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VIER

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CHARLOTTE WEIDNER hatte in ihrem 49-jährigen Leben so manches mitgemacht und geriet nicht leicht in Panik. Im Augenblick aber fühlte sie sich dicht davor. Verzweiflung hätten andere es wohl genannt, doch dieses Gefühl war ihr in härteren Zeiten abhandengekommen. Irgendwie ging es immer weiter, das wusste sie.

Ihre bösen Vorahnungen hatten sie nicht getrogen, dessen war sie sicher. Ihr Herz flatterte, und sie fühlte sich, als drohe die innere Unruhe sie zu zerreißen. Worauf hatte sie sich eingelassen? Aber was blieb ihr anderes übrig? Die Tochter, die wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was sie der Mutter bedeutete, konnte, durfte nicht einfach verschwunden sein!

Der unangenehme Auftritt dieses Losinski vor dem Haus hatte ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt. Der Mensch hatte etwas zu verbergen. Man musste nicht über so viele böse Erfahrungen verfügen wie Charlotte, um dem das schlechte Gewissen anzumerken. Die hastige Abfahrt mit dem bonbonroten Fahrzeug hatte einer Flucht geglichen.

In ihrer Ratlosigkeit war Charlotte in die Fahrschule gegangen. Die junge Frau dort kannte Elke tatsächlich, wusste aber nichts Beruhigendes mitzuteilen. Auch sie hatte Elke seit Tagen, vielleicht seit Wochen nicht mehr gesehen, dafür aber andere junge Frauen in Losinskis Begleitung bemerkt. «Bei denen herrscht ja immer reger Verkehr», sagte sie. «Studenten eben. Er soll so ’ne Art Assistent an der Uni sein. Hat sich hier vor dem Haus auch mal mit einem geprügelt. Wegen Politik, hieß es. Ich war nicht dabei.»

Als Charlotte den Laden verließ, war sie der Nachbarin aus dem ersten Stock begegnet, an deren Namen sie sich nicht einmal mehr erinnerte. Die hatte sie sofort erkannt und auf sie eingeschwatzt, als wären sie die dicksten Freundinnen gewesen. «Wo ist denn Ihre Tochter abgeblieben?», lautete die erste Frage. «Die ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Weg. Von einem Tag zum andern! Oder hat sie zu Mama heimgefunden, nach all dem Theater hier? Kann einem ja leid tun um das junge Blut, wenn man so was sieht.»

Und bevor Charlotte überhaupt zu einer Frage anzusetzen vermochte, erfuhr sie ausschließlich Beunruhigendes über Elkes Lebenswandel und ihren Umgang mit diesen schrecklichen Menschen, die sich als Studenten ausgaben. «Was die studieren, möchte unsereins wissen! Nichts Vernünftiges jedenfalls. Rauchen, trinken, singen, nachts die Musik aufdrehen, bis einem das Trommelfell platzt. Was waren das für friedliche Zeiten, als Sie und Ihr Mann noch hier wohnten! Wie geht’s ihm überhaupt? Sah ja immer ’n bisschen blass aus, der Gute. Aber ein feiner Mensch ist er. Auf so einen Schwiegersohn kann der dankend verzichten.»

Endlich gelang es Charlotte, den Redefluss der Frau zu unterbrechen. «Wann haben Sie Elke zum letzten Mal gesehen?»

Die Nachbarin riss die Augen unnatürlich weit auf. «Zum letzten Mal?», fragte sie erschrocken. «Wollen Sie damit sagen …»

Beinahe fassungslos über diese Reaktion, schüttelte Charlotte heftig den Kopf. «Nein, nein, ich …»

Die Frau war von der einmal aufgenommenen Spur nicht mehr abzubringen. «Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Der hat ihr was angetan! Wie der schon immer guckt, so scheel, und kann einem nicht in die Augen blicken. Wenn einer Dreck am Stecken hat, dann der! Weiß man denn, was der mit seinem komischen Roller alles abtransportiert? Ein paarmal hat er das Ding beladen wie einen Lkw. Und Ihre Tochter, diese zarte Person, das ist ja nur so ein Bündel.» Ihre Hände zeigten ein handliches Paket.

Charlotte hielt eine Hand der Frau fest. «Nein», stieß sie entsetzt hervor, «das ist unmöglich!»

«Na, wenn Sie meinen.» Achselzuckend wandte sich die Frau ab. «Wenn es um meine Tochter ginge, wäre ich jedenfalls längst bei der Polizei. Das Revier ist immer noch gleich um die Ecke.»

Und so war Charlotte tatsächlich entgegen aller politischen Einsicht und Vernunft auf dem Revier gelandet und dort auf einen Beamten gestoßen, der vermutlich seit Jahrzehnten hinter dem abgestoßenen Schreibtisch hockte und sich seine eigenen Gedanken zu machen schien und sich der politisch verdächtigen Frau vom Ostrundfunk womöglich besann. Ihr fiel der eigenartige Zug um seine Augen auf, nachdem sie sich als Charlotte Menzel vorgestellt, knapp ihr Anliegen samt Elkes Adresse vorgetragen und auf seine Frage hin behauptet hatte, den eigenen Personalausweis leider nicht bei sich zu haben. Natürlich fragte er nach ihrer Adresse. Widerstrebend musste sie zugeben, im Osten zu wohnen, wo man von ihren Erkundigungen besser nichts erfahren sollte.

Dazu nickte er vielsagend. Ob verständnisvoll, bezweifelte sie. Als er jedenfalls «Das ist eher ein Fall fürs Präsidium. Ich denke, da wird man Ihnen helfen» sagte, versuchte sie vergeblich, einen Rückzieher zu machen. «Vielleicht warte ich erst noch ein paar Tage», sagte sie und erhob sich. Doch der Beamte, der schon zum Telefonhörer gegriffen hatte, bedeutete ihr sitzen zu bleiben.

Zehn Minuten später hatte man ihr höflich, aber doch sehr bestimmt auf die Rückbank eines Volkswagens geholfen, und der hatte sie hierher gebracht, in eine Gegend, die sie nicht kannte und von der sie annahm, dass es sich um die Friesenstraße handelte, von der so häufig in den Zeitungsmeldungen über die Untaten der Stumm-Polizei die Rede war. Mein Gott, wozu hatte sie sich hinreißen lassen!

Wenn Max davon erfuhr, war mehr als eine heftige Auseinandersetzung zu erwarten. Und wenn die Partei davon Wind bekam … Sie wagte dem Gedanken nicht zu folgen. Sich direkt an die Büttel des Klassenfeindes zu wenden – das grenzte schlichtweg an Verrat und bedeutete mindestens Parteiausschluss. Einen hatte sie schon hinter sich, wie ihr plötzlich einfiel. Nach ihrem Aufenthalt in der Lubjanka war sie zur Unperson geworden. Erst Max hatte das später in Moskau wieder in Ordnung gebracht. Parteimitglied seit 1924, hieß es in ihrem Fragebogen. Und nun so etwas!

Andererseits machte nur Elke ihr Leben wirklich aus. Gewiss, Max hatte sie nie enttäuscht. Dennoch war zu ihm nie die gleiche Nähe entstanden wie zu ihrem geliebten Jakob und dem Einzigen, das sie als bleibendes Vermächtnis an diesen erinnerte: Elke. Die war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur die Hoffnung, sie wieder in die Arme zu schließen, hatte Charlotte damals in der Zelle die Kraft gegeben, sich nicht umzubringen. Die Partei hingegen hatte nichts für sie getan, sie einfach fallenlassen, ohne sie je anzuhören.

Das waren ketzerische Gedanken, auf die sie sich trotzig versteifte, während sie auf dem kahlen Gang vor den feindlichen Büros darauf wartete, sich in neues Ungemach zu verwickeln. Es war ihr unmöglich gewesen, sich dem ersten Beamten auf dem Präsidium anzuvertrauen, einem nicht einmal unsympathischen jungen Menschen, der sie aber nicht recht zu verstehen schien.

Nachdem eine rothaarige junge Frau in einer Duftwolke an ihr vorbeigerauscht war, öffnete sich nach einiger Zeit die Tür und ein gutgekleideter, beinahe athletisch wirkender Beamter mittleren Alters musterte sie aus müden Augen. «Na, dann kommen Sie mal rein!», forderte er sie auf. Seine Lustlosigkeit schien mit Händen greifbar. Am besten machte sie es kurz und erklärte alles zu einem Missverständnis, bevor es wieder um ihre Personalien ging. Für eine Flucht, an die sie seit ihrem Besuch auf dem Revier gedacht hatte, war es allemal zu spät. Bei jedem Versuch davonzulaufen würde ihr Herz sich überschlagen. Auf einer Polizeidienststelle in West-Berlin versterben – das war das Letzte, was sie Max antun wollte.

Drinnen stellte sich ihr Gegenüber als Oberkommissar Kappe vor, und sie sagte ohne nachzudenken: «Charlotte Weidner.»

Nun war es heraus und konnte nur noch schlimmer werden. Der Oberkommissar achtete nicht darauf. Vielleicht war ihm der Name Menzel vom Revier nicht übermittelt worden. Charlotte beruhigte sich selbst. Von diesem Herrn Kappe ging eine Ruhe aus, die wohl nicht nur auf seine Müdigkeit zurückzuführen war.

Er hörte sich die Kurzfassung ihrer Geschichte an, ohne Fragen zu stellen oder Notizen zu machen. «Wundtstraße, gleich um die Ecke vom Horstweg?», vergewisserte er sich schließlich.

Sie bestätigte es.

«Ihre Tochter könnte verreist sein, ins Ausland möglicherweise», gab er zu bedenken.

«Das hätte sie mir vorher mitgeteilt. Oder wenigstens eine Ansichtskarte geschickt, selbst aus Paris oder sonst woher.»

Er nickte bedächtig. «Wie lange braucht die Post wohl von Paris nach Ost-Berlin?», fragte er mehr sich selbst als sie.

Paris! Wie fremd das für Charlotte klang. Eine Karte von dort ins Städtchen – jemand würde die wohl vor ihr lesen und sie nicht der Empfängerin, sondern seiner Dienststelle weiterreichen. Aber Elke kannte diese Gepflogenheiten. So unvorsichtig würde sie niemals sein. Post nach Niederschönhausen gab sie stets im demokratischen Sektor auf. «Wahrscheinlich haben Sie recht», sagte Charlotte resignierend. Sie fühlte sich plötzlich sehr hilflos und hatte nur noch einen Gedanken: Weg hier, bevor noch mehr Porzellan zu Bruch geht!

Herr Kappe jedoch schien erst am Anfang. «Ihre Tochter ist Studentin», stellte er fest. «Eigentlich ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie mitten im Semester eine längere Reise unternimmt. Und welchen Grund hat dieser Herr Losinski, den Unwissenden zu spielen? Dem könnte man nachgehen. Allerdings sind wir in dieser Abteilung ausschließlich für Tötungsverbrechen zuständig.»

Ein eisiger Schmerz durchfuhr Charlotte. Fahl und schwer atmend schloss sie die Augen und sank in sich zusammen. Erst das Glas Wasser, das ihr der Oberkommissar reichte, brachte sie in die Gegenwart zurück.

«Ich wollte damit nur ausdrücken, dass für Ihren Fall andere Kollegen zuständig sind – und hoffentlich auch bleiben.» Er lächelte Charlotte aufmunternd zu und nahm ihr das Glas aus der Hand.

«Ich verstehe», sagte sie leise. Es klang hoffnungslos.

Er blieb freundlich. «Da Sie nun einmal bei uns gelandet sind, werden wir trotzdem nachforschen, wo Ihre Tochter abgeblieben sein könnte. Wir verfügen sicher über bessere Möglichkeiten als Sie.» Er ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. «Also gehen wir die Sache noch einmal Punkt für Punkt durch. Elke Menzel, geboren am?»

«Am 28. November 1933», antwortete Charlotte mit schwacher Stimme.

«In Berlin?»

Nun kommt es raus, dachte sie. Doch es half ja nichts. «In Moskau», sagte sie, um Festigkeit in ihrer Stimme bemüht.

Der Oberkommissar sah auf und blickte sie an. «In Moskau!», sagte er mit einer gewissen Betonung und schrieb es auf.

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