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Rund um die Marienkirche

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Totentanz und Sühnekreuz

Die Berliner gelten von jeher als ein unruhiges und unzufriedenes Volk. Sie selber behaupten natürlich, dass erst die Zugewanderten Unruhe in die teils sandige, teils sumpfige Wüstenei der Schwesterstädte Berlin und Cölln brachten. Andererseits – was wäre aus Berlin (die Insel Cölln immer einbezogen) ohne die Neuankömmlinge aus allen Teilen des Reiches, aus Holland, Frankreich und der Schweiz, aus Polen, Litauen und Böhmen geworden? Nichts. Nicht einmal eine Millionenstadt – und die war Berlin schon am Ende des 19. Jahrhunderts – reproduziert ihre Einwohnerschaft aus eigenen Ressourcen. Wer weiß heute noch, dass um 1860 zu den 19 Millionen Preußen auch 2,5 Millionen Einwohner nichtdeutscher Nationalität zählten? Daran mussten sich die Berliner gewöhnen, die den wendischen Ureinwohnern der umgebenden Mark nicht einmal das Bürgerrecht eingeräumt hatten. Bürger konnte nur werden, wer zum städtischen deutschen, zum Teil adligen Patriziat und – eine Stufe niedriger – zu den Handwerksmeistern, Kaufleuten und anderen Besserverdienenden gehörte.

Auf jeden Fall waren die alten Berliner fromm und gottesfürchtig. Beides wiederum nicht allzu sehr. Fromm genug immerhin, um zu Ehren Gottes hohe Kirchen zu bauen, viel höher als jedes bürgerliche oder adlige Haus und vollständig aus Stein, während man selber in hölzernen oder Lehmfachwerk-Bauten hauste. Von diesen zumindest in hygienischer Hinsicht wahrhaft schaurigen Baulichkeiten ist keine mehr zu finden in der Stadt. Die Kirchen aber stehen noch, soweit sie nicht durch Feuers- oder Kriegsbrunst und Abriss vernichtet wurden, wie mehrfach die Cöllnische Petrikirche, über deren Standort und einstigen Kirchhof sich heute der Verkehr zwischen Mühlendamm und Gertraudenbrücke zehnspurig ergießt. Aber das soll sich – wie so vieles in Berlin – bald wieder ändern.

Fliegende Baumeister und Chorknaben

Die ältesten Berliner Kirchen sind die Nikolai- und die Marienkirche. In der Marienkirche entdeckte man 1860 eine Wandmalerei aus der Pestzeit um 1485, einen 22 Meter langen Totentanz. Seltsamerweise aber erinnern die Berliner Sagen und Geschichten, die sich um das Bauwerk ranken, mit keinem Wort an diesen schaurigen Zug, sondern vielmehr an das unscheinbare Steinkreuz, das links neben dem Eingang der Kirche steht. Da soll beispielsweise ein braver Dachdecker abgestürzt sein, an den das Kreuz erinnert. Vielleicht aber auch an den Baumeister, der sich mit dem Teufel einließ, um diese besonders schöne Kirche zu errichten. Als Beelzebub sich am Tag der Fertigstellung die versprochene Seele abholen wollte, stand der Baumeister auf dem Turm und sprach ein Dankgebet. Da verlor der Teufel seine Macht über ihn und stieß ihn voller Wut vom Turm. Ein Windstoß erfasste jedoch seinen weiten Mantel, so dass er sanft herabschwebte und unverletzt unten ankam. Zum Dank ließ er das Kreuz errichten.

Dieses Kreuz beschäftigte die Berliner in geradezu verdächtiger Weise; als Grund für seine Errichtung wurden vielerlei Geschichten erfunden, in denen der Teufelspakt des Baumeisters häufig eine Rolle spielt. Nach einer anderen, zumindest in der Einleitung recht realistischen Version soll der Meister die Baugelder beim Kartenspiel verloren und deshalb den Pakt geschlossen haben. Der Teufel gab ihm das Geld unter der Bedingung, dass ein absichtlicher Fehler beim Bau der Gewölbe am Einweihungstag zu deren Zusammensturz führe. Der Baumeister, oberschlau wie manche Leute sich nun einmal dünken, wollte den Teufel übers Ohr hauen und vermied jeden Fehler. Satanas lauerte ihm nach der Einweihung hinter dem Kirchenportal auf, griff sich den Wortbrüchigen und drehte ihm den Hals um. Zum Andenken an den getreuen Baumeister stifteten die dankbaren Berliner das Kreuz.

Oder geht es doch gar nicht um den Baumeister? Vielleicht gilt das Kreuz dem Zinkenbläser, der am ersten Sonntag nach der Vollendung der Kirche auf den Turm stieg und dort oben ein Lied zur Ehre Gottes blies. Den Teufel ärgerte das fromme Lied so sehr, dass er den Musikanten vom Turm stieß. Da blähte ein Windstoß dessen Mantel auf … Den Rest kennen wir vom Baumeister.

Von besonderem Einfallsreichtum zeugt die Fassung mit den drei hungrigen Chorknaben, die aus ganz irdischen Gründen auf den Turm stiegen, um Krähen- oder Dohlennester auszunehmen. Sie legten ein Brett aus der Turmluke, auf dem der eine mit einem Körbchen hinauskroch, während die beiden anderen als Gegengewicht im Turm hockten.

Die Eiersammlung muss sich gelohnt haben, denn unversehens gerieten die drei in Streit über die Aufteilung der Beute. Der mutige Eierdieb beanspruchte die Hälfte, die Bretthalter verlangten je ein Drittel, und um ihre Macht zu demonstrieren, sprangen sie vom Brett. Der aushäusige Knabe stürzte samt Brett in die Tiefe, segelte aber dank seines weiten Chorhemdes so sanft zu Boden, dass nicht einmal die Eier im Körbchen Schaden nahmen.

So weit die Sagen um das Steinkreuz. In Wahrheit hatten die alten Berliner mehr zu verstecken, als unter das Mäntelchen eines nesträuberischen Chorknaben passt. Im 14. Jahrhundert dräute der Kirchenbann über der Stadt, und daran waren deren ach so fromme Bewohner ausnahmsweise selber schuld. Zwischen den Einwohnern der Doppelstadt und ihren geistlichen Herren und Hirten bestand nie ein besonders inniges Verhältnis, die Berliner (die Cöllner immer stillschweigend eingeschlossen) hassten »der Pfaffen Gierigkeit und Unkeuschheit« und liefen nicht von ungefähr 200 Jahre später spornstreichs zu Luther über.

Propst Nikolaus

Das Ereignis, von dem das schlichte Steinkreuz neben dem Kirchenportal noch heute zeugt, hatte für damalige Verhältnisse einen weltpolitischen Hintergrund. Die in jenen Jahren im Babylonischen Exil in Avignon residierenden Päpste mischten sich schon damals gerne in die deutsche Innenpolitik ein und versuchten, Könige und Kaiser nach ihrem Gusto einzusetzen. Jakob de Oza, der sich 1316 selbst zum Papst Johannes XXII. ernannt hatte, wollte Friedrich den Schönen aus dem Hause Österreich zum deutschen König machen, während die deutschen Fürsten und die Bürger in den Städten den späteren Kaiser Ludwig von Bayern bevorzugten. Ludwig belehnte nach dem Tod des letzten askanischen Markgrafen Woldemar seinen achtjährigen Sohn mit der herrenlosen Mark Brandenburg. Der Heilige Vater hingegen sprach die Mark, die ihm nicht gehörte, dem Herzog Rudolf von Sachsen zu und verbot bei Androhung des Kirchenbanns allen märkischen Untertanen, einem anderen Landesherrn zu gehorchen. Der Berliner Rat ergab sich 1321 wahrscheinlich nicht ganz freiwillig dem mit den Askaniern verwandten Rudolf, »dem aber ein großer Teil der Bürgerschaft nicht geneigt gewesen zu sein scheint«.

Der Papst beließ es nicht bei drohenden Worten, sondern schickte 1325 den als Königshasser bekannten Bischof Stephan von Lebus zusammen mit Propst Nikolaus Cyriakus von Bernau zum Polenkönig, um ihn zu überreden, in die Neumark einzufallen, was der brave Katholik prompt tat. Als Propst Nikolaus anschließend seinen Berliner Amtsbruder Propst Eberhard besuchte, war er darauf aus, auch den Berliner Rat im Sinne der Kirche und gegen das markgräfliche Kind Ludwig zu beeinflussen. Derlei Einmischung schätzten die Berliner nicht. Als Nikolaus sich in einer donnernden Predigt in der Marienkirche auch noch drohend für die Zahlung des Peterspfennigs starkmachte, lehnte er sich, wie man heute sagen würde, entschieden zu weit aus dem Fenster. Gleich nach der Predigt fielen die aufgebrachten Pfarrkinder mit Knüppeln über ihn her, erschlugen ihn auf der Stelle und verbrannten den Leichnam vor der Kirche auf dem Neuen Markt.

Berlin und Cölln hatten durch den daraufhin vom Magdeburger Erzbischof verhängten Bann »viel Verdrießlichkeit und Kosten zu erleiden«: Die Glocken verstummten, und die Kirchen blieben geschlossen, es fanden keine Taufen und Eheschließungen statt, den Sterbenden blieb die Letzte Ölung versagt. Da auch der Umgang mit den Gebannten verboten war und viele Kaufleute die Städte mieden, stockten Handel und Gewerbe. Nur die grauen Franziskaner in ihrem Berliner Kloster fügten sich nicht dem erzbischöflichen Interdikt, »dessen sich die Geistlichkeit, besonders der Bischof von Brandenburg bediente, die Städte auf schändlichste Art ums Geld zu bringen«. Der Bischof nahm 750 Mark Silber als Buße entgegen, verzettelte aber unter dem Vorwand, eine päpstliche Bulle wäre notwendig, die Sache bis 1345, indem er alle Bürger einzeln nach Brandenburg zitieren und jeden für die Absolution bezahlen ließ. Erst nachdem der Propst Gerwin zu Bernau und der Bruder des Erschlagenen mit beträchtlichen Summen abgefunden waren, erteilte er endlich 1347 die völlige Absolution. Der Vertrag forderte neben einem Altar in der Marienkirche ein mit einer ewigen Lampe versehenes Sühnekreuz von zwölf Fuß Höhe am Ort der Untat, etwa an der heutigen Ecke Spandauer-/Karl-Liebknecht-Straße, beim sogenannten »Lampenschmied«.

Das heutige Kreuz neben dem Kirchenportal misst kaum vier Fuß Höhe. Man nimmt an, dass es sich um eine spätere Replik des – vermutlich hölzernen – Originals handelt, das 1726 der Bebauung der Spandauer Straße weichen musste. Seitdem steht das Steinkreuz auf einem niedrigen Sockel am heutigen Platz.

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