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DREI

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WACHTMEISTER ARTHUR FIALLA war eine schwergewichtige Persönlichkeit, deren Statur in keinem Verhältnis zur Bedeutung seines amtlichen Charakters stand. Er war klein und dick, ja rund, und er war der zuständige Kreispolizeiposten in Rohnsdorf. Lange herzogliche Jahre hindurch hatte er die Position ohne Beanstandung bekleidet, die sogenannte Revolution ebenso verständniswie klag- und folgenlos über sich ergehen lassen, sah man von der allgemeinen Geldentwertung ab, und er hatte sich plötzlich als Kreispolizeiposten im kurzlebigen Freistaat Sachsen-Altenburg wiedergefunden, der mit seiner Gebietsregierung nach knapp anderthalb Jahren im Land Thüringen aufging. Bis zum April ’22 sollte der neue Verwaltungsaufbau endgültig abgeschlossen sein, aber es sah nicht danach aus.

Radelte Fialla auf seinem Fahrrad durch die Dörfer des Amtsbezirks, ging ihm der Ruf voraus: «Itze gimmt Guchelblitz», was der Wahrheit nahekam. Auch Kugelblitze bewegten sich eher gemächlich, bevor sie explodierten.

Neben seinem dicken, in abgegriffenes Schweinsleder gebundenen Notizbuch verfügte Kugelblitz Fialla über ein allmählich nachlassendes Gehör, ein immer noch scharfes Auge und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Jenen verregneten Donnerstag, dessen war Fialla sicher, würde er für alle Zeiten in allen Einzelheiten in seinem Erinnerungsfundus speichern.

Natürlich kam die Schreckensnachricht, der er anfangs kaum Glauben schenken wollte, aus Wulkersbach. Meienberg, Guckenheim und Wulkersbach, die östlichen Grenzdörfer seines Amtsbereichs erfreuten sich seines besonderen Verdrusses, gelangte er doch angesichts der Wegverhältnisse und der kaum je nachlassenden Schmerzen in seinem geschwollenen Knie nur selten in diese Ortschaften, deren Bewohner er gerade deswegen anhaltender Gesetzesbrüche verdächtigte: Betrug bei den vorgeschriebenen Abgaben, heimliches Schlachten und Buttern, Schleichhandel aller Art und was die trüben Nachkriegszeiten sonst mit sich brachten.

Als ihn daher an jenem Donnerstagmittag die Telephonglocke aus tiefstem Nachdenken über den beklagenswerten Zustand des Gemein- und Polizeiwesens im Landkreis Altenburg riss und eine aufgeregte Stimme ihm mitzuteilen versuchte, der Gutsbesitzer Ferdinand Geisler aus Wulkersbach, seit nunmehr zwei Tagen aus seiner Wirtschaft abgängig, sei ermordet im Grenzwald vor Berkersbach aufgefunden worden, brauchte er einige Zeit, die volle Tragweite des Geschehens zu erfassen.

Umständlich schnallte er das Koppel mit der Dienstwaffe 08 um den gewichtigen Leib, schlüpfte mit Hilfe seiner Frau Ottilie, die nicht einmal die Hälfte seines Gewichts auf die Waage brachte, unter die Regenpelerine, befestigte den Säbel an dem von den Jahren wie von den Wegverhältnissen gezeichneten Fahrrad, auf das er sich mit einiger Mühe schwang, und schlug den von tiefen Spurrinnen durchzogenen Weg gen Wulkersbach ein.

Es regnete ohne Unterlass. Triefend verschnaufte Fialla an der Dorfpappel. Sollte er sich gleich ins Dorf hinunter begeben, aus dessen Gasthof ihn die Meldung erreicht hatte, um eventuelle Zeugen zu hören, oder erst den Tatort und den Toten in Augenschein nehmen?

Er war lange genug Polizist und kannte seine Pflichten. Seufzend setzte er seinen feuchten Weg in Richtung Rauber fort, den er in mäßigem Schritttempo nach zwanzig Minuten erreichte. Von einem Tatort oder einem Toten war weit und breit nichts zu entdecken, sah man von den frisch eingegrabenen Pferde-, Wagen- und Rangierspuren eines Fuhrwerks ab, mit dem man möglicherweise den Toten abtransportiert hatte - wenn es wirklich einen gab.

Der Weg beschrieb eine Kurve um das Wäldchen herum und war an dieser Stelle etwas breiter. Fialla lehnte das Rad gegen einen Baum nahe dem Grenzstein und drang in das Gehölz ein. Tatsächlich erspähte sein geübter Blick bald in einiger Entfernung eine verdächtige Vertiefung und daneben einen Reisighaufen, den jemand erst kürzlich auseinandergerissen hatte. Hatte der Tote hier gelegen? Verschiedene Stiefeleindrücke und Schleifspuren deuteten darauf hin, dass etwas Schweres bewegt worden war.

Die Grube oder Rinne zu seinen Füßen, kaum dreißig, vierzig Zentimeter tief, war halb mit fauligem Laub und Grasresten gefüllt. Fialla verspürte wenig Lust, in dem nassen Unrat herumzuwühlen. Immerhin griff er aus dem herumliegenden Gestrüpp einen stärkeren Haselzweig und fuhr damit erfolglos in der Vertiefung herum, bis er schließlich doch gegen einen festen Gegenstand stieß, den er mit einiger Mühe aus dem feuchten Unrat klaubte. Sieh an, eine Patronenhülse, dachte er im ersten Augenblick, bevor er das angelötete Rädchen und den Docht an dem fingerlangen Ding entdeckte. Ein Feuerzeug, wie es sich Soldaten im Krieg angefertigt hatten. Ferdinand Geisler, das wusste Fialla, hatte nicht im Feld gestanden.

Umständlich kramte Fialla sein Notizbuch unter der Pelerine hervor. Hoffnungslos! Der stetig fallende Regen weichte jeden mit dem Kopierstift geschriebenen Buchstaben sofort zu einem violetten Fleck auf. Also verstaute er das Buch und sah sich noch einmal gründlich um. Jedes Detail galt es sich einzuprägen, wenn schon dieses unwissende Bauernvolk hier alles zertreten und den Toten einfach davongeschleppt hatte. Denen würde er gehörig den Marsch blasen, sollte es sich wirklich um einen Mord handeln!

Er richtete sich auf und blickte zu seinem Fahrrad zurück. Bis dahin, zur Wegbiegung und zum Grenzstein, mochten es etwa sechzig Meter sein, bevor sich der Fahrweg auf zwanzig Meter an seinen Standort heranschlängelte und sich am Ende des Raubers gen Norden und damit endgültig ins Sächsische wandte.

Fialla merkte auf und versuchte, genaue Peilung zu seinem Rad aufzunehmen. Seine ausgestreckten kurzen Arme bildeten einen angenommenen rechten Winkel. Freilich guckten unter der triefenden Pelerine nur die Fingerspitzen hervor. Was er dennoch nahezu zweifelsfrei feststellte, erleichterte ihn einerseits, ließ ihn allerdings auch kommendes amtliches Ungemach befürchten: Die Grube, in der wahrscheinlich oder möglicherweise der Tote aufgefunden worden war, lag auf sächsischem Territorium.

In der Wulkersbacher Rose hing seit Vorkriegszeiten der einzige und öffentliche Telephonanschluss des Ortes an der Wand neben der Theke: ein Brett mit einer Glocke und einer gebogenen schwarzen Sprechmuschel, die sich je nach Größe des Gesprächsteilnehmers um fünf bis zehn Zentimeter in der Höhe bewegen ließ. Dazu eine Kurbel und der an einer meterlangen geflochtenen Kordel befestigte Hörer mit Griff und Aufhängung. Von hier aus hatte man Fialla verständigt.

Inzwischen wartete in der Rose ein Großteil der männlichen Dorfbevölkerung ungeduldig auf das Erscheinen der fernmündlich verständigten Amtsperson. Das eine oder andere Fläschchen Bier und ein paar Schnäpse waren angesichts des Unglücks und der Wartezeit bereits getrunken. Alle Augen richteten sich auf Fialla, als der endlich mit steinerner Miene eintrat und sofort in scharfem Ton fragte: «Wer von euch hat Ferdinand Geislers Leiche gefunden?»

Niemand antwortete. Sie hatten inzwischen genügend Zeit gehabt, ohne abschließendes Ergebnis darüber zu streiten, ob es richtig gewesen war, Ferdinand Geislers Leiche so mir nichts, dir nichts ins Geislersche Gehöft zu schaffen, wie es die fassungslose Witwe Anni von ihnen verlangt hatte. «Soll er noch länger dort draußen im Regen liegen und verrotten?», hatte sie geschrien. «Der Fialla macht ihn mir nicht wieder lebendig!»

Nein, das lag außerhalb Fiallas Befehlsgewalt. Die reichte jedoch, den Bauern in einem dröhnenden Sermon das Ungesetzliche und darüber hinaus grenzenlos Unüberlegte ihres voreiligen Handelns vor Augen zu führen. «Also, wer hat die Leiche nun gefunden?», donnerte er am Schluss seiner Ausführungen.

Wieder Schweigen. «Der kleine Gunther war’s», quäkte schließlich der Postbote, der nie den Mund halten konnte. «Der hat ihn von Anfang an im Rauber gesucht.»

«Und weshalb habt ihr ihn nicht an Ort und Stelle liegen lassen, bis der zuständige Beamte …» Er machte eine lange Pause, dehnte sie geradezu ungebührlich aus. «… aus Penig ihn in Augenschein genommen hat?»

«Aus Penig?», fragte sofort der alte Marquardt über das Gemurmel hinweg. «Der Ferdinand ist hier im Dorfe daheim.»

Fialla, der die Pelerine abgelegt und sein Notizbuch hervorgebuddelt hatte, sah sich streng um. «Seine Leiche lag in Sachsen. Punktum. Also sind die dort drüben zuständig.»

«Das könnte dir so passen, Kugelblitz!», sagte eine verächtliche Stimme aus dem Hintergrund. Der Mann gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sprechen oder sich zu verstecken.

Fialla kannte das schon. Frecher Widerspruch begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Bis vor ein paar Jahren wäre eine solche Unverschämtheit einem herzoglichen Beamten gegenüber weder möglich gewesen noch ungesühnt geblieben. Heute zog er es vor, darüber hinwegzuhören, ja gewissermaßen sogar klein beizugeben, indem er beinahe höflich hinzufügte: «Das ist sozusagen der amtliche Standpunkt, versteht ihr?»

«Greif du lieber den Mörder!», forderte die gleiche Stimme. Sie gehörte dem Hainich-Diethmar, keinem der ganz Kleinen im Dorf und Kirchenvorsteher noch dazu. Ein Mann, der gerne widersprach und überdies mit den Gesetzen mindestens so gut vertraut war wie Fialla selber. Vermutlich sogar besser.

Dem blieb nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. «Das wäre mir ein Leichtes gewesen, hättet ihr nicht alle Spuren zertrampelt wie’s liebe Vieh!»

«Da waren keine Spuren. Es strippt seit zwei Tagen, dazu das Tauwetter …» Der Rest ging in der allgemeinen Unruhe unter.

Fialla wusste, dass die Bauern wahrscheinlich recht hatten. Dennoch hob er belehrend den dicken Zeigefinger. «Das hat einzig und allein das Untersuchungsorgan zu entscheiden. Nicht ihr!»

«Aber keiner aus Penig oder Rochlitz!» Das war wieder der vorlaute Hainich.

Unaufgefordert war die Rose-Wirtin mit einem gutgefüllten Gläschen in der Hand vor Fialla aufgetaucht, nach dem er reflexartig griff, bevor er seinen Fehler erkannte. Kein Alkohol im Dienst, läutete es unter seinem Tschako. Und keinerlei Blöße vor etwaigen Zeugen! Dabei hatte der vertraute Wohlgeruch der wasserklaren Flüssigkeit bereits seine geweiteten Nasenlöcher erreicht, so dass ihm gar keine Wahl mehr blieb und er das Zeug mit einer ruckartigen Bewegung in sich hineingoss, Pflichtgefühl hin oder her.

Die Bauern registrierten es mit zustimmendem Gemurmel. Gleich war man sich ein wenig näher, und Fialla vermerkte insgeheim als eventuelle Ausrede, dass ohne ein solches Exempel altdeutsch-völkischer Gemeinschaft keinerlei Zeugenaussage von der widerspenstigen Dorfbevölkerung zu erwarten gewesen wäre.

Das Ergebnis seiner Befragung blieb dennoch dünn. Niemand aus dem Kreis der Gutsbesitzer und Abspannbauern, der offenen Freunde und heimlichen Feinde, Neider und Konkurrenten, Schwäger, Cousins und weitläufigeren Verwandten, die sie ja alle waren, wollte sich vor den Augen und Ohren von so viel Zeugen, und noch dazu vor dem schwatzhaften Postboten und der Rose-Wirtin, zu eventuellen Hintergründen der schrecklichen Tat oder auch nur zur Person oder Familie des Toten äußern.

«Sprich mit dem Siegfried. Besser noch mit dem alten Heinrich», riet man Fialla, der nicht mehr erfuhr, als dass Ferdinands jüngster Sohn Gunther den seit zwei Tagen vermissten Vater im Rauber gesucht und endlich in jener mit Laub und Reisig überdeckten Senke gefunden hatte. Auf seinen gellenden Alarm und die klagenden Vorwürfe der Witwe hin sei eine Gruppe entschlossener Männer hinaus zum Rauber gefahren, um die Leiche zu bergen. Erst in der Geisler’schen guten Stube, wo man sie aufzubahren gedachte, sei die Stichverletzung im Rücken entdeckt worden, die vermutlich zu Ferdinand Geislers Tod geführt hatte. Und erst dann war jemand in die Rose geeilt, um die Polizei zu verständigen.

An Vermutungen über den Täter fehlte es nicht: herumziehende Zigeuner, verdächtige Waffenschmuggler, versprengte Reste der Hoelz’schen Banden aus dem Vogtland - auf gar keinen Fall jemand aus dem Dorf. In Wulkersbach gab es keine Mörder.

Katzmann und das schweigende Dorf

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