Читать книгу Katzmann und das schweigende Dorf - Jan Eik - Страница 6
EINS
ОглавлениеER FÜHLTE nach dem Päckchen an seiner Brust. Alles in Ordnung. Beruhigt und ohne auf den Zustand des schlammigen Weges zu achten, schritt er dem verhängnisvollen Ort entgegen. In seiner Kindheit hatte er sich dem schütteren Wäldchen nie anders als mit Beklommenheit genähert, die oft wiederholte Erzählung des Großvaters vom grässlichen Mord im Rauber im Ohr. Dessen eigener Großvater war nämlich, wie der Alte anschaulich zu berichten wusste, als sei er dabei gewesen, eines schrecklichen Tages in jenem Raubwald erschlagen und beraubt worden, von drei miteinander verschworenen Knechten, die man bald ergriff. Der Mörder hatte sich vor dem Prozess umgebracht.
An die hundert Jahre mochte das her sein. Der Rauber hieß seit alten Zeiten so, weil es der Sage nach hier einst eine Raubritterburg gegeben hatte. Wälle und eingestürzte Gänge ließen sich in der nahen Flur und zwischen den Bäumen als schwache Bodenwellen mutmaßen.
Der Gutsbesitzer Ferdinand Geisler war nicht abergläubisch, ihn schreckten weder die Geister des gemeuchelten Urahns noch die der Mörder. Vergessen konnte er die Geschichte aber nie. Der ertragreichste Schlag seiner 120 Morgen Land grenzte an das Gehölz, Rest einer ausgedehnten Waldfläche, die sich einst bis ins Sächsische hinüber erstreckt hatte. Jedes Mal, wenn er beim Pflügen wendete und hinter der Hügelkuppe die Baumwipfel auftauchten, kam ihm unweigerlich der Mord in den Sinn.
So sprang ihn die Erinnerung auch an diesem diesigen Märzmorgen nicht unerwartet an, als sich der dunkle Waldsaum vor ihm schemenhaft gegen die aufsteigende Dämmerung abhob. Feuchte Schwaden wehten über das Land. Der lehmige Fahrweg, die einzige Verbindung zur nächsten Stadt, bestand aus eisgläsern überzogenen Pfützen, tief ausgefahrenen Fuhrwerksrinnen und nassen Schneeresten, in denen sich gelegentlich ein Stiefelabdruck abzeichnete. Hatte es einer noch eiliger gehabt als er, in die Stadt zu gelangen?
Dass er sich nach dem Ausmisten und Füttern heimlich davongemacht hatte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, beunruhigte ihn nicht. Die Familie war seine Eigenmächtigkeiten gewöhnt. Der Gedanke an das Geld allerdings, das er gut verwahrt in der Brusttasche spürte, bewirkte ein unbehagliches Gefühl in seinem Magen, wie er es kannte, wenn er es aus gewissen Gründen seiner Anni gegenüber an Aufrichtigkeit fehlen ließ oder bei anderer Gelegenheit gezwungen war, etwas zu tun, das ihm widerstrebte. War es wirklich richtig, was er vorhatte?
Die Frage hatte er sich, der Frau, dem greisen Vater Heinrich und dem eigenen Sohn in den letzten Monaten oft genug gestellt. Alle hatten sie mit nein beantwortet. Geld war Geld und blieb es, mochte auswärts mit dem Dollar geschehen, was da wollte. Das Deutsche Reich blieb immer noch ein deutsches Reich, selbst auf den Briefmarken. Die waren teurer geworden wie alles andere auch.
Am Anfang des Krieges waren allerlei Gerüchte umgegangen über den Verfall des Papiergeldes. Es hatte dennoch Wert behalten. Zumindest einen Teil davon. Daran erinnerte ihn der Alte, der in seinem 77-jährigen Leben manchen Preisverfall und manche Teuerung erlebt und überstanden hatte. Lass nur richtig Frieden werden, und alles renkt sich wieder ein, behauptete er hartnäckig. Die Städter brauchen allemal ihr Fressen, und das kriegen sie von uns - zu Preisen, die letztlich wir bestimmen.
Auf Dauer sah es danach ebenso wenig aus wie nach wirklichem Frieden. Allerorten rumorte es. In den Städten hatten sie eine Revolution angezettelt, der sächsische König hatte sich wütend davongemacht und musste, ebenso wie der Herzog Ernst in Altenburg, abdanken. Ruhe oder gar Frieden war nicht eingetreten. Im Gegenteil. Marodierende Banden zogen durch Sachsen, politischer Hader breitete sich aus bis aufs platte Land, Freikorps und andere vaterländische Vereine warben heimlich oder offen um Mitgliedschaft.
Ungerührt stapfte Ferdinand Geisler in seinen derben Winterstiefeln und seinem o-beinigen Bauerngang den vertrauten Weg entlang.
Platt war das Land hier nicht, Wulkersbach lag an den Hängen des letzten sachsen-altenburgischen, nunmehr thüringischen Tals vor der Landesgrenze zum ehemaligen Königreich Sachsen. Böswillige nannten es ein vergessenes Dorf. Zwei Meilen bis Amerika, entgegneten darauf die Einheimischen und ergötzten sich an den dummen Gesichtern der Unwissenden. Ein paar Kilometer hinter der nächsten sächsischen Kleinstadt Penig nämlich lag die Bahnstation Amerika. Wer gut zu Fuß war, konnte in zwei Stunden von Wulkersbach ins Gelobte Land gelangen. Jedenfalls dem Namen nach, der immer noch einen magischen Klang ausstrahlte.
In seiner Jugend hatte auch Ferdinand Geisler dem Traum von Amerika angehangen und die Reiseerzählungen des gescheiterten Lehrers aus dem nahen Hohenstein-Ernstthal verschlungen. Noch mehr als Karl May aber liebte er die deutschen Heldensagen. Sein Vater hatte ihn nicht an der Lektüre gehindert, solange die Arbeit auf dem Hof nicht darunter litt. Heinrich Geisler war selbst ein belesener Mann, weit herumgekommen für einen Bauern aus dem abgelegenen Wulkersbach. Bei den Ulanen hatte er gedient und mit den Österreichern gegen die Preußen gekämpft. 1871 war er bis nach Paris gelangt, wovon er bis heute schwärmte. Dass die deutschen Truppen es im Weltkrieg nicht bis dorthin geschafft hatten, nahm er jedem einzelnen Soldaten übel. Vielleicht lag es ja an der preußischen Führung. Das bisschen Schlacht wie seinerzeit 1870/71 hätten sie mit etwas gutem Willen allemal gewinnen müssen!
Die Jugend war nicht viel wert in Heinrichs Augen, wobei er den eigenen Sohn Ferdinand kaum ausnahm, dem er den Hof nur schweren Herzens überschrieben hatte. Ferdinand war dem Krieg mit knapper Not entgangen - anders als der jüngere Sohn Eberhard. Heinrich war stiller geworden, als auch der Enkel und Erbe Siegfried verwundet heimkehrte und sich in Wulkersbach die Todesmeldungen aus Verdun und von der Marne mehrten. Eine schwache Generation blieb es in Heinrichs Augen dennoch, die da übrig geblieben war und all das Unglück verschuldete, das in den letzten sieben Jahren über das Land gekommen war.
Die magische Zahl sieben wiederum beruhigte den durchaus nicht tiefgläubigen, wohl aber bibelfesten Heinrich Geisler. Mussten auf die sieben bedrückenden und mageren Jahre nicht unweigerlich sieben fette voller Glück folgen? Darüber waren Vater und Sohn und schließlich auch der Enkel Siegfried manchen Abend in Streit geraten. Noch nie ist es uns besser gegangen als jetzt, behauptete Ferdinand, der die fetten Jahre ab 1919/20 datierte, was Heinrich nicht gelten lassen wollte. Fette Jahre - das bedeutete für ihn die Rückkehr der guten alten Zeit, der wertbeständigen Goldmark und des hochgeschätzten Herzogs Ernst II. Nicht von ungefähr hieß das Wolfersdorfer Schloss, in das der Herzog jüngst heimgekehrt war, «Fröhliche Wiederkunft».
In der fahlen Morgendämmerung grinste Ferdinand wölfisch vor sich hin. Das war alles blanker Unsinn, der Alte wurde langsam wunderlich. Dickköpfig waren die Geislers alle. Für einen Augenblick überkam Ferdinand der Zorn auf die aufsässige Tochter Lydia, mit der er ein ernstes Wort reden musste. Dass auch der Sohn Siegfried, auf den er alle seine Hoffnungen setzte, an eine golden verklärte Zukunft glaubte, statt das gesunde bäuerliche Misstrauen der Geislers zu empfinden, schmerzte ebenso. Wie es mal mit dem Hof enden sollte, war Ferdinand unklar. Der Junge, so kräftig er zupacken konnte, war eigentlich kein Bauer. Ein Grübler und Stubenhocker eher, der Stunden über Büchern verbrachte und gerne zeichnete. Kein Wunder, dass er keine passende Frau gefunden hatte. Ihm fehlte einfach der Sinn für die harte Realität des Lebens. Der Krieg und das Lazarett hatten nichts daran geändert.
Viel lieber hätte es Ferdinand gesehen, an diesem Morgen von Siegfried begleitet zu werden. Er war nun fast am Rauber angelangt, der sich rechts von ihm als ein dunkler Riegel gegen das Himmelsgrau abhob. Hinter den Büschen und Bäumen, die bis an den Fahrweg heranreichten, bog der helle Sandstreifen nach Osten ab und führte auf die Chaussee zu. Hier verlief die Landesgrenze, und hier war der Ururahn erschlagen worden.
Die Feuchtigkeit war in einen leichten Nieselregen übergegangen. Ferdinand schlug den Kragen seiner derben Joppe hoch und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Wahrscheinlich bemerkte er deshalb die Gestalt nicht, die im Buschwerk kauerte und mit drei Sätzen hinter ihm war. Er spürte nur den grellen Schmerz tief unter dem linken Schulterblatt und dann ein beinahe beruhigendes Gefühl, als ströme alle Körperflüssigkeit zu einem einzigen Punkt. Blendend hell wurde es vor seinen Augen. Der Schnee, dachte er. Und dann nichts mehr.