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WEISSE OSTERN
Оглавление«IST ES GRÜN zur Weihnachtsfeier, fällt Schnee auf die Ostereier», zitiert Hermann Kappe beim Familienfrühstück am Ostersonntag. Weihnachten 1936 war grün ausgefallen, jetzt bläst der kalte Ostwind tatsächlich ein paar Schneeflocken in den engen Hof in der Frankfurter Allee, auf den man aus dem Küchenfenster blickt. Wahrscheinlich will Kappe sich damit trösten, denn ursprünglich hatten sie ja vorgehabt, raus in die Müggelberge zu fahren, um dort die Ostereier für die Kinder zu verstecken. Doch Margarete, mit ihren neunzehn Jahren eigentlich schon zu alt für den BDM (und für das Ostereiersuchen natürlich auch), unternimmt mit ihrer Mädelschaft eine Heimatwanderung durch die Neumark, und für Kappe ist über die Feiertage Bereitschaftsdienst angesetzt. Draußen in Müggelheim und überall sonst, wo die Straßenräuber schon mal aufgetaucht sind, dürfen frierende Beamte aller Schattierungen Streife laufen und fahren. Die Osterspaziergänger werden die Wälder meiden, nachdem überall die Fahndungsplakate für den Mörder des Polizeioberwachtmeisters Herrmann hängen.
Sogar Klara Kappe, sonst nicht die Ängstlichste, macht sich diesmal Sorgen um ihren Angetrauten. «Deine gewöhnlichen Mörder erschießen mal einen, und damit ist es gut», sagt sie altklug.
«Aber die hier sind ja richtig gefährlich. Man müsste solche Berufsverbrecher ein für alle Mal wegsperren, das wäre das Beste!»
Und dir ein für alle Mal den Mund zu solchen Themen verbieten, das wäre das Allerbeste, denkt Kappe grantig. Nicht genug, dass er sich solche Sprüche im Präsidium tagtäglich anhören muss – jetzt fängt es auch schon in der eigenen Familie an. Als wären alle sogenannten Berufsverbrecher Mörder und alle Mörder von vornherein Berufsverbrecher!
«Wir haben in unserer Rotte darüber gesprochen», fängt nun auch Hartmut an zu klugscheißen. «Wenn man uns mit scharfen Waffen ausrüsten würde, könnten wir die Waldgebiete generalstabsmäßig durchkämmen und würden die Mörder bestimmt fangen.»
«Und euch dabei gegenseitig totschießen oder verwunden!», sagt Kappe. «Du wirst noch früh genug an scharfen Waffen ausgebildet werden.» Rotte, wie das schon klingt! Dass aus seinem Sohn mal ein Oberrottenführer wird, hat er sich nie vorgestellt. Und der zehnjährige Karl-Heinz gehört bei den Pimpfen einer Horde an!
Hartmut gibt nicht auf. «Wenigstens einen Tesching könntest du mir bewilligen», murrt er.
Da lacht sogar der Kleine. «Damit kannste höchstens auf Spatzen schießen, aber keine Verbrecher jagen!» Um Zustimmung heischend, sieht Karl-Heinz seinen Vater an.
Der sagt: «Schluss mit dem Thema! Heute ist erster Osterfeiertag, da schweigen alle Waffen.»
Jedenfalls möchte er das gerne. Das Bild des erschossenen Kollegen geht ihm nicht aus dem Sinn. Wer will schon so enden? Ein Beifahrer, den die Räuber im November angeschossen und ausgeraubt hatten, war erst vor drei Wochen als Invalide aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und am 19. Februar, fünf Wochen nach dem Spektakel von Hangelsberg, hatten die Autoräuber wieder mit größter Dreistigkeit eine Baumfalle errichtet. Acht Fahrzeuge sammelten sich auf beiden Seiten, doch die Räuber blieben unsichtbar - verscheucht vom ersten Pkw mit einer Polizeinummer. Seitdem hatten sie sich noch nicht wieder gerührt.
Für die Kriminalgruppe M ist das Jahr 1937 anfangs ruhig verlaufen. Den dreifachen Mörder aus der Joachimstraße haben sie wie erwartet mit ihren gewohnten kriminalpolizeilichen Methoden innerhalb von drei Tagen zu einem Geständnis gebracht, und Gennat und seine Mannen dürfen sich wieder allgemeiner Anerkennung erfreuen. Das ist auch nötig, denn der Druck auf die Kriminalpolizei von Himmlers und Heydrichs Seite verstärkt sich seit Schaffung der Sicherheitspolizei, kurz Sipo, spürbar. Das Geschwafel über notwendige rassenbiologische Voraussetzungen und weltanschauliche Bekenntnisse jedes einzelnen Beamten nimmt überhand. Bezüglich seines und Klaras «arischen Nachweises» braucht Kappe keine Schwierigkeiten zu befürchten. Die Kirchenbücher in Wendisch Rietz bestätigen die urdeutsche Abstammung. Mit einer kleinen Ausnahme: Klaras Großvater war unehelich geboren und erst als Achtjähriger von dem späteren Ehemann der Urgroßmutter anerkannt worden. Kappe kann rechnen. Der Großvater war 1841 geboren, sein vorgeblicher Erzeuger 1827. Aber niemand hatte den vierzehnjährigen Vater beanstandet.
Klara hat vorgeschlagen, die Ostereiersuche in den nahen Friedrichshain zu verlegen, wozu die beiden Jungen nicht die geringste Lust verspüren. Hartmut vertieft sich gleich nach dem Frühstück in die dickleibige Urvätersaga von Hans Friedrich Blunck, Karl-Heinz will den Tag lieber mit immer neuen Angriffen seiner Soldaten auf die Pappmaché-Burg verbringen. Kappe selber gibt angesichts des Schneegestöbers vor, das Haus nicht verlassen zu dürfen, für den Fall, dass er zum Dienst gerufen wird.
Das ist natürlich Unsinn. Wie Alfons Busch von der Inspektion E in mühsamer Kleinarbeit herausgefunden hat, sind bisher Donnerstag bis Sonnabend die bevorzugten «Arbeitstage» der Räuber gewesen, sonntags und montags sind sie nur je einmal aktiv geworden, und das - wie bei allen ihren Unternehmungen - stets abends. Dabei sind die Kerle bei aller Brutalität offensichtlich nicht auf das ganz große Geld aus. Eine gut organisierte Bande ist das todsicher nicht. Die würde sich lohnendere Ziele aussuchen. Einmal haben die Täter den letzten Linienbus der BVG von Müggelheim nach Köpenick gekapert und versucht, an die Einnahmen des Schaffners zu kommen. Die beiden gewitzten BVGer schüttelten die Banditen im wahrsten Sinne des Wortes ab, ohne das Geld rauszurücken. Auch in dem Bus hatte einer der Räuber geschossen, die Kugel fand sich in der Rückenlehne des Fahrersitzes.
Die Kerle schrecken wirklich vor nichts zurück. Dabei fällt die Beute oft genug sehr bescheiden aus. Welches Liebespärchen im Grunewald trägt größere Geldbeträge mit sich herum? Ein Wunder überhaupt, dass immer noch welche so unvorsichtig sind, es dort im Auto miteinander zu treiben. Die zahlreichen Polizeistreifen stoßen immer wieder auf solche sorglosen Zeitgenossen.
Im Präsidium ist es kein Geheimnis, dass der Kommissar Busch selber oft mit seiner jungen Frau zum Kleinen Stern fährt und dort lange Abende und kalte halbe Nächte im Wagen verbringt, ohne dass die Räuber bisher aufgetaucht sind. Stattdessen geht vermutlich der Überfall auf die Stationskasse des S-Bahnhofs Grunewald auf ihr Konto.
Kappe grient vor sich hin. Das wäre was für Klara: mit ihm in inniger Umarmung in einem engen Auto zu hocken und auf einen bewaffneten Überfall zu warten! Der Führer hat es befohlen, kann er ihr ja weismachen, dass die Ehefrauen nationalsozialistischer Beamter ihre volle Einsatzbereitschaft zu zeigen haben! Ein Orden ist sicher, wenn das Lockvogelspiel gelingt …
Besser nicht! Auf seine seltenen Späße hat Klara noch nie beifällig reagiert. Kappe setzt sich an den Schreibsekretär und versucht, an etwas anderes zu denken als an den ewigen Dienst. Der Berliner Lokal-Anzeiger, den ihm Karl-Heinz vom Kiosk geholt hat, meldet nichts Aufregendes, sieht man davon ab, dass in der letzten Woche eine Bande von achtzig Hehlern und Einbrechern verurteilt worden ist, die vornehmlich im Westen Berlins ihr Unwesen getrieben hatte. Wo sonst? Das Geld ist nun einmal in Charlottenburg, Wilmersdorf und Zehlendorf zu Hause und nicht östlich und nördlich vom Alex, wo die Ganoven wohnen und die alten Ringvereine in den letzten Zuckungen liegen. Denen ist es seit 1933 an den Kragen gegangen. Berufsverbrecher eben, auf die es die neue Staats- und die Polizeiführung besonders abgesehen haben. In den KZs sitzen etliche der alten Garde, weitere Aktionen sind angedroht.
Gennat, dessen Gesundheitszustand seinen Untergebenen in letzter Zeit ziemliche Sorgen bereitet, hat nur trocken gelacht, als von seinem Dezernat Listen für in Vorbeugehaft zu Nehmende angefordert wurden. Mörder gelten erst nach der Tat als Verbrecher, hat er geknurrt. Ich wüsste trotzdem, wen wir hoppnehmen müssten …
Über Pommern hat ein Schneesturm getobt, liest Kappe. Berlin ist noch mal gut weggekommen. Heiter und kühl verspricht das Wetter zu bleiben. Alle vor 1933 geprägten Silberstücke, die sogenannten Wagenräder, verlieren am 1. April 1937 ihre Gültigkeit. Künftig gelten nur die Neuprägungen der Zwei- und Fünfmarkstücke mit dem Konterfei Hindenburgs und der Potsdamer Garnisonkirche.
Schließlich entdeckt Hermann Kappe doch noch einen Artikel, der ihn interessiert: Große Deutsche, die unter dem Zwei-Kinder-System nicht gelebt hätten. Auf was die alles kommen, um die Fruchtbarkeit des Volkes, angeblich ohne Raum, zu mehren! Er braucht sich mit seinen drei Gören nicht angesprochen zu fühlen, außerdem sind Klara und er ja aus dem Alter glücklicherweise raus. Aber die zarte Margarete - will er sich seine Tochter als sechsfache Mutter vorstellen? Oder Hartmut als vierfachen Vater? Hermann Kappe der Ahnherr einer Horde von Pimpfen und Jungmaiden?
Die Argumente in dem Artikel klingen überzeugend. Bei nur zwei Kindern pro Familie hätte Deutschland auf Albrecht Dürer, Friedrich den Großen, auf Kant, Bismarck und Richard Wagner verzichten müssen.
Auf Hermann Kappe nicht, denkt er beruhigt. Nach seinem Bruder Oskar ist er der Zweitgeborene. Pauline ist vier Jahre jünger, und schon in ihrer Kindheit hatte Oskar gelästert: Wenn Schwestern notwendig sind - warum hat der liebe Gott dann keine? So weit geht Hermann Kappe nicht. Er mag Pauline und ihren Mann, den Koch Hans Achtow, auf seine Art. Nur dass die beiden neben der hübschen Tochter Hildegard einen Dumpfbeutel wie den Sohn Max gezeugt haben, ist unverzeihlich. Kappe schüttelt sich, wenn er an den ebenso aufgeblähten wie dämlichen Neffen denkt, der ihm zuletzt in SS-Uniform begegnet ist. In manchen Familien genügen wirklich zwei Kinder!