerade vor, sie zu besuchen.»

«Weshalb sollte ich?», sagte Lichtenstern. Seine Stimme war tief und dunkel und wie ein anschmiegsames düsteres Tier.

«Sie ist krank», sagte Maria gedankenlos.

«In der Tat», sagte Lisbeth. «und Sie dürfen keine Ansteckung riskieren. Sehr vernünftig. Vielleicht sollte ich meinen Besuch auch noch etwas aufschieben.»

Lichtenstern schaute sie an, als fragte er sich, wer sich wohl darum scheren mochte, ob dieses Mädchen die Grippe bekam oder nicht.

«Ich suche einen zeitweiligen Ersatz für Betty», sagte er. «Normalerweise macht Prynne das, aber da ich ohnehin nach unten musste, schaue ich mich selbst einmal um.»

«Tenga mi! Tenga mi!», rief Rosario, die vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel.

Lichtensterns Blick glitt von ihrem begierigen Gesicht zu ihren Brüsten und zurück.

«Vielleicht jemand, der eine verständliche Sprache spricht», sagte er.

«Ich spreche!», sagte Maria.

«Tja, leider», sagte Lisbeth, die zwischen Lichtenstern und Naomi glitt. «Als Bettys beste Freundin wäre es mir eine Ehre, für eine Weile ihre Tätigkeit zu übernehmen, Herr Lichtenstern.»

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Nach fünf Jahren in Babel habe ich genügend Erfahrung, um befriedigende Arbeit zu liefern.»

Er schaute kurz auf die Hand und schüttelte diese dann von sich ab.

«Du da!» Er zeigte auf Naomi. «Komm her.»

«Sie ist noch neu, Herr Lichtenstern», sagte Lisbeth. «Sie weiß noch nicht richtig, wie es hier im Turm zugeht. Es mangelt ihr an der nötigen Erfahrung.»

Lichtenstern ignorierte sie.

«Wie heißt du?»

«Naomi.»

«Willst du nach oben, Naomi?»

«Was soll ich da tun?»

Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie in seine traurigen Augen schaute.

«Pragmatisch, das liebe ich.»

Sie senkte ihren Blick als Erste.

«Such Prynne und sage ihr, dass du Betty ersetzt. Sie wird dir sagen, was du zu tun hast.»

Er stieg in den Aufzug.

«Meine Damen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Arbeitstag.»

Er lächelte, als ob er wüsste, dass er ihre gesamte Hoffnung auf ein besseres Leben mit sich nahm. Der Fahrstuhl schloss sich, und die Mädchen sahen sich in der Metalltür widergespiegelt, verzerrt mit langen Armen, kurzen Beinen und monströsen Köpfen. Lisbeth war die Erste, die sich umdrehte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

«Das sind großartige Neuigkeiten, Naomi. Ganz nach oben! Wer weiß, was für Chancen du dort bekommst! Und falls es noch mehr Kranke geben sollte, weißt du, dass ich nur zu gern für jemanden einspringe. Dann können wir wieder zusammenarbeiten. Wäre das nicht großartig?»

«Mitgefangen, mitgehangen», sagte Naomi.

Lisbeth nickte.

«Genau.»

«Leider weiß ich noch nicht richtig, wie es hier im Turm so zugeht. Ich halte es für besser, du arbeitest mit einer Person zusammen, die mehr Erfahrung hat», sagte Naomi.

«Das nimmst du mir doch nicht übel, Naomi, nach allem, was wir zusammen erlebt haben? Ich habe das nur gesagt, um dich zu beschützen. Wir sind doch Freundinnen!»

Naomi entfernte sich. Maria und Rosario, noch im Schock, witterten ihre Chance, als sie merkten, dass Lisbeth allein zurückblieb. Es dauerte nicht lange, bis jemand Naomis Namen schrie. Naomi schaute sich nicht um.

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verschluckte dort eine Gruppe von Touristen, die sich wenig um die missbilligenden Blicke von Frau Prynne kümmerten. Sie holten Bierdosen aus ihren Rucksäcken und tönten dann in irgendeiner osteuropäischen Sprache herum.

«Abschaum», murmelte Frau Prynne.

Naomi ignorierte die Touristen und starrte auf den Plasmabildschirm, der an der Fahrstuhlwand hing und in dem Frauen, die Hände voll mit Champagner und teuren Handtaschen, Männern mit perfekt rasierten Gesichtern, gekämmten Haaren, weißen Hemden, weißen Zähnen und einer weißen Haut zulächelten. Beide Arbeitnehmerinnen ignorierten den eindringlichen Geruch von Schweiß, Bier und Salami und holten erst wieder tief Luft, als der Aufzug im dreihundertfünfundzwanzigsten Stockwerk anhielt. Der Pulk ergoss sich hinaus und rannte johlend durch den Flur, prallte jedoch beim Eingang auf den «Maître d’» des City View Restaurants, der ihnen klarmachte, dass sie ohne Krawatte und mit Bierdosen nicht eingelassen würden. Die Gruppe hatte nicht vor, es dabei zu belassen, und umzingelte den Maître d’, der ruhig blieb und Prynne zunickte, als sie und Naomi vorbeigingen. Naomi schaute durch die Glastür ins Restaurant. Es war noch vor halb zehn Uhr morgens, und doch saßen schon jede Menge Leute an den Tischen, versteckt hinter Zeitungen oder gelangweilt in ihren Tassen rührend. Niemand schien sich für die unbezahlbare Aussicht zu interessieren. Sie selbst sah vom Flur aus auch nichts durch die Außenfenster, ausgenommen das strahlende Blau des Himmels. Ein Streifen tieferes Blau ließ das Meer erahnen, aber es konnte auch eine Verfärbung der Fenster sein. Viel Zeit bekam sie nicht, das Restaurant zu bestaunen. Sie bogen links in einen Flur ein, aus dem ihnen sechs Männer mit gezückten Schlagstöcken und einem C2 auf der Uniform entgegengelaufen kamen.

«Bin gespannt, ob das Gesindel gleich auch noch so viel Spaß hat», sagte Prynne mit einem dünnen Lächeln. Sie bogen abermals nach links ab, bis sie vor einem zweiten Fahrstuhl standen.

Prynne legte ihre Hand auf eine Metallplatte in der Wand, und der Lift öffnete sich. Danach tippte sie eine Zahlenkombination ein, und der Buchstabe A flackerte grünlich auf dem Bildschirm.

«Gibt es keinen direkten Fahrstuhl von unten nach oben?», fragte Naomi.

«Doch», sagte Prynne, «aber der ist exklusiv für Abraham Babel.»

Auf dem kleinen Monitor folgten die Zahlen einander im Eiltempo: 326. 327. 328.

«Wer wohnt auf diesen Etagen?»

«Niemand.»

«Niemand?»

«Planst du, dich hier einzumieten?»

Der Fahrstuhl stoppte. Die Türen öffneten sich von selbst, aber der Ausgang wurde von einem großen Spiegel blockiert. Naomi sah sich in der neuen Kleidung, die zu ihrem zeitweiligen A-Dienstrang gehörte. Sie trug einen schwarzen Rock bis genau über die Knie, weiße Socken und weiße Filzschuhe. Im Gegensatz zu Frau Prynne, einem Muster der Restaurierungskunst, trug sie kein Make-up. Ihr dickes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der neben ihrem Hals über das weiße Baumwollshirt fiel und das rote A auf ihrer rechten Brust fast bedeckte.

Ihre Finger glitten kurz über dieses A. Frau Prynne hatte ihr klargemacht, dass sie sich keine Illusionen zu machen brauche. Sie sei lediglich eine Vertretung und tue gut daran zu begreifen, dass sie jeden Moment wieder bei ihren Sub-Kolleginnen landen konnte. Je weniger sie ihren zeitweiligen Status missbrauche, desto weniger Problemen sei sie ausgesetzt, wenn sie wieder zur Putzhilfe werde.

Naomi hatte sich die Frage verkniffen, ob sie in ihrem zeitweiligen Status auch die Vorgesetzte von Frau Prynne mit «bloß» einem C war. Die A-s waren übrigens nicht der höchste Rang im Turm. Über ihnen standen unlogischerweise die B-s. Von B wie Babel. Nur sie gelangten in Abraham Babels Nähe.

Sie merkte, dass Frau Prynne sie beobachtete, und zog ihre Hand zurück.

«Knöpf dein Shirt zu.»

Naomi tat, was ihr befohlen war.

«Wie schade», tönte eine Stimme über ihnen. «Ich hätte gern etwas mehr gesehen.»

«Lass uns herein, Hans», sagte Prynne. «Wir haben zu arbeiten.»

Die Stimme fragte nach den Identifikationsdaten.

«Du weißt, wer ich bin», sagte Prynne.

«Das tut nichts zur Sache.»

Prynne seufzte.

«Bei jedem neuen Dienstmädchen immer dieselbe Routine. Du glaubst doch nicht, dass das sie beeindruckt, Hans? Diese Mädchen haben in ihrem kurzen Leben schon mehr gesehen und mehr ignoriert, als du ihnen bieten kannst.»

«Die Identifikation bitte», sagte die Stimme.

Prynne drückte ihre Hand auf die Metallplatte an der Spiegelwand. Ein grünes Licht leuchtete auf.

«Jetzt unsere neue A», sagte die Stimme.

Naomi folgte Prynnes Beispiel. Das Metall fühlte sich kalt an. Das Licht wurde rot.

«Und jetzt?», sagte Prynne. «Soll ich hier bis ans Ende der Zeiten stehen bleiben?»

«Keine Panik, Frau Prynne, das kann für Sie nicht mehr so lange dauern», sagte die Stimme.

Der Spiegel schob sich zur Seite, und fünf Männer in schwarzen Maßanzügen kamen auf sie zu. Naomi wurde gebeten, die Arme in die Höhe zu strecken, und wurde dann professionell abgetastet. Frau Prynne tippte ungeduldig mit ihren manikürten Nägeln gegen die Fahrstuhlwand. Einer der Männer, blond und breit und mit einer von seiner linken Schläfe bis zu seinem Mundwinkel verlaufenden Narbe, drehte sich zu ihr um.

«Sparen Sie sich dieses Gehabe, Frau Prynne. Ich tue meine Arbeit. Und Sie sollten das besser auch tun. Ich habe keine Formulare im Zusammenhang mit einer neuen Putzhilfe erhalten.»

«Sie ist eine zeitweilige Vertretung. Sie kommt aus dem Waisenhaus. Sie wurde gründlich durchleuchtet. Sie ist clean.»

«Behaupten Sie.»

«Willst du lieber selbst die Zimmer putzen, Hans?»

Sie starrten sich gegenseitig an.

«Also gut. Heute kann sie so hinein, aber bis morgen will ich alle Papiere auf meinem Schreibtisch haben, sonst wandert sie zurück nach unten.»

«Das werden wir ja sehen», sagte Prynne und schob Naomi weiter durch einen Metalldetektor und das Zimmer der Wachleute.

Da ging sie also, hinein in das höchste, teuerste, exklusivste Apartment der Welt. Nicht, dass sie viel von dem Luxus bemerkt hätte, denn die Flure, durch die Prynne sie führte, waren für das Personal gedacht und nicht für die Bewohner. Die Flure waren zwar nicht kahl und giftgrün wie unten, sondern breit und warm mit indirekter Beleuchtung und Drucken an den Wänden – es waren immerhin die Räumlichkeiten Babels –, aber dennoch lediglich Flure, die genau wie die Wasserleitungen oder die Strom- und Glasfaserkabel hinter dem wirklichen Leben in den Apartments entlangführten.

Prynne lotste sie in ein großes Zimmer, das nach Lavendel roch. Hier standen die Putzmittel, alle säuberlich angeordnet und etikettiert. Frau Prynne schnurrte die Etiketten herunter: B für Badezimmer, O für Orangerie, G2 für das zweite Gästezimmer, F3 für Flur drei, By für den Byzantinischen Saal und so weiter. Es war nicht sonderlich schwer. Im Zweifelsfall konnte sie die Räume immer auf dem Etagenplan finden, der an der Wand hing.

«Wo sind wir jetzt?», fragte Naomi.

«Hier.» Frau Prynne bohrte ihren spitzen Fingernagel in eines der kleinen Quadrate auf dem Plan.

«Ist dieses Apartment so groß, dass es einen Plan dafür braucht?»

Die kalten Lippen von Frau Prynne kräuselten sich zu einem Lächeln.

«Komm», sagte sie bloß, und wieder folgte Naomi ihr wie ein Hündchen. Etwa dreißig Meter weiter stieß Frau Prynne eine Tür auf.

«Nach dir.»

Naomi lugte in das Zimmer. Das Flurlicht drang lediglich einige Meter in den Raum hinein, und das Einzige, was Naomi dort sehen konnte, war ihr eigener zögerlicher Schatten auf den kleinen blauen Fliesen zu ihren Füßen.

«Los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»

Was war das für ein Geruch? Ihre Hände suchten vergeblich nach einem Lichtschalter.

Prynne klatschte in die Hände, und das Licht sprang an.

«Oh», sagte Naomi.

«Olympische Dimensionen natürlich», sagte Frau Prynne. «Nicht, dass hier jemals Wettkämpfe stattfinden würden, aber auch hier gilt das Prinzip: Wenn schon, dann lieber gleich anständig.»

Naomi erkannte den Geruch von Chlor. Sie stand am Rand eines immensen Schwimmbeckens. Sie schaute zu Frau Prynne, die sich keine Mühe gab zu verbergen, wie sehr sie Naomis Verwunderung genoss.

«Was willst du wissen? Wieso eine Schwimmhalle von diesen Ausmaßen wie selbstverständlich an der Spitze des höchsten Gebäudes der Welt zu finden ist? Ganz simpel, Mädchen. Mit Geld kann man alles. Hast du irgendeine Vorstellung, wie viel diese abertausend Liter Wasser wiegen?»

Naomi ging um das Schwimmbecken herum. Bei jedem Schritt, den sie machte, leuchteten nicht nur an den Wänden, sondern auch unten im Wasser Lichtspots auf. Der Boden war mit goldenen Mosaiken ausgelegt. Durch die Lichtwellen hindurch sah sie, wie schwarze Wale Schiffe verschlangen, und ein hölzernes Hausboot, durch dessen Dach Elefantenrüssel und Giraffenhälse ragten.

Noch außergewöhnlicher als die Ausmaße war die Leere der Schwimmhalle. Keine halbstarken Jungs, keine schreienden Babys und keine alten Frauen mit beblümten, an verdorrte Brautsträuße erinnernden Badekappen, wie sie jedes Schwimmbad bevölkerten. Hier war alles Ruhe, Luxus und Überfluss.

Naomi tauchte ihre Hand in das Wasser. Lichtkräusel wogten über die Wände. Wie wunderbar musste es sein, sich hier hineingleiten zu lassen, nicht in ein Wasser, das an diesem Tag schon von Hunderten anderen benutzt worden war, sondern in ein jungfräuliches Nass, über dem einem nahezu sichtbaren Jungfernhäutchen gleich die Stille schwebte.

«Du putzt das hier, sobald du mit den Badezimmern fertig bist. Schau auf den Zeitplan. Du beginnst keine Minute früher und keine Minute später, verstanden?»

Naomi nickte. Sie gingen zurück in den Flur.

Frau Prynne klatschte zweimal in die Hände, und alle Lichter gingen aus.

Naomis erste Aufgabe war das Putzen der Bäder in den Gästezimmern. Jedes einzelne davon war größer als der Schlafsaal der Subs. Goldgerahmte Spiegel zierten die Marmorwände. Die Schränke waren aus unbekannten Holzarten gefertigt, die Handtücher so dick und weich, dass man darin versank. Die Badewanne war eine Riesenmuschel aus Marmor.

«Du hast genau achtzig Minuten pro Badezimmer. Es sind insgesamt fünf, also du weißt, was du zu tun hast. Wenn du fertig bist, gehst du zur Schwimmhalle. Die brauchst du heute lediglich zu wischen. Du hast eine halbe Stunde, was mehr als ausreichend ist. Wenn du fertig bist, verstaust du die Putzsachen und kehrst zum Aufzug zurück. Hans wird Schwierigkeiten machen, dich zuletzt aber doch hinauslassen. Morgen früh wartest du um halb neun unten bei den Aufzügen auf die A-Mannschaft. Sie werden dich mit nach oben nehmen. Hast du noch Fragen? Dann steh nicht herum wie ein Ölgötze, sondern fang an!»

Nichts war schmutzig. Da war nicht ein Fleck auf den Spiegeln, nicht ein Streifen in den Waschbecken. Naomi legte sich auf den Boden des Badezimmers, presste eine Wange auf die Fliesen, sodass sie jede Unebenheit auf dem Fußboden bemerkt hätte, und immer noch sah sie nirgendwo eine Fluse oder ein Stäubchen.

Sie knotete ihre Schuhe auf und kroch barfuß in die Riesenmuschel. Der Marmor fühlte sich kühl an. Sie schrubbte, nicht weil sie plötzlich von Menschen hinterlassene Spuren gefunden hätte, sondern weil sie davon ausging, dass Prynne sie kontrollieren würde. Ihr wurde heiß. Sie zog ihr Shirt aus und hängte es auf einen Handtuchhalter. Nach einer halben Stunde war sie mit dem Badezimmer fertig. Fünfzig Minuten zu früh.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie zog die Lippen hoch, klapperte mit den Zähnen und bedachte sich selbst mit einem Augenzwinkern. Naomi. Mitten im Turm von Babel.

Im Spiegel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte. Die Tür ging auf. Es war nicht Prynne.

«Warum solche Angst?»

Lichtenstern glitt ins Zimmer, setzte sich auf die Marmorplatte des Waschtischs und besah sich im Spiegel.

«Ich bin ordentlich rasiert. Von meinen Zähnen tropft kein Blut. Ich sehe nicht ein, weshalb du dich erschrecken solltest.»

Er musterte sich weiter im Spiegel.

«Oder ist dieser Anzug zu förmlich? Besonders, wenn ich sehe, wie bequem du gekleidet bist.»

Über seine Schulter hinweg sah sie sich selbst im Spiegel, ohne Shirt, nur mit BH. Sie legte die Hand über ihre Brüste.

«Komm, nicht so bescheiden. Wie heißt es in der Bibel? Ein Mensch darf seine Talente nicht begraben.»

«Was kann ich für Sie tun, Herr Lichtenstern?»

«Setz dich. Du machst mich nervös mit diesem Blick wie von einem in die Enge getriebenen Stück Wild. Ich tue dir nichts. Ich brauche eine Frau nicht zu zwingen. Die Arbeitnehmerinnen von Babel stehen Schlange, um mir jede Annehmlichkeit zu bieten.»

«Dann würde ich sie nicht länger warten lassen», sagte Naomi.

Seine Augenbraue wanderte in die Höhe.

«Möchtest du denn nicht von dieser einmaligen Gelegenheit profitieren? Du brauchst keine Angst zu haben, Prynne könnte hier jeden Moment eindringen. Wir werden von niemandem gestört werden. Du kannst so laut schreien, wie du willst.»

Er fuhr sich mit beiden Zeigefingern über die Lippen.

«Nicht zu trocken. Nicht zu feucht. Genau richtig.»

Er drehte sich vom Spiegel weg und schaute sie an. Den einen Arm noch immer vor ihren Brüsten, machte sie einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Badezimmerwand berührte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach der Handbrause.

«Was hast du vor? Mich nass sprühen, bis ich schmelze?»

«Ich muss weiter mit meiner Arbeit, Herr Lichtenstern.»

Er kam auf sie zu. Der Duschkopf in ihrer Hand zitterte.

«Findest du mich denn nicht anziehend, Naomi? Nein? Du brichst mir das Herz.»

Er grinste.

«Etwas mehr Dankbarkeit hatte ich schon erwartet. Ohne mich wärst du gar nicht hier! Zugegeben, dieser Putzjob ist nur vorübergehend, aber wenn du freundlich zu mir bist, könnte ich für eine dauerhafte Beförderung sorgen. Nicht sofort als A natürlich. Aber alles ist besser, als eine Sub zu bleiben, nicht?»

«Mir gefällt es dort ausgezeichnet», sagte Naomi.

«Findest du mich so abstoßend? Was für ein Schlag für mein Ego! Oder willst du irgendeinem pickligen Teenager treu bleiben, der draußen auf dich wartet? Nein, da ist niemand, ich spüre es. Magst du keine Männer, Naomi? Hast du andere Interessen? Ich denke nicht. Aber du hast Angst vor uns. Warum? Schlechte Erfahrungen?»

Er stand jetzt am Rand der Badewannenmuschel.

«Ich könnte dir sagen, dass nicht alle Männer gleich sind, aber aus meinem Mund würde sich das merkwürdig anhören. Ich weiß, was über mich gesagt wird.»

«Alles gelogen natürlich», sagte Naomi.

«Nicht alles.»

Er setzte sich auf den Rand der Muschel.

«Weißt du, was das Problem ist? Frauen finden, dass ich zu schnell vorgehe. Ich bin genau wie du, Naomi. Direkt. Frauen wollen das nicht. Obwohl ich ihnen damit einen großen Dienst erweise. Ich verzichte gern auf diese ersten Dates, die Verabredungen zum Essen oder fürs Kino, und erst recht auf die langen Gespräche, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Ich gönne Frauen die nötige Distanz. Sie können sein, wer sie sein wollen. Tausende von Frauenrollen können sie annehmen, die eine noch mysteriöser als die andere. Aber nein, mit jeder Frage nach meiner Lieblingsfarbe, mit jedem Aufstoßen ihrer unverdauten Vergangenheit, mit jeder schlechten Erfahrung im Job und mit jeder zutiefst persönlichen Meinung, die sie mit dem Rest der Weltbevölkerung teilen, schrumpfen sie, bis sie weiter nichts mehr sind als ein banales Stück Fleisch, aus dem sich sämtlicher Biss und Geschmack verflüchtigt hat. Ich gebe ihnen Unmengen an Gold und Glamour, und sie geben mir Nachbarschaftsstreitigkeiten und verschlissenes Bettzeug. Das ist kein fairer Tausch.»

Er streckte seine Hand nach ihr aus.

«Bist du eine von ihnen, Naomi? Will du mich auch mit deinen trivialen Träumen und deiner tristen Vergangenheit langweilen? Oder willst du im Hier und Jetzt leben? Den Augenblick genießen, der sich uns bietet?»

Sie berührte seine ausgestreckte Hand nicht.

«Hat diese Ansprache jemals funktioniert?», fragte sie ihn.

Er ließ seine Hand sinken.

«Öfter, als du dir vielleicht vorstellst.»

Er betrachtete seine Fingernägel.

«Du kannst die Brause ruhig zurückhängen. Es muss anstrengend sein, das Ding so lange zu umklammern. Und deinen anderen Arm darfst du auch sinken lassen.»

Naomi bewegte sich nicht.

«Auch gut. Misstrauen über allem.»

Er stand auf und entfernte sich. An der Badezimmertür drehte er sich um.

«Was erwartest du vom Leben, Naomi?»

«In Ruhe gelassen zu werden.»

Er lachte.

«Ein unmöglicher Wunsch. Das Leben lässt einen nicht in Ruhe. Es ist ein wilder Ritt, aus dem man nur auf eine Weise aussteigen kann, und die ist wiederum zu ruhig, selbst für dich.»

«Ich liebe die Ruhe.»

«Dann darfst du aber nicht so aussehen, wie du aussiehst, und nicht so aus den Augen schauen, wie du es tust.»

«Wie denn?»

«Schlummernd. Wie ein Vulkan oder ein Selbstmordterrorist auf dem Weg zu seinem Ziel. Oder wie eine Frau, kurz bevor sie sich über ihre letzten Bedenken hinwegsetzt.»

«Ich bin nichts von alledem.»

«Schade. Das war ein interessantes Gespräch, Naomi. Das Resultat war zwar nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.»

Die Tür fiel ins Schloss.

Sie wartete eine Viertelstunde, öffnete dann vorsichtig die Badezimmertür und schaute hinaus in den Flur. Alles war ruhig. Keine Prynne und kein Lichtenstern zu sehen. Sie schlich hinaus, und keine maskierten Wachleute kamen auf sie zu gerannt. Vor einer der Türen blieb sie stehen und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Leise schob sie sie einen Spaltbreit auf. Ein weißes Licht fiel auf den Flur. Es dauerte etwas, bis ihr bewusst wurde, was sie sah, und dann trat sie fasziniert in das Zimmer.

Babel

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