Читать книгу Katzmann und das schweigende Dorf - Jan Eik - Страница 7
ZWEI
ОглавлениеMISSBILLIGEND, ja fast anklagend blickte Harry bei jeder tiefen Pfütze und bei jeder Unebenheit aus dem schwankenden Beiwagen zu Konrad auf. Der konnte sich nicht auf die gekränkten Empfindungen seines Passagiers konzentrieren, erforderte der zerkarrte Fahrweg doch seine ganze Aufmerksamkeit. Zwei Tage lang hatte es fast ununterbrochen geregnet, und so sah die Straße von Meffersdorf nach Berkersbach auch aus.
Konrad Benno Katzmann hielt auf die weithin sichtbare Pappel zu, die seit jeher die Zufahrt nach Wulkersbach markierte. Denn die unbefestigte Straße, die sich in zwei weiten Schleifen durch den Ort wand, führte zu ebendieser Pappel zurück und nirgendwo sonst hin. Es gab noch ein blindes Ende zum Gerstnerschen Gehöft auf der jenseitigen Anhöhe und ein weiteres geradeaus zum Waldhang, an dessen Grund der Wulkersbach romantisch dahinrauschte, solange er kein Hochwasser führte, wie jetzt vermutlich.
Der Zustand des Fahrwegs und die beleidigte Reaktion seines Begleiters hielten Konrad nicht davon ab, sich auf Wulkersbach zu freuen. Er war mindestens zwei Jahre nicht in dem beschaulichen Örtchen gewesen, mit dem ihn viele Erinnerungen verbanden. Angenehme zumeist. Deshalb hatte er den kleinen Umweg eingeplant. Er kam aus Zwickau, wohin ihn die Berichterstattung über den Prozess gegen einen Spritschieber für drei Tage verschlagen hatte. Gleich nach der Urteilsverkündung war es ihm gelungen, seinen Abschlussbericht telephonisch nach Leipzig zu übermitteln, und Eugen Leistner hatte ihn gebeten, bei Gelegenheit in Leipzig vorbeizuschauen, es gäbe da einiges zu bereden, was sich schlecht zwischen den knatternden Unterbrechungen über die Fernsprechleitungen mitteilen ließ.
Eugen Leistner war der für ihn zuständige Redakteur der Leipziger Volkszeitung, Konrad Katzmann deren Dresdner Korrespondent und Harry sein treuer und an das Motorradfahren gewöhnter Terrier, den er im November 1918 aus der Elbe gerettet hatte und der ihn seitdem begleitete. Auch nach Zwickau und jetzt nach Wulkersbach, das von der einsamen Pappel an der Wegkreuzung aus gut zu überblicken war.
Konrad drosselte die ohnehin geringe Geschwindigkeit seiner 1000er NSU und hielt auf der dürftigen Grasnarbe zwischen dem steinernen Wegweiser und der Pappel. Harry belohnte ihn mit einem dankbaren Blick. «Wir sind gleich da», beruhigte ihn Konrad. Nur ein paar Hundert Meter weiter lag sein Ziel in einer kleinen Senke, der Geislersche Hof. Das vierte Gehöft von siebzehn, aus denen Wulkersbach bestand - sah man von der Schmiede, dem Dorfkrug und dem schmalen Haus des Küsters ab. Und von der anscheinend frisch geweißten Kirche mit dem schiefergedeckten Zwiebelturm, die aus dem Talgrund heraufleuchtete.
Von hier oben machte das Dorf einen überaus friedlichen und gepflegten Eindruck, was Konrad nur im ersten Augenblick verwunderte. Vor einigen Jahren hatte es anders ausgesehen, als die Männer an der Front lagen und die städtische Wohlhabenheit noch nicht den Weg aufs Land gefunden hatte. Vielleicht gab das Thema einen Artikel her.
Im gleichen Moment fiel Konrad ein, dass er sich in Thüringen befand, wenn auch im äußersten Zipfel. Die Bauern, die sich selber gerne als Gutsbesitzer titulierten, lasen vermutlich den Osterländischen Heimatboten oder das Altenburger Wochenblatt - keinesfalls die Leipziger Volkszeitung. Und das Gesinde, so es denn überhaupt Zeit und Muße zu einer nutzlosen Beschäftigung wie Lesen fand, würde es nicht wagen, ein rotes Blatt in die Finger zu nehmen.
Konrad putzte seine Brille und hakte sie wieder hinter den Ohren fest. Je länger er aus seinen eisvogelblauen Augen auf das Dorf schaute, desto befremdlicher schien ihm die Stille, die über der hügeligen Landschaft lag. Heute war ein normaler Wochentag im März. Unterwegs waren überall die Gespanne mit Pflug und Egge über die Äcker gezogen, hatte reges und lautes Leben in den Dörfern geherrscht. Hier jedoch lag die Flur menschenleer und stumm. Aus dem Tal drang nur das Rauschen des Wassers.
Harry sah ihn erwartungsvoll an. «Na, da wollen wir doch mal sehen, was hier los ist!», sagte Konrad munter und ließ den Motor kraftvoll bullern. Mit einem Ruck setzte sich das schwere Gespann in Bewegung. Doch statt sein Ziel geradewegs anzusteuern, wandte sich Konrad nach rechts, wo die leicht abschüssige Dorfstraße an mehreren Gehöften vorbei zum Dorfteich führte. Es handelte sich eigentlich um den Marquardtschen Teich, der zum größten Gehöft des Dorfes gehörte, das sich abseits auf einer flachen Anhöhe ausbreitete. Der alte Marquardt, der weitaus reichste Grundbesitzer im Umkreis, wurde nie müde, sein Besitzrecht an dem Teich zu betonen, der in normalen Zeiten den Wulkersbach anstaute. Jetzt war er randvoll und drohte, sich über Straße und Brücke hinunter ins Unterdorf zu ergießen, wie es Konrad einmal erlebt hatte. Etliche Jahre lag das zurück. Der Schnee hatte damals hoch gelegen, und die Kinder vergnügten sich auf dem Eis, darunter auch Marquardts Sohn. Dann war die Schneeschmelze gekommen. Das Wasser überflutete die Dorfstraße und riss den hölzernen Steg hinter der Schmiede mit sich. Ein zweites Mal war das mitten im Sommer passiert, nach einem schweren Gewitter über den südwestlichen Anhöhen vor dem Dorf.
Während Konrad in gemächlichem Tempo an den Gehöften vorbeirollte, deren hölzerne Tore sämtlich verschlossen waren und von denen eine geradezu gespenstische Stille ausging, dachte er darüber nach, was in diesem schweigenden Dorf wohl geschehen sein mochte. Selbst der Marquardtsche Hof drohte lautlos von der Anhöhe herab, bis endlich das Kläffen eines Hundes die Stille zerriss. Sofort meldeten sich auch die anderen Dorfköter. Gespannt zitternd richtete sich Harry im Beiwagen auf. Konrad fuhr ihm beruhigend mit der behandschuhten Rechten über den Kopf. Dass es mit dem Terrier im Dorf Schwierigkeiten geben könnte, hatte er nicht bedacht.
Die Dorfstraße, in leidlich besserem Zustand als die Fahrwege ringsum, bog nach links ab auf Friedhof und Kirche zu. In der Kirche war Konrad seit langem nicht gewesen. Doch hatte er es bei keinem seiner Besuche im Dorf versäumt, ein bestimmtes Grab auf dem Kirchhof zu besuchen und Blumen zu hinterlassen. Über die Jahrzehnte vergaß er nicht, dass ihm hier in Wulkersbach zum ersten Mal in seinem Leben der Tod begegnet war. Das Bild des weißen Sarges, auf den die Erdschollen polterten und in dem sein Freund Rainer lag, von einem unachtsam gefällten Baum erschlagen, gehörte zu Konrads prägenden Kindheitserinnerungen. Rainer war der einzige Sohn des Gastwirts vom Wulkersbacher Krug gewesen.
Er fuhr am Friedhof vorbei. Für den Besuch an Rainers Grab blieb ihm immer noch Zeit. Aus der gegenüberliegenden Schmiede drang seltsamerweise kein Laut. Auch hier war das breite Tor geschlossen, durch das er dem Schmied hundertmal bei der Arbeit zugesehen hatte. Vom Geislerschen Hof oben am Hang führte ein Fußpfad über die Weide hinunter und über den Bach, der jetzt gefährlich gurgelnd neben der Straße her schoss. Waren die Bauern der Hochwassergefahr wegen unterwegs? Dann hätte er ihnen auf der Straße nach Meffersdorf begegnen müssen, von dorther kam der Wulkersbach.
Allmählich war Konrad richtig gespannt, wie sich das Rätsel um das schweigende Dorf lösen würde. Im Dorfkrug jedenfalls, von jedermann nach der ehemaligen Wirtin nur «Die Rose» genannt, steckten die Bauern nicht. Auch dort war die stets einladend offene Tür geschlossen, ja, die ganze Rose wirkte so abweisend, als befände sich hier gar kein Wirtshaus.
Nun ja, der Krieg und die Revolution hatten vieles verändert, selbst in einem gottverlassenen Nest wie Wulkersbach. Er war in den letzten Jahren selten hier gewesen, und dann nur in Eile und Hast. Hatte es nicht geheißen, der Rose-Wirt sei an der Somme vermisst?
Vergebens versuchte Konrad sich zu erinnern. Außerdem war das im Augenblick unwichtig. Der lehmige, vom Regen ausgewaschene Weg hinauf zur oberen Dorfstraße erforderte sein fahrerisches Können und alle 8 PS der NSU. Und ausgerechnet da kam ihm auf halber Höhe jemand entgegen. Ein mageres Weiblein vor einem kleinen Leiterwagen, auf dem sonst Milchkannen oder das Ziegenfutter transportiert wurden und den sie nicht ziehen musste. Vielmehr schob das mit Knüppelholz beladene Gefährt, das die Frau angestrengt zu bremsen versuchte, sie den abschüssigen Weg hinunter direkt auf Konrad zu. Erst in letzter Sekunde gelang es ihm, den Seitenwagen mit einem kühnen Schlenker über den wulstigen Wegrain hinweg, haarscharf am Weidezaun entlang und wieder auf den glitschigen Weg zurück zu lenken. Harry bellte erschrocken, und noch erschrockener verlor das Weiblein die Geistesgegenwart und ließ die Wagendeichsel fahren. Die bohrte sich in die Böschung, und das labile Wägelchen stürzte um.
Konrad hatte die Frau nicht erkannt. Er hätte ihr gerne geholfen, bezweifelte jedoch, auf dem seifigen Untergrund der steil ansteigenden Piste jemals wieder Halt zu finden. Deshalb setzte er die Fahrt fort. Oben angekommen, blickte er zurück. Die Frau war dabei, das Holz zu verstauen, und drohte ihm mit der erhobenen Faust. Konrad hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste, worauf das Geräusch des Motors erstarb. Alle Versuche, ihn wieder in Gang zu setzen, scheiterten. Wahrscheinlich war irgendwo Wasser eingedrungen.
Das war ein netter Anfang! Bis zum Geislerschen Gehöft lagen nur ein paar Hundert Meter vor ihm, die er schiebend bewältigte, vom fröhlich bellenden Harry umsprungen. Dessen Gekläff wurde aggressiver, als auf Konrads Klopfen hinter dem geschlossenen Hoftor die rauen Töne eines größeren Artgenossen hörbar wurden.
Konrad setzte Harry in den Seitenwagen zurück und ermahnte ihn zur Ruhe. Harry knurrte nur, worauf der Hofhund mit dumpfen Unmutslauten und dem Rasseln seiner Kette reagierte.
Kopfschüttelnd hob Konrad den Türriegel des kleineren Tors neben dem großen. Dieser Zugang wurde abends als letzter versperrt, wenn sicher war, dass sich alles Vieh und alle Bewohner in Haus und Hof befanden. Jetzt war auch dieses Tor verriegelt, und es nutzte nichts, dass Konrad mit der Faust dagegen schlug und rief: «Hallo! Ist denn niemand zu Hause?»
Jemand von der Familie und dem Gesinde musste doch daheim sein: die kräftige Magd Elsa, der schwachsinnige Knecht Gottlieb oder die Großmutter Ernestine, die Konrad nie außerhalb von Küche, Hof und Garten angetroffen hatte. Aber natürlich: das Gartentor! Zwischen Haus und Stallgebäude gelegen und der talwärts liegenden Weide zugewandt, wurde es nie verriegelt.
Sicherheitshalber klopfte er noch einmal energisch an die Pforte und vernahm neben dem Hundegrollen plötzlich doch so etwas wie menschliche Laute. «Niemand da …», schien es zu heißen. Das konnte nur Gottlieb sein, den man als Stallwache zurückgelassen hatte.
«Gottlieb!», rief Konrad laut. «Ich bin’s, der Konrad aus Dresden. Du kennst mich doch!»
Undeutliches Gebrabbel. Immerhin näherten sich schlurfende Schritte. «Konrad? Von Dresden?», erkundigte sich Gottlieb zweifelnd in seiner schwerfälligen Aussprache. «Es is … äh … niemand im Hause …»
Den Satz hatte man ihm vermutlich eingetrichtert. Er stand jetzt hinter dem Tor und spähte durch die schmale Ritze zwischen der Tür und dem massiven Sandsteinpfeiler. Konrad tat es ihm gleich.
Gottlieb, den er seit über zwanzig Jahren kannte, sah unrasiert aus wie eh und je und schien keinen Tag gealtert.
«Was ist denn los bei euch?», fragte Konrad ungeduldig.
«Niemand da …», wiederholte Gottlieb unsicher. «Alle fort.»
«Wo sind sie denn hin?»
«Du warst schon mal hier.» Gottlieb hatte ihn erkannt. «Konrad! Von Dresden. Große Stadt. Wohnt der König.»
«Ja, sicher. Wo ist denn die ganze Familie?»
In Gottliebs Gesicht arbeitete es. Seine Augen blinzelten.
«Friedhof!», stieß er schließlich hervor und lachte erleichtert.
Konrad war befremdet. «Auf dem Friedhof?», vergewisserte er sich. «Ist jemand gestorben?»
Er hatte dem Friedhof keine besondere Beachtung geschenkt. Eine größere Personengruppe wäre ihm aufgefallen.
Gottlieb antwortete nicht. Konrad wusste, dass man energisch mit ihm reden musste, wenn der arme Kerl einen verstehen sollte.
«Nun mach bitte das Tor auf, und erzähl mir, wer hier gestorben ist!», forderte er freundlich, aber bestimmt.
Der Knecht wand sich. «Soll Gottlieb nicht. Gar keinen Fall …»
«Na schön. Wer ist gestorben?»
Gottlieb blinzelte, als blende ihn die Sonne. «Mit dem Messer!», sagte er dumpf. Er hob die kräftigen Arme, als drohe er jemandem.
«Im Rauber …» Er schlug die Hände vors Gesicht.
Konrad verstand nicht. Da gab es irgendeine uralte Geschichte um einen Mord am Rauber, das wusste er. Wie kam Gottlieb ausgerechnet jetzt darauf?
«Wer ist denn tot?», fragte er eindringlich.
Hilflos hob Gottlieb die Schultern. «Alle auf dem Friedhof …», war alles, was er stammelte.