Читать книгу In der Falle - Jan Eik - Страница 7
NEUE FEINDE
ОглавлениеDIE BEIDEN MÄNNER, die sich in dem repräsentativen Büroraum in der Prinz-Heinrich-Straße gegenübersitzen, sind alles andere als Freunde. Der eine, hinter dem pompösen Schreibtisch in einem bequemen Schreibsessel lümmelnd, trägt die schwarze Uniform der SS, der vor ihm auf dem Besucherstuhl ist in Zivil. Betrachtet man die beiden, so fallen vor allem ihre markant hervortretenden Nasen auf. Sie könnten Brüder sein. Brüder im Geiste sollten sie zumindest sein. Doch nicht einmal das sind sie.
Dem hinter dem Schreibtisch, Mitte dreißig, groß, blond und sportlich durchtrainiert, sieht man den Offizier an. Auch der andere ist um eine straffe Figur bemüht.
Der Jüngere, der einstige Marineleutnant Reinhard Eugen Tristan Heydrich, nennt sich nur noch Reinhard Heydrich und leitet seit sechs Jahren den SD, den geheimnisumwitterten Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Seit 1936 ist er außerdem Chef der Sicherheitspolizei im Deutschen Reich, die aus Gestapo und Kriminalpolizei besteht.
Sein Gegenüber ist der ehemalige Frontoffizier, Freikorpskämpfer und Kriminalkommissar Arthur Nebe, inzwischen der höchste Kriminalpolizist des Reiches.
Nebe hatte die Zeichen der Zeit beinahe ebenso frühzeitig erkannt wie sein ungeliebter Chef Heydrich, der sich nach seiner unehrenhaften Entlassung aus der Marine 1931 dem späteren Reichsführer SS Heinrich Himmler andiente, während Nebe im gleichen Jahr das Verbot missachtet hatte und förderndes Mitglied der SS, NSDAP-Mitglied und SA-Mann geworden war. In den vier Jahren seit der Machtergreifung ist er vom Kommissar im Raub- und Einbruchsdezernat zum Oberregierungs- und Kriminalrat aufgestiegen und leitet nach einem kurzen Einsatz im Amt der Gestapo das preußische Landeskriminalpolizeiamt.
Im Juni 1936 hat Hitler zu Nebes und der meisten Polizisten Entsetzen den Reichs-Heini Himmler zum Chef der Deutschen Polizei berufen. Kurz darauf wurde das LKPA endgültig aus dem Berliner Polizeipräsidium ausgegliedert. Unter Nebes Führung ist es nun für die fachliche Leitung der Kriminalpolizei aller deutschen Länder zuständig. Der könnte glücklich darüber sein, säßen nicht ausgerechnet Heydrich und der Hühnerzüchter Himmler über und sein Erzfeind Gestapo-Müller gleichrangig neben ihm.
Heydrich hat im SD seine eigenen Praktiken entwickelt, auf die er stolz ist und die er den konventionellen Kripo-Methoden vorzieht. Entsprechend wenig hält er von seinem höchsten Kripochef und dessen fachlicher Arbeit. Na schön, es gibt ein paar Erfolge wie die Aufklärung der Sprengstoffkatastrophe von Wittenberg, aber das sind Kinkerlitzchen, wenn Heydrich an den Autofallen-Terror denkt, der seit mehr als einem Jahr die Reichshauptstadt und ihre Umgebung beunruhigt. Der Führer selber, oft genug im Kraftwagen unterwegs, hat sich mehrfach negativ geäußert, der Reichsführer Himmler ist jedes Mal nahe einem Kollaps, kommt die Sprache auf die Banditen, und nun das: Am Vorabend des Ehrentages von Generaloberst Göring sind innerhalb einer Viertelstunde sieben Fahrzeuge mit insgesamt vierzehn Insassen, davon sechs bewaffnet, von zwei dreisten Räubern ausgeplündert worden.
«Erklären Sie mir mal, Nebe, weshalb kein Einziger von diesen Arschgeigen den Mumm aufgebracht hat, sich zu wehren oder auf die Halunken zu schießen!», schreit Heydrich mit erhobener Stimme und gibt sich dabei Mühe, den hallisch-anhaltinischen Tonfall in seiner Fistelstimme zu unterdrücken, die ihm bereits bei der Marine den Spitznamen «Ziege» eingebracht hat. «Möglicherweise waren deren Waffen nicht mal scharf!»
Nebe sitzt aufrecht. Er zuckt mit keiner Wimper. «Die Täter haben bei anderen Gelegenheiten mehrfach scharf geschossen und Personen verletzt, Gruppenführer», gibt er zu bedenken. Er hat die lange Liste der Überfälle im Kopf, vom ersten Ereignis im Grunewald, wo die beiden Unbekannten etliche Liebespärchen ausgeraubt hatten, bis zu den Autofallen bei Neu Zittau, Tasdorf und jetzt hinter Hangelsberg.
«Menschenskind, im Krieg ist auch scharf geschossen worden! Da hält man dagegen!» Heydrichs Stimme klingt noch immer schrill.
Was weißt du Rotzjunge vom Krieg?, denkt Nebe. Er hat an der Marne ein Sturmboot zu einem Brückenkopf vor sich hergeschoben, war zweimal gasverwundet, trägt das Ehrenkreuz der Frontkämpfer und das Eiserne Kreuz I und II. Schlimm genug, dass er sich hier von einem grünen Jungen aus der Provinz abkanzeln lassen muss. «Soweit ich informiert bin, befand sich ein Oberführer der SS unter den Überfallenen», sagt Nebe. Er weiß, dass er ein gefährliches Spiel spielt.
Heydrichs Lippen zucken, um die große Nase herum wird er weiß. Er ist berüchtigt dafür, bei seinen Ausfällen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Niemand wagt es, ihm zu widersprechen. «Was glauben Sie, was ich mit dem mache!», schreit er. «Dem reiße ich den Arsch auf bis zum Haaransatz! Ein solcher Feigling hat in der SS nichts verloren!»
Nebe versucht, ihn zu beruhigen. «Gruppenführer, er hatte eine Dame im Auto, soviel ich weiß …»
«Es interessiert mich nicht, ob der seine Nutte spazieren gefahren hat oder sich im Dienst befand! Als aufrechter deutscher Mann hätte er groß dastehen können vor ihr. Zwei gezielte Schüsse, und wir wären dieses Scheißproblem endlich und endgültig los gewesen!»
Dem kann Nebe nur zustimmen. Doch so einfach lassen sich komplizierte Fälle eben nur aus der Sicht des absoluten Laien lösen.
«Zwei Mann, Nebe!», geifert Heydrich. «Und wir führen am Ehrentag der Deutschen Polizei einen Geisterkrieg, als ginge es um die Besetzung Österreichs! Und das Ergebnis? Nichts! Dafür sind ein paar hundert Beamte im Einsatz!»
Anscheinend immer noch zu wenige, denkt Nebe. Schon 1935, als sich die Überfälle auf drei Dutzend summiert hatten, war sein Vorschlag, einen Großeinsatz von Polizeikräften, SA, SS und den Männern des Kraftfahrerkorps NSKK durchzuführen, rundweg abgelehnt worden. Nur kein Aufsehen erregen! Deshalb wurden nur die Streifen verstärkt und die Überfälle über lange Zeit totgeschwiegen.
Immerhin, jetzt sind siebentausend Reichsmark Belohnung ausgelobt, der Aufruf, eine Einheitsfront mit der Kriminalpolizei zu bilden, steht vor der Veröffentlichung. Aber vielleicht ist den Kerlen mit irgendwelchen Riesenaktionen gar nicht beizukommen. Wie Gespenster tauchen sie aus dem Wald auf, bringen ungeniert ihr Schäfchen ins Trockene - manchmal nur ein paar Mark - und verschwinden auf die gleiche Weise wieder. Dichte Wälder gibt es rings um Berlin mehr als genug. Die Befragung der Beamten an den nächsten Stationen der Vororts- und S-Bahnen haben keine Anhaltspunkte ergeben, verwertbare Spuren sind praktisch kaum vorhanden, sieht man von den 9-Millimeter-Patronenhülsen ab, die an mehreren Tatorten gefunden worden sind. Aus Bauch und Hüfte des Verletzten vom Kleinen Stern im Grunewald hat man merkwürdigerweise 7,65-Millimeter-Geschosse herausoperiert.
Nachdem den Tätern bei einem weiteren Überfall eine moderne automatische Walther PPK Kaliber 7,65 Millimeter in die Hände gefallen ist, gibt die bei der nächsten Autofalle gefundene Patronenhülse neue Rätsel auf: Es handelt sich um handelsübliche Munition für einen Revolver des englischen Kalibers 320. Die Experten der Schusswaffenermittlung haben herausgefunden, dass sich die Munition auch in einer automatischen Pistole verwenden lässt. Die Spuren am Wulstrand der Hülse deuten darauf hin.
Das alles weiß Nebe, doch er sagt es nicht. Für derlei Details hat Heydrich kein Ohr. Das ist ein Geheimdienstfritze, wie er im Buche steht, kein Kriminalpraktiker. Fehlt nur noch, dass er wieder mit seinem Lieblingsthema anfängt, alle Berufsverbrecher gnadenlos auszurotten. Himmler hat sich Nebe gegenüber sogar zu der Behauptung hinreißen lassen, ein nordischer Mensch wäre nun mal von Natur aus kein Verbrecher.
Nebe hat auch dem Reichs-Heini nicht widersprochen, aber dessen Rassenfimmel geht ihm gehörig gegen den Strich. In seinen siebzehn Jahren bei der Kriminalpolizei sind ihm ebenso viele blonde Straftäter begegnet, wie in der SS Dienst tun. Gestern hat der Chef der Ordnungspolizei angeordnet, dass der Polizeinachwuchs künftig aus der rassisch überprüften SS gewonnen werden soll. Dabei pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die nordische Bestie Heydrich selber eine jüdische Großmutter haben soll. Und Himmler und Goebbels? Typische Schrumpfgermanen, um sich in deren verquaster Terminologie auszudrücken.
Und richtig, Heydrich, der sich sonst eher kurz und knapp äußert, reitet auch diesmal sein Steckenpferd. «Das ist höchst einfach, Nebe! Sie kennen doch Ihre Kandidaten nur allzu gut! Nehmen Sie endlich alle wegen Raubes Vorbestraften in Vorbeugehaft, und der Spuk hat ein Ende. Die Richtigen sind todsicher darunter, und Göring hat außerdem gleich die nötigen Arbeitskräfte für seinen Vierjahresplan!»
Nebe ist anderer Meinung. Görings Pläne interessieren ihn sowieso nicht. Und anders als bei den Einbrechern ist die Rückfallquote unter den Räubern der hohen Strafen wegen nicht sonderlich hoch. Der kleinere der beiden Täter wird als relativ junger Mann um die 25 Jahre beschrieben. In den Verbrecheralben am Alex haben sie bisher vergeblich nach ihm gefahndet. Außerdem hält Nebe nichts von einer Methode, die zwar die Konzentrationslager füllt, aber keinerlei Erkenntnisse über die wahren Täter liefert. So etwas widerspricht kriminalpolizeilichen Erfahrungen. Von dem starken Rückgang der Verbrechen, von dem Berlins Polizeipräsident Graf Helldorff vorgestern in der Zeitung geschwafelt hat, kann überhaupt nicht die Rede sein.
Das alles hat er Heydrich schon mehrmals erklärt, und der mag keine Wiederholungen. Also schweigt Nebe, als hätte er verstanden, erhebt sich und grüßt mit erhobenem Arm.
Heydrich hat nur eine ungnädige Handbewegung für ihn übrig.