Читать книгу In der Falle - Jan Eik - Страница 8
DER ERSTE TOTE
ОглавлениеES IST MITTWOCH, der 24. März 1937. Der Frühlingsanfang liegt schon drei Tage zurück, Ostern steht vor der Tür, doch es ist noch immer kalt und ungemütlich. Den dunkel gekleideten Mann, der abends gegen sieben Uhr zu Fuß auf dem Adlergestell unterwegs ist, scheint es nicht zu stören. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, eine gut gefüllte Ledertasche umgehängt, so stapft er am Chausseerand von Berlins Ausfallstraße in Richtung Südosten dahin. Vom S-Bahnhof Grünau ist er ungefähr drei Kilometer entfernt, ein paar hundert Meter will er noch weitergehen in Richtung Schmöckwitz, wenn ihm nicht vorher ein Lieferwagen begegnet. Als sich aus Richtung Grünau ein Radfahrer nähert, bleibt er hinter einem Baum stehen. Dann fährt ein Pkw vorbei, und er drückt sich seitwärts in die Büsche. Zurück am Straßenrand, bemerkt er den schwachen Schein der Fahrradlampe zu spät, um sich erneut zu verbergen. Also setzt er seinen Weg fort, als hätte er den Radfahrer nicht bemerkt, und pfeift sich eins.
Der Radfahrer hält auf ihn zu und bleibt vor ihm stehen. Im funzligen Schein der Karbidlampe erkennt der Fußgänger die Polizeiuniform.
«Hallo! Wo wollen Sie hin?», lautet die in amtlichem Ton gestellte Frage.
Der Mann tut harmlos. «Nach Hause. Nach Schmöckwitz.»
«Und woher?»
«Vonne Arbeit. Adlershof.»
Der Beamte, Polizeioberwachtmeister Arthur Herrmann auf abendlicher Streifenfahrt, bleibt misstrauisch. Dass einer bei dieser Witterung von Adlershof nach Schmöckwitz läuft, wo ein paar hundert Meter weiter die Straßenbahnlinie 86 verkehrt, erscheint ihm auffällig. Der Überfall auf ein Liebespaar vor anderthalb Jahren ist ihm in unguter Erinnerung. Das war hier in der Gegend, das erste Mal im Osten und nicht im Grunewald, wie er von den Kollegen der Kriminalpolizei erfahren hat. Außerdem passt das Signalement des einen Straßenräubers durchaus auf den einsamen Wanderer mit der auffälligen Geldtasche.
«Was haben Sie da in der Tasche?»
«Na, meine Thermospulle mit Kaffee! Wat denn sonst?»
«Zeigen Sie mal her!»
Die Karbidlampe leuchtet hell genug, um zu erkennen, wohin der Polizist bei dieser Aufforderung greift: zur Pistolentasche.
Der Mann mit der verdächtigen Ledertasche ist schneller. Ein Schuss hallt durch den Wald, in dem der Schütze blitzschnell verschwindet. Der verwundete Beamte schießt ebenfalls und folgt dem Flüchtenden. Der bleibt hinter einem Baum stehen, feuert weiter. Nach wenigen Schritten bricht der Polizeioberwachtmeister Herrmann tot zusammen. Eine Kugel ist unterhalb des Schlüsselbeins durch die Brust gedrungen und im Rückgrat stecken geblieben. Die Schritte des Schützen verlieren sich im Gehölz.
Kurz darauf nähert sich wiederum ein Pkw. Darin sitzt fröstelnd Gebhard Braun aus Schmöckwitz. An der Temperatur ändert die bescheidene Wagenheizung seines Pkw kaum etwas, und die Fahrt durch den Wald ist ihm jedes Mal unheimlich. Der beginnt vor dem S-Bahnhof Grünau, dahinter führt die Straße nach einer sanften Kurve kilometerweit durch den dunklen Forst Oberspree.
Braun ist erschöpft - hinter ihm liegt ein harter Tag als Vertreter einer Maschinenbaufirma –, doch gleichzeitig ist er hellwach. In den Zeitungen hat er außer der ausgelobten Belohnung nichts mehr von nächtlichen Überfällen auf Autos gelesen. Nur die gut informierte Fama weiß genug darüber zu berichten. Gerade hier in der Gegend sind Kraftwagen ausgeraubt worden, wie Braun aus zuverlässiger Quelle weiß.
Links am Straßenrand leuchtet am Boden ein schwaches Licht. Es verändert sich nicht, als der Wagen sich nähert. Braun verlangsamt das Tempo. Irgendetwas ist merkwürdig. Er hält an. Im Graben erkennt er ein Fahrrad mit eingeschalteter Beleuchtung. Hat jemand einen Radfahrer überfahren und Fahrerflucht begangen?
Braun stellt seinen Wagen quer und leuchtet in den Wald, kann aber nirgendwo einen Verletzten entdecken. Er hupt und lauscht in die Dunkelheit. Nichts. Aussteigen will er nicht, das Ganze kann eine Falle sein. Am besten, er holt die Polizei.
Braun weiß, wo sich das Grünauer Polizeirevier befindet. Er wendet und fährt mit hoher Geschwindigkeit zum Bahnhof zurück, biegt rechts in die Wilhelmstraße ein und hält eine Minute später vor dem Revier 243 in der Mittelstraße.
Zehn Minuten später haben die Beamten die Gewissheit, dass es sich um das Dienstfahrrad ihres Kollegen Herrmann handelt, der um sechs Uhr abends zu einer zweistündigen Streifenfahrt aufgebrochen ist. Im Licht der Scheinwerfer ihres Einsatzwagens dringen die Beamten in den Wald ein und werden schon nach wenigen Metern fündig. Vor ihnen liegt die Leiche des Kollegen. Die Pistolentasche ist geöffnet, die Waffe findet sich in unmittelbarer Nähe der Leiche. Ein Selbstmord? Daran wollen die Kameraden des als besonnen geltenden Oberwachtmeisters nicht glauben.
Als Gennats Spezialisten am nächsten Morgen eine gründliche Spurensuche vornehmen, ist klar, dass der Polizist nicht durch einen Schuss aus der eigenen Waffe umgekommen ist.
Handelt es sich bei dem Täter oder den Tätern um die Landstraßenräuber, oder ist Herrmann einem eher zufälligen Verbrechen zum Opfer gefallen? Diese Frage bewegt Kommissar Kappe, als er in den frühen Morgenstunden des Gründonnerstag neben seinem alten Kollegen Galgenberg zwischen den Kiefern herumstapft.
«Das war vorauszusehen!» Galgenberg spielt mal wieder den nachträglichen Propheten. «Wer so ungeniert wie die beiden in der Gegend rumballert, trifft früher oder später auch mal einen.»
Dazu schweigt Kappe. Kommissar Busch vom Einbruchsdezernat, der die Ermittlungen gegen die Straßenräuber führt, predigt schon seit Wochen das Gleiche. Bisher hat das Morddezernat nichts mit den Fällen zu tun gehabt, obwohl es bereits im Juni 1935 im Grunewald zu einem ersten Schusswaffengebrauch gekommen war. Versuchter Mord - so was kam öfter mal vor. Außerdem hat man es im Polizeipräsidium lange nicht für möglich gehalten, dass es sich bei den Liebespärchen-Räubern im Westen um die gleichen Täter wie bei den Autofallen im Osten handeln könnte. Bis zu fünfzig Kilometer liegen die Tatorte auseinander. Seit Dezember 1936 muss dennoch als sicher gelten, dass Kommissar Busch recht hat: Die beiden Räuber - und mehr als zwei Maskierte sind nirgendwo aufgetreten - haben im Grunewald wie auf der Reichsstraße 1 mit der gleichen Waffe geschossen, vermutlich ein Trommelrevolver älterer Bauart mit glattem Lauf. Allerdings verfügen sie seit dem vergangenen Sommer über eine zweite Waffe, die bei einem weiteren Raub am Kleinen Stern erbeutete Walther PPK 7,65 Millimeter.
Kein Wunder, dass die Spurensuche im Grünauer Forst besonders gründlich ausfällt. Mit Erfolg. Die aus Herrmanns Dienstpistole abgeschossene Kugel wird gefunden. Vier weitere Patronen aus der Waffe, die nach dem ersten Schuss eine Ladehemmung hatte, liegen verstreut auf dem Waldboden. Außerdem findet sich eine Hülse 7,65 Millimeter, zu der die Bleikugel passt, die der Gerichtsmediziner aus Herrmanns Wirbelsäule herausoperierte.
Am Nachmittag des Gründonnerstag sitzt Prof. Dr. Brüning in der Preußischen Landesanstalt für Chemie lange vor dem Mikroskop und vergleicht immer wieder die Spuren an den Geschossen miteinander, die aus drei verschiedenen Überfällen stammen. Am Ende seiner Untersuchungen hat er keinen Zweifel mehr: Alle drei Geschosse sind mit der gleichen Waffe abgefeuert worden.
Als er sein Ergebnis dem Kriminalrat Gennat durchgibt, dem legendären Mordkommissar vom Alex, schnauft der beleibte Mann nur ärgerlich. «War nicht anders zu erwarten. Jetzt haben wir das dicke Ei im Nest.»