Читать книгу Babel - Jan de Leeuw - Страница 11
ОглавлениеNaomi war unterwegs zu einem weiteren Badezimmer, als sie jemanden schreien hörte. Es kam aus der Schwimmhalle. Sie ließ ihr Putzzeug fallen und rannte durch die Flure. Im Schwimmbecken sah sie zwei Männer im Wasser. Es waren dieselben, die eine halbe Stunde zuvor plötzlich im Schlafzimmer von Alice Babel gestanden hatten. Einer von ihnen schlug wie wild um sich, als würden Elektroschocks seinen Körper durchzucken. Der andere Mann versuchte, ihn über Wasser zu halten. Er war es, der schrie, der Naomi bemerkte und sie anflehte, ihm zu helfen, den Mann an den Rand zu ziehen, bevor es zu spät war. Aber etwas weiter im Becken strampelte Alice Babel. Sie hielt sich noch über Wasser, konnte aber jeden Moment untergehen.
Naomi sprang in das Becken und schwamm zu dem Mädchen, das in diesem Moment ganz unter Wasser geriet. Alice schlang in Panik beide Arme um Naomis Hals. Es war eine würgende Umarmung, ein totes Gewicht, das sie nach unten zog. Naomi versuchte, sie beide über Wasser zu halten, aber sie sanken, und das Geschrei des Mannes verschwand in der Unterwasserstille.
Naomi konnte sich nicht von den Armen befreien, wie sehr sie auch zerrte. «Lass los!», rief sie. Ein Vorhang aus Luftblasen schob sich zwischen sie. Sie berührten den Boden. Einen Augenblick lang blieben sie stehen – Partnerinnen in einem zu intimen Tanz. Dann sank Alice in die Knie und zog Naomi noch weiter hinab. Naomi biss so fest sie konnte in den Arm, der sie erstickte. Alice ließ los. Naomi schoss nach oben, brach durch die Wasseroberfläche und schlang die Luft in sich hinein. Das Schwimmbad hallte immer noch von dem Geschrei des Mannes wider. Sie saugte ihre Lungen voll und tauchte wieder hinab. Alice lag auf dem Boden, die Arme ausgestreckt und die Beine gekreuzt, als läge sie auf einer Wiese und würde zum Wolkenhimmel aufschauen. Ihre Augen waren geschlossen.
Naomi fasste sie bei den Haaren und zerrte sie nach oben. Mit allerletzter Kraft erreichte sie den Rand. Sie schlang ihren Arm um Alices Taille und zog sich Zentimeter für Zentimeter weiter am Rand entlang, bis sie zu der Treppe kam.
«Leg die Arme um mich», rief sie.
Aber das Mädchen bewegte sich nicht.
Naomi schürfte sich die Knie auf, während sie Stufe um Stufe weiterkroch. Sie schleppte Alice weiter, bis sie beide am Rand des Schwimmbeckens lagen. Auf der anderen Seite vollzog sich ein gleichartiges Ringen. Der Mann schrie noch immer um Hilfe, aber Naomi sah nur das kalte, weiße Gesicht von Alice. Atmete sie noch? Sie rappelte sich hoch und beugte sich über sie, aber in diesem Moment flogen die Türen zur Schwimmhalle auf. Vier Wachleute kamen auf sie zu gerannt und schubsten sie unsanft zur Seite.
Hans kniete neben dem Mädchen und drückte auf ihren Kiefer, bis sich ihr Mund öffnete. Seine nikotingelben Finger verschwanden zwischen ihren Lippen. Ein anderer Wachmann zog Naomi auf die Füße. Noch mehr Leute kamen ins Schwimmbad gerannt und sprachen in unsichtbare Mikrofone. Schon bald war Alice in einer Gruppe breitschultriger Männer verschwunden.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Prynne.
«Geh in eines der Gästezimmer und bleib dort. Los, wir können hier keinen zusätzlichen Trubel gebrauchen!»
Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens hämmerte der Mann auf die breite Brust seines Kollegen. «Leonard! Leonard!», schrie er wieder und wieder. Naomi sah noch, wie die Lippen des einen Mannes die kalten Lippen des anderen fanden, dann wurde sie von Prynne aus der Schwimmhalle geschoben.
Sie stieg gerade aus ihrem nassen Rock, als Hans ins Zimmer trat. Schnell zog sie ein Bettlaken über sich.
«Du hast nichts gesehen und nichts gehört. Was du gerade gesehen hast, ist nicht passiert. Verstanden?»
«Lebt sie noch?»
«So besorgt um deine Arbeitgeberin. Das ehrt dich. Und was dich auch ziert, ist dieses Laken. Ich an deiner Stelle würde es nicht zu eng an mich ziehen. Dein nasser Leib lässt nicht mehr viel Platz für die Fantasie. Männer mit weniger Selbstdisziplin könnten dadurch auf dumme Gedanken kommen.»
Er kam auf sie zu. Sie schrak zurück, rutschte an der Wand entlang, bis ihr ein Schränkchen den Weg versperrte. Mit ihrer freien Hand ergriff sie einen Kerzenleuchter.
«Was hast du vor? Du wirst doch nicht den Wachdienst von Babel angreifen, Mädchen?»
«Hans!»
Frau Prynne stand in der Türöffnung.
«Was ist hier los?»
«Ich habe der neuen Putzhilfe gerade erzählt, dass sie besser nicht herumposaunt, was sie gesehen hat. Aus Sicherheitsgründen», sagte Hans.
«Der Putzdienst fällt unter meine Verantwortung. Deine Verantwortung ist es zu überprüfen, warum es so lange dauern musste, bis Hilfe aufgetaucht ist. Es gibt doch keinen faulen Apfel im Korb, Hans?»
«Ich habe die Männer des Wachdienstes eigenhändig ausgesucht und ausgebildet, Hilda.»
«Dann bleibt mir nur der Schluss, dass es irgendwo an der Auswahl oder Ausbildung hapert, Hans.»
Er wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber, knallte die Hacken zusammen, verbeugte sich andeutungsweise vor Naomi und Prynne und verließ das Zimmer.
Die Frauen schauten ihm kurz hinterher. Naomi stellte den Leuchter zurück auf einen Beistelltisch.
«Ist alles in Ordnung, Frau Prynne?», fragte sie. «Lebt sie noch?»
«Fräulein Alice lebt noch. Sie wird jetzt für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht. Hans hat recht: Es ist besser, wenn möglichst wenig Leute wissen, dass sie nicht im Turm ist. Wir können sie im Krankenhaus nicht so gründlich bewachen wie hier, und wir wollen niemanden auf dumme Gedanken bringen.»
«Ich habe nichts gesehen», sagte Naomi.
«Sehr gut», sagte Frau Prynne. «Du lernst schnell. Ich freue mich, dass ich auf deine Diskretion zählen kann. Was hältst du davon, nach der Vertretung hier in der Logistik zu arbeiten? Jemand mit deinen Qualitäten und schnellen Reaktionen ist auf Sub-Niveau nicht an seinem Platz. Ich denke, du hast da unten schon alles gelernt, was es zu lernen gibt, und gehe davon aus, du wirst nicht traurig sein, die nassen Matratzen und Lisbeths hinter dir zu lassen. Was? Guck nicht so erstaunt. Glaubst du, ich weiß nicht, was sich in den Schlafsälen abspielt? Nicht dass es mich irgendwie kümmert, solange die Arbeit nicht darunter leidet.»
«Vielen Dank», sagte Naomi.
Das Fenster des Gästezimmers bebte. Ein Helikopter flog vorbei. Sie schauten der Maschine nach, bis sie über die Spitzen des Wolkenkratzers hinweg verschwand.
«Ich schicke Anika mit trockenen Sachen», sagte Prynne dann und verließ den Raum.
Naomi schaute noch immer durchs Fenster, als eine junge Frau mit einem Stapel trockener Kleidung hereinkam.
«Naomi?»
Naomi nickte.
«Ich bin Anika.»
«Du hast große Ähnlichkeit mit …»
«Betty, ich weiß. Zwiddeldum und Zwiddeldei nennt uns Fräulein Alice. Wir sind allerdings nicht miteinander verwandt. Wenn man uns zusammen sieht, bemerkt man schon den Unterschied. Betty ist die Bitch.»
Sie warf die Anziehsachen auf einen Sessel.
«Prynne sagt, heute wäre dein erster Tag hier. Das ist schon was, nicht?» Anika deutete auf die atemberaubende Aussicht vom Gästezimmer, auf das spiegelglatte Parkett, in dem sich die weißledernen Sessel, die Kunstwerke und der enorme Kronleuchter widerspiegelten.
«Ja», sagte Naomi. Sie ließ das Bettlaken fallen und zog die trockenen Sachen an.
«Ich vermute, du hast Hans schon kennengelernt? Mach dir keine Illusionen. Falls er dir irgendwas versprochen hat …»
«Das hat er nicht», sagte Naomi.
«Gut. Babel mag keine Techtelmechtel unter dem Personal. Hans wird seinen Job so schnell nicht verlieren, aber dich», sagte Anika, bevor sie das Zimmer verließ, «dich haben sie sofort ersetzt.»
Naomi sah sich in einem der Spiegel. Ihr nasser Zopf tropfte noch nach auf ihr Shirt. Das A brannte auf ihrer Brust.
Abends wartete Lisbeth schon auf sie.
«Na, wie war’s?»
«Arbeit», sagte Naomi.
«Los, erzähl!»
Auch die anderen Mädchen starrten Naomi an, als wäre sie gerade aus dem Himmel herabgestiegen.
«Ich habe Badezimmer geputzt. Mehr nicht.»
«Du musst doch etwas gesehen haben?»
«Lass sie doch, Lisbeth. Verstehst du denn nicht? Seit sie eine A ist, sind wir ihr doch zu gering.»
Aber Lisbeth gab nicht auf.
«Hast du Babel gesehen? Oder Lichtenstern?»
«Ich habe niemanden gesehen», sagte Naomi.
Mit dem Fortschreiten des Abends sickerten die ersten Gerüchte in den Schlafsaal. Irgendetwas war in den Räumen von Alice Babel geschehen. Was, das wusste niemand so genau, aber die plötzliche Hektik verriet, dass es etwas Ungewöhnliches gewesen sein musste, und die mürrischen Mienen der Sicherheitsleute verstärkten die Vermutungen.
Prynne, die sich noch am selben Abend im Schlafsaal zeigte, wurde entsprechend mit Fragen bestürmt. Die neugierigen Reinigungsfrauen tanzten um sie herum. Prynnes Zunge, schärfer als ein Stachel, teilte gnadenlos aus. Nein, Herr Babel habe keine Herzattacke erlitten. Wie kamen sie bloß auf diesen Unsinn? Herr Babel sei gesund und wohlauf. Sie überzeugte niemanden, und als sie weg war, überschlug sich die kollektive Fantasie. Babel sei tot, aber das werde aus finanziellen Erwägungen noch geheim gehalten. Alice Babel habe sich in einen ihrer Physiotherapeuten verliebt und angekündigt, ihn heiraten zu wollen. Daher der Herzanfall des alten Mannes. Einer der Wachleute sei Mitglied einer Terrororganisation, und ein Mordversuch sei in letzter Sekunde vereitelt worden. Die Krankheit von Alices Hauslehrerin sei kein Zufall. In der Fassade der Räumlichkeiten seien Risse aufgetaucht. Das ganze Gebäude befinde sich kurz vor dem Einsturz und bedrohe die Stadt.
Naomi wurde von den anderen Subs belagert. Sie kam von oben. Sie musste doch wissen, was los war.
«Ich habe nichts gesehen», sagte sie noch im Bett, aber ihr glaubte man ebenso wenig wie Prynne.
«Vielleicht hat es etwas mit ihr zu tun», sagte Deborah. «Es kann doch kein Zufall sein, dass gleich am ersten Tag, wenn sie dort arbeitet, alles Mögliche schiefläuft. Vielleicht hat sie den alten Babel ja umgebracht.»
«Glaubst du wirklich, sie wäre noch hier, wenn sie irgendwas ausgefressen hätte?», fragte Christel.
Das stimmte. Aber trotzdem. Deborah hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass Naomi etwas mit den Schockwellen zu tun hatte, die das Gebäude durchzuckten, und war wenig geneigt, diese Ansicht so bald aufzugeben.
«Falls du morgen wieder nach oben darfst, dann will ich noch glauben, dass es ein Zufall ist. Aber sonst …»
Sie schwieg. Denn was sollte sonst sein? Letztendlich gab ihre Fantasie es auf; und eine Sub nach der anderen schlief ein. Naomi hatte mehr Mühe, ihren Schlaf zu finden.
«A3 Unterdienstmädchen Naomi», sagte sie am nächsten Morgen zu ihrem Spiegelbild im Fahrstuhl. Sie presste ihre Hand auf die Metallplatte, das Licht sprang auf Grün, und der Spiegel glitt zur Seite.
«Du kennst den Weg», sagte eine Stimme irgendwo über ihr.
Im Badezimmer war alles unverändert. Seit sie am vorigen Tag hier geputzt hatte, war niemand mehr in dem Raum gewesen. Sie ignorierte den Zeitplan und ging mit Eimer und Wischmopp zur Schwimmhalle. Ein paar eiförmige Lämpchen unten im Becken erleuchteten matt den Raum, und die kleinen Wellen schrieben unbekannte Melodielinien auf die Wände.
Sie klatschte in die Hände, und das Licht sprang an. Sie ging zu der Stelle, an der sie Alice zurückgelassen hatte. Nirgends eine Spur von dem, was sich tags zuvor hier abgespielt hatte. Als hätte es sich nie zugetragen.
Sie wischte um das Schwimmbecken herum. Ab und zu spritzten ein paar Tropfen ins Wasser, und durch die Wellen schien das Mosaik zum Leben zu erwachen. Eine Frau mit einem Apfel in der Hand teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen einer Schlange, die wie ein weggeworfener Fahrradschlauch an einem Ast baumelte, und einer nur langsam vorankommenden Naomi. Auch die Bauarbeiter auf dem großen Turm in der Mitte des Mosaiks unterbrachen ihre Arbeit, richteten sich auf und schauten zu, wie abwechslungshalber einmal jemand anders hier in Schweiß geriet.
«Was hast du vor?»
Es war Anika.
«Sie ist nicht da. Wir brauchen uns nicht totzuarbeiten. Komm.»
Naomi folgte ihr in Alices Schlafzimmer.
«Es lässt mich nach wie vor nicht kalt.»
Mit einer schwungvollen Geste zeigte sie auf die Stadt vor den großen Fenstern, als wäre sie persönlich für die atemberaubende Aussicht verantwortlich.
«Siehst du, wie die Menschen da unten herumwuseln wie die Ameisen, während wir hier oben in den Wolken schweben? Wir haben es gut getroffen.»
Naomi nickte.
«Von hier oben sieht es aus, als könnte man sie mit einem Daumendruck zermalmen. Als könnte man mit den Fingern jedes dieser Mini-Autos wegschnippen, wie man einen Krümel vom Tisch fegt.»
Sie berührte die Scheibe beinahe, war aber vorsichtig genug, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
«Wie schön muss es sein, sie vor sich knien zu lassen, sie für ihre Blicke und Beleidigungen zu bestrafen, für die Bemerkungen über deine Kleidung und dass du nur ein Dienstmädchen bist und froh sein darfst, dass sie …»
Sie hielt inne, drehte sich um. «Wir haben Glück heute. Ihre Majestät ist immer noch nicht zurück.»
Sie ließ sich in einen der Sessel fallen.
«Ist die Katze aus dem Haus …»
«Wie geht es ihr?», fragte Naomi.
«Du glaubst doch nicht, dass uns einer das erzählt? Das Einzige, was wir tun müssen, ist, Befehle zu befolgen.»
Sie legte ihre Füße auf den Tisch.
«Du kannst Hans fragen, wenn du dir solche Sorgen machst, aber der wird nichts rausrücken. Der Mann ist beinhart. Nicht mein Ding, aber manche Mädchen mögen solche schweigsamen Typen.»
«Du interessierst dich nicht für Hans?», fragte Naomi.
«Ich mich für Hans? Pah! In seinen Träumen vielleicht. Und selbst dann kann er es in den Wind schreiben. Er ist viel zu sehr von sich eingenommen. Muskeln, Waffen und Großtuerei, so lässt sich dieser ganze Hans zusammenfassen. Auf solche Machos kann ich verzichten!»
«Gut zu wissen», sagte eine Stimme hinter ihnen.
Anika sprang auf.
Hans stand im Zimmer, mit einem plüschigen kleinen Hund an der Leine. «Das hier ist deine Verantwortung, dachte ich.»
«Lucy, du böser Hund!» Anika kniete vor dem Hund, damit Hans ihr rotes Gesicht nicht sah. «Wo hast du nur gesteckt?»
Das Tier leckte ihr die Hände.
«Ich habe ihn in einem der Gästezimmer gefunden», sagte Hans. «Und zwar angeleint an den Esstisch. Irgendwann einmal erwischen sie dich, Anika. Prynne hat auch im Rücken Augen.»
«Ach was. Wenn sie mich kriegen will, muss sie früher aufstehen und erst mal ihre Erfrischungspausen sein lassen.»
Anika führte ein imaginäres Glas zum Mund.
«Ein intelligentes Mädchen wie du hat wahrscheinlich schon genau darüber nachgedacht, was sie tun wird, wenn man sie hier ohne Referenzen entlässt.»
«Welchen Unterschied macht es, was wir tun? Die Prinzessin ist nicht da. Wie geht es ihr übrigens? Wir machen uns Sorgen um unser gelähmtes Vögelchen. Ist doch das erste Mal, oder, dass sie das Gebäude verlässt, seit ihre Familie – puff – in die Luft geflogen ist?»
«Deine Zunge, Anika, wird dich noch mal in Schwierigkeiten stürzen.»
«Du willst dich über meine Zunge beklagen?», fragte Anika.
«Wie lang bleibt Fräulein Babel weg?», fragte Naomi.
«Ja, Hans», sagte Anika, «wie lange wird unser schönes Leben hier noch dauern?»
«Keine Ahnung.»
«Sie ist doch nicht …?»
«Es geht ihr gut.»
«Ja, natürlich», sagte Anika. «Die Kleine besitzt einen vollständigen Hofstaat. Was hat sie zu klagen? Sie hat sogar Personal, um ihren Hund auszuführen.»
Alle drei schauten sie auf das kleine Tier, das durch die plötzliche Aufmerksamkeit auf einmal wie verrückt im Kreis sprang.
«Weil Betty nicht da ist, darf ich dreimal am Tag mit dem Vieh nach unten», sagte Anika zu Naomi.
«Etwas körperliche Bewegung tut dir gut», sagte Hans, während er sich umdrehte.
Anika warf die Hundeleine nach ihm, verfehlte ihn aber, und er ging lachend zur Tür hinaus.
«Es kommt ein Tag, da werde ich …»
«… ihn wie eine Ameise zermalmen?»
«So in der Art. Dieser arrogante Arsch. Er hält sich für unverzichtbar, weil er sich über den alten Mann geworfen hat, als das Auto explodierte.»
«Hans war bei dem Attentat dabei? Hat er auch gesehen, wer es getan hat?»
Anika antwortete nicht. Sie raffte die Leine vom Boden, und der Hund sprang an ihr hoch, weil er dachte, sie gingen jetzt spazieren.
«Lass mich in Ruhe, du dummes Vieh.»
Anika schob ihn von sich.
«Dieses Attentat hat sie alle getroffen. Die Kleine ist lahm, der Alte hat sich hier oben eingesperrt, und Hans …»
Sie tippte sich an die Stirn.
«Verrückt?», fragte Naomi.
«Er sieht überall Gefahren. Er vertraut niemandem, selbst Prynne nicht.»
Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen.
«Wir können es vorläufig ruhig angehen lassen. Solange die Prinzessin hier nicht schläft, brauchen wir ihr Bett auch nicht zu machen. Das Frühstück muss nicht weggeräumt werden, und das Zimmer kann durchaus mal ein paar Tage lang Staub ansetzen. Deine Badezimmer kommen auch eine Weile ohne deinen Putzeifer aus. Genieße die Ruhe, denn sie wird nicht lange dauern. Prynne wird bald mit einem angepassten Arbeitsplan ankommen.»
Prynnes neu zu vergebende Aufgaben blieben jedoch aus, Betty blieb krank, und die Prinzessin, wie Anika sie nannte, kehrte nicht aus dem Krankenhaus zurück. Ihnen blieb also wenig zu tun. Anika hatte damit kein Problem. Sie zeigte Naomi die Zimmer, stolz auf den Luxus und Naomis Verwunderung genießend.
Die Schwimmhalle, die Bäder und die Gästezimmer hatte Naomi schon gesehen. Alices riesiges Schlafzimmer hatte sie sich kaum anschauen können, aber jetzt konnten sie ungestört darin herumstöbern. Naomis Blick fiel auf ein großes Gemälde, das bis zum Boden reichte. Es war irgendwas Abstraktes; kaum mehr als drei schwarze Balken auf einem roten Hintergrund.
«Das ist ein Rothko. Frag nicht, wie viel sie für diesen Quatsch bezahlt haben.»
«Und was ist das hier?»
Naomi zeigte auf das immense Skelett, das einen großen Teil des Schlafzimmers mit Beschlag belegte.
«Das da? Wer weiß. Irgendein prähistorisches Tier, denke ich. Wenn mich ein Milliardär fragen würde, was ich mir zum Geburtstag wünsche, dann würde ich mir etwas anderes aussuchen als einen Haufen alter Knochen. Die Kleine ist eigenartig, und das ist noch gelinde gesagt.»
«Ich hatte es mir hier anders vorgestellt.»
«Wie denn?»
«Mehr Gold. Mehr Marmor.»
«Fußböden aus Diamant und Brunnen, aus denen Wein sprudelt?»
«So in etwa.»
«Sie brauchen keine goldenen Wasserhähne und keine zimmerbreiten Fernsehbildschirme, um zu zeigen, wie reich sie sind. Sie zeigen es mit den riesigen Räumen, der Schwimmhalle und Alices Schlafzimmer, falls man das noch als Zimmer bezeichnen kann. Und mit dem hier. Hörst du das?»
«Ich höre nichts.»
«Genau. Das ist Stille. Unbezahlbar. Sie kommt nicht nur durch die Teppiche und das dicke Glas. Das hier ist die Ruhe von Menschen, die sich nicht zu beeilen brauchen, weil die Welt auf sie wartet.»
Lucy hatte ihr eigenes Zimmer mit Schränken voller Spielzeug und in der Mitte des Raums einen kleinen Park, in dem das Tier herumtoben konnte, wenn es draußen zu kalt war.
«Zum Glück keine Hundekleidung. Die Prinzessin findet es lächerlich, Tiere so anzuziehen, als wären sie Menschen.»
Umso beeindruckender dagegen war Alices Kleiderschrank. Es war weniger ein Schrank als vielmehr ein Flur – breit genug, um mit einem Bett hindurchzufahren – mit Schränken links und rechts, voll mit Shirts und Sweatern und Schüben, die vor feiner Unterwäsche überquollen, sowie Stangen um Stangen voll Kleider, manche in Kleiderhüllen. Das Ende des Flurs führte in ein eigenes kleineres Zimmer mit einem großen Spiegel an der Wand sowie Schränkchen, in denen die Gürtel, Handtaschen, Kettchen und Haarnadeln lagen. Anika strich mit dem Finger über den Rand des Spiegels, der daraufhin aufschwang. Dahinter verbarg sich eine kleine Metalltür.
«Ich konnte selbst noch nicht in diesen Safe hineinschauen, aber Betty zufolge lohnt es sich. Juwelen so groß wie Taubeneier.»
«Ich habe keine Ahnung, wie groß ein Taubenei ist», sagte Naomi.
«Es wird in jedem Fall dicker sein als dieser Plunder hier», sagte Anika und zeigte Naomi den Diamantring an ihrem kleinen Finger. «Den hat sie mir mal geschenkt, als sie gut gelaunt war. Er passte ihr ohnehin nicht, und sie dachte wohl, ich würde mich über ihre ausrangierten Sachen freuen.»
«Und hast du dich gefreut?»
«Warum sollte ich dankbar sein müssen? Ein Ring mehr oder weniger bedeutet für sie doch gar nichts. Hier drinnen», Anikas Fingern glitten über die Tresortür, «liegt so viel Schmuck, dass sie kaum mehr weiß, was sie besitzt. Dieser Ring ist doch nur ein Krümel für sie.»
Sie spielte mit dem Zahlenschloss.
«Ich denke, wir lassen besser die Finger von allem», sagte Naomi.
Anika drehte ein paarmal an dem Knopf, doch nichts geschah.
«Ich brauche es nicht zu sehen. Es würde mich doch nur unglücklich machen.»
«Komm, wir hören auf», sagte Naomi. «Ich habe mittlerweile alles gesehen.»
«Noch nicht», sagte Anika.
Sie schob die Wand weg, auf der die Taschen ausgestellt waren. Dahinter, im Schein einer indirekten Beleuchtung, standen ganze Regale voller Schuhe.
«Hierher komme ich ab und zu, wenn es mir zu viel wird», sagte Anika.
«Magst du Schuhe denn so sehr?»
«Nein. Dafür aber die Tatsache, dass ich darin laufen kann und sie nicht.»
Sie zeigte Naomi die Sauna, die Turnhalle, in der Alice ihre physiotherapeutischen Übungen bekam, und als letzte Überraschung zeigte sie ihr das Puppenzimmer. In dessen Mitte stand ein enormes Puppenhaus, und Hunderte von Puppen starrten sie von den Regalen an den Wänden aus an.
«Das war nicht ihre Idee. Opa Babel wollte, dass sie sich wie zu Hause fühlt, als sie nach dem Attentat hier eingezogen ist. Warum er dachte, dass sich eine fast Vierzehnjährige in einem Zimmer voll mit diesen verfluchten Puppen wohlfühlen würde, ist mir schleierhaft. Geschäftlich mag er ja ein großes Genie sein, aber von jungen Mädchen hat er keine Ahnung.»
«Fräulein Alice war mit dem Zimmer nicht zufrieden?»
«Sie nennt es ihr Gruselkabinett. Sie findet es allerdings lustig, denke ich, also lässt sie es einfach so. Übrigens würde sie nie etwas tun, was den alten Mann verletzen könnte. Obwohl er meiner Meinung nach inzwischen weiß, dass sie andere Interessen hat. Als er sie fragte, was sie sich zu ihrem fünfzehnten Geburtstag wünschte, hat sie sich für dieses Monster in ihrem Schlafzimmer entschieden.»
«Das Skelett?»
«Ja. Mein Ding wäre es nicht, aber jedenfalls hat es Babel klargemacht, dass er nicht noch mehr Puppen anschleppen sollte.»
Sie schloss die Tür des Puppenzimmers.
«Ich bin froh, dass ich hier nicht abstauben muss. Die ganzen Augen würden mich verrückt machen.»
Anika schien jeden Tag etwas mehr von ihrer Kühle zu verlieren. Offenbar war Hans ihr doch nicht so gleichgültig, wie sie es zunächst vorgegeben hatte. Auch sie war an ihm interessiert. Also war dies für Anika genau der geeignete Moment, seine Nähe zu suchen. Keine Arbeit und keine Betty. Die Aufgaben, um die sie nicht herumkam, wälzte sie ganz einfach auf Naomi ab, deren Belohnung aus immer mehr Zugang zu Alices Räumlichkeiten bestand. Sie nahm Naomi mit in Alices Privatkino, komplett mit Popcornmaschine. Sie zeigte ihr die versteckten Zimmer im Herzen des Stockwerks, ein Zimmer, das auf den ersten Blick nichts Mysteriöses hatte, mit einem glatten Parkettfußboden, großen, goldgerahmten Spiegeln an den Wänden und einer Decke, die mit lachenden, hinter Wolken hervorlugenden kleinen Engeln bemalt war. Eine Reihe von immer kleiner werdenden Naomis schob sich mit ihr mit, als sie sich über das Parkett bewegte.
«Das hier ist der Tanzsaal. Nicht das Lieblingszimmer unserer Prinzessin. Für sie keine Bälle und keine Prinzen. Daher ist er auch meistens abgeschlossen.»
Als Naomi meinte, alles gesehen zu haben, nahm Anika sie eines Tages mit in die Orangerie. Es war ein kleiner Raum, der sich an Alices Schlafzimmer anschloss und somit auch eine Glaswand mit Blick über die Stadt besaß. Der Raum war leer. Nur in der Decke war ein Loch, durch das Luft gesaugt wurde.
«Einen Augenblick», sagte Anika, als sie Naomis fragenden Blick bemerkte. «Das hier ist lediglich die Schleuse.»
Die Tür zwischen dem kleinen Raum und Alices Schlafzimmer klickte zu, und im selben Moment öffnete sich die Wand vor ihnen. Eine plötzliche Hitze schlug Naomi entgegen.
Anika schob sie weiter in einen Saal, der kein Saal mehr war, sondern ein Urwald. Sie liefen über einen breiten Pfad zwischen Bäumen, Sträuchern, Lianen und Blumen hindurch. Naomi bückte sich, als eine grüne Wolke auf sie zugeflogen kam. Es war ein Schwarm von Sittichen, der mit viel Gezwitscher auf den Ästen über ihrem Kopf landete. Die beiden gingen weiter. Rote und gelbe Flecken in den Büschen streckten sich aus, bekamen Flügel oder baumelten kopfüber von den Zweigen und pfiffen, als ginge es um ihr Leben. In dem, was vermutlich die Mitte des Saals war, obwohl man hier keine Wände sehen konnte und der Wald sich endlos weit fortzusetzen schien, stand ein langer Holztisch. Anika holte einen Lappen aus einer Schublade des Tischs und rieb damit die Stühle ab.
«Bei den vielen Vögeln, die hier herumfliegen, sieht man sich besser vor.»
Sie nahmen Platz. «Na, was sagst du dazu? Hiermit war unsere Prinzessin wohl zufrieden. So zufrieden, dass sie oft zum Frühstücken hierherkommt. Mehr Arbeit für uns, aber was kümmert das sie?»
«Und was ist das?»
«Noch so ein Geschenk von Babel. Seine Vorstellung von Afrika. Zum Glück hat er sich auf Vögel beschränkt und nicht auch noch Elefanten hier heraufhieven lassen.»
Sie lauschten dem Krächzen und Pfeifen der gefiederten Exoten.
«Schließ die Augen.»
Naomi gehorchte.
«Ist es nicht so, als wärst du in einem anderen Land oder auf Expedition in einem dunklen Kontinent, nur ohne die Schlangen und fiesen Insekten? Ich sage dir: Reiche Leute, die verstehen es zu leben.»
Naomi öffnete die Augen, als sie Schritte hörte. Eine junge Frau tauchte aus den Büschen auf.
«Du!»
Sie zeigte auf Naomi. Die erkannte Betty, die Frau aus dem Speisesaal, die Lisbeth so zusammengefaltet hatte.
«Ich bin wieder da. Du darfst gehen.»
Naomi schaute zu Anika. Die beiden waren sich tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, das gleiche braune Haar und der gleiche arrogante Zug um den Mund.
Anika zuckte mit den Schultern.
«Tja, dein schönes Leben ist vorbei, Mädel.»
«Und grüß Lisbeth von mir», sagte Betty. «Sag ihr, ein Stapel alter Zeitschriften wäre nicht genug, um mich zu bestechen. Und zieh sofort das Shirt aus, wenn du unten bist. Ich will nicht, dass meine Kleidung in dem dreckigen kleinen Sub-Saal herumliegt.»
Naomi folgte dem Pfad zurück zu der Schleuse. Die Wand schloss sich hinter ihr. Ein kleiner blauer Vogel, der zusammen mit ihr in dem Schleusenraum gelandet war, flatterte gegen das Fenster, geblendet von dem plötzlichen Licht. Eine Pumpe sprang an, und der kleine Vogel verschwand durch ein Loch in der Decke. Er wurde wieder in die Orangerie gesaugt. Eine winzige blaue Feder wirbelte herab. Naomi pflückte sie aus der Luft. Am nächsten Tag sprang sie vor den anderen unter die Dusche. Als sie zu ihrem Spind ging, stand sie einen Augenblick mit dem Shirt vom vorigen Tag da. Schließlich warf sie es in einen der großen Wäschekörbe und zog sich ein Sub-Shirt über.
Als sie zurückkehrte, lag ein Brief auf ihrem Bett. Sie schaute zu den anderen Mädchen. Die wichen ihrem Blick aus, verfolgten jedoch jede ihrer Bewegungen. Sie riss den Umschlag auf und strich den Brief glatt.
«Wirst du uns verlassen, Naomi?»
Sie hatten natürlich gesehen, dass sie kein A-Shirt mehr trug, und als Naomi ihren Koffer packte, konnte Deborah sich nicht mehr beherrschen.
«Wirst du jetzt gleich ganz an die Spitze sausen? Sind die da oben so zufrieden mit deiner Arbeit? Ach nein, du bist offenbar keine A mehr, sehe ich. Bist du etwa wieder eine arme Sub? Wieder eine von uns? Wer hoch hinauswill, kann tief fallen.»
Naomi reagierte nicht auf sie.
«Oder waren sie doch nicht so zufrieden mit ihrer Vertretung, und du stehst wieder auf der Straße? Zurück zu deiner Familie? Ach richtig, stimmt, die hast du ja nicht.»
Naomi warf einen Blick zu Lisbeth, aber die schien sie zu ignorieren. Eine nach der andern verließen sie den Schlafsaal.
Naomi setzte sich auf ihr Bett. Sie wartete eine Stunde. Dann stand Prynne neben ihr.
«Bist du so weit?»
Naomi nickte. Sie war bereit.