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FÜNF

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WER IN BERLIN Jazz hören wollte, der ging in die «Badewanne», wo das Rediske Quintett modernen Cool darbot, oder er fuhr zum Dixieland mit den Spree City Stompers in die «Eierschale»am Breitenbachplatz. Im «Landhaus Dahlem» spielten die Salty Dogs mit ihrem Starschlagzeuger Baby Ko, und selbst im «Haus Berlin» an der Ost-Berliner Stalinallee jamten jeden Dienstag Musikanten aus Ost und West. Als Geheimtipp galt das «Studio 22» am Stuttgarter Platz. Der Gitarrist Coco Schumann, der das KZ überlebt hatte, war hier zu Hause. Im «Studio 22» trafen sich allwöchentlich die Musiker der modernen Richtungen zur Jam Session.

Peter Kappe, der sich nach unbefriedigenden Skiffle-Übungen auf dem Banjo seit einiger Zeit auf der Gitarre versuchte, hatte schon einige Abende im «Studio 22» verbracht. Bequemer und billiger war die Art Musik, die er mochte, kaum zu haben. Eintrittsgeld wurde nicht verlangt, und nach Hause waren es nur ein paar hundert Meter. Die Hoffnung, bei der Gelegenheit mal eine Mieze mit gleichen Interessen aufzureißen, hatte sich bisher nicht erfüllt. Das «Studio»war früher eine gewöhnliche Charlottenburger Eckkneipe gewesen und machte daraus auch keinen Hehl. Wahrscheinlich verzogen die Mädchen aus seiner Klasse deshalb das Gesicht, wenn er eines von ihnen aufforderte, ihn hierher zu begleiten. Es waren eben nur stumpfe Schrammen, zu Peters Bedauern. Die schwärmten für «Schlager der Woche» oder für dürftigen Rock ’n’ Roll und Elvis, dessen Verrenkungen Peter abschreckend fand. Das war alles nur nachgemachter schwarzer Rhythm and Blues, wie er wusste. Sein augenblickliches Gitarrenidol hieß Barney Kessel. In dessen Stil versuchte gerade ein plumper Bursche mit Ami-Bürste, auf dem kleinen Podium Melodielinien nachzuspielen, die Peter bekannt vorkamen.

«Dave Brubeck», sagte der Wortführer der beiden Burschen, an deren Tisch Peter Kappe einen Platz gefunden hatte.

Ihnen gegenüber saß ein Pärchen. Sie bot einen angenehmen Anblick, ihr Macker mochte schon um die dreißig sein. Er nickte bestätigend. «Klingt aber eher wie Eddie Condon.»

Bis auf die junge Frau lachten alle. Es war nicht schwer zu erkennen, dass der Gitarrist sich ebenso dilettantisch wie vergeblich bemühte, Brubecks rhapsodische Pianoläufe auf der Gitarre nachzufingern. Der Vergleich mit dem trunksüchtigen Dixieländer Condon war boshaft, aber nicht unpassend.

Der Macker und der Brubeck-Kenner, der vermutlich nicht viel älter war als Peter, gerieten sofort in eine Diskussion darüber, ob Brubeck überhaupt noch zum Jazz gehöre, wobei der Jüngling mit Kenntnissen und endgültigen Urteilen glänzte, die Peter beeindruckten. Clemens, wie ihn sein ansonsten eher schweigsamer Gefährte einmal ansprach, war ein großgewachsener Knabe mit dunkler Lockenpracht, der seine Ansichten gegenüber dem Älteren mit größter Selbstsicherheit vertrat. Dixieland sei eine tote Musik, deren Interpretation allenfalls Altmeistern wie Sidney Bechet oder Armstrong zustünde, und auch die hätten sich längst weiterentwickelt und spielten in Wahrheit Swing.

Das einzige weibliche Wesen am Tisch fühlte sich zu Recht vernachlässigt. Vermutlich fand sie das Gespräch genauso langweilig wie das Geschehen auf dem Podium, wo inzwischen ein Trio aus Bass, Schlagzeug und Altsaxophon zwirnsfadendünne Tonkaskaden abließ, die Clemens mit einem vernichtenden Urteil kommentierte. «Klingt wie eine verstimmte Trichtervioline. Ohne Piano geht so was gar nicht!», lautete sein abschließender Befund.

Sie blickte Peter an und lächelte, während ihr Begleiter sich mit Clemens über die harmonische Bedeutung des Klavierspiels im Jazz austauschte. Meinte die Ische wirklich ihn? Sie trug ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebündelt und wirkte trotz ihrer spitzen Nase anziehend, besonders wenn sie lächelte. Peter schätzte sie auf Mitte zwanzig.

«Spielen Sie auch ein Instrument?», fragte sie ihn quer über den Tisch hinweg.

Peter nickte ein wenig gehemmt. «Gitarre», sagte er. «Aber ich bin noch ziemlich am Anfang.»

«Meine Mutter hat mich früher immer zum Klavierunterricht gezwungen», sagte sie und ließ ihre schlanken Finger auf der Tischplatte tanzen. «Schrecklich! Das hat mir die ganze Freude an der Musik verdorben.»

Ihren Scheich schien es nicht zu stören, dass sie sich anderweitig unterhielt. Clemens und er diskutierten über Erroll Garner und Oscar Peterson. Nur Clemens’ Gefährte, ein bebrilltes Jüngelchen mit nichtssagendem Gesicht, fühlte sich plötzlich angesprochen. «Ich spiele Trompete», sagte er selbstbewusst, wobei er die erste Silbe betonte. «So in der Art wie Chet Baker.»

Den kannte sie. «Der hat doch die Platte mit Caterina Valente gemacht!»

Und abgemeldet war Peter. So erging es ihm immer. Kam er wirklich mal mit einer Frau ins Gespräch, fand sich sofort ein oberschlauer Draufgänger, der sich dazwischendrängte. Bei den gleichaltrigen Mädchen in der Schule war ihm das inzwischen beinahe egal. Ihn reizten sowieso eher Frauen, die eine gewisse Reife und Klugheit ausstrahlten. Das hatte er allen Ernstes Marlies erklärt, der Enkelin seines Großonkels Hermann. Insgeheim hatte er dabei an seine wunderschöne Zeichenlehrerin gedacht, in die alle Jungs verknallt waren, aber auch an die auffallend hübsche Schwarzhaarige, die ihm jeden Morgen auf der Straße begegnete. Ein echt steiler Zahn! Die war bestimmt schon Mitte zwanzig. Er vermisste sie seit Tagen. Hoffentlich war sie nicht weggezogen!

Natürlich hatte Marlies ihn ausgelacht. Bei Onkel Hermanns siebzigstem Geburtstag war das gewesen. Eine tödlich langweilige Veranstaltung, bei der sie auch die Beförderung seines Vaters zum Oberkommissar gefeiert hatten. Der und der greise Onkel Hermann hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und wechselseitig Anekdoten aus dem Leben von Kriminalkommissaren zum Besten gegeben. Da war ihm Marlies wie ein Lichtblick erschienen. Er hatte sie eine ganze Weile nicht gesehen. Zumindest äußerlich schien sie sehr zu ihrem Vorteil verwandelt. Abgesehen davon war sie das einzige Mädchen in seinem Alter in der ganzen Kappe-Sippe. Aber leider, wie sich schnell herausstellte, auch nur so eine Schlagermieze, die für Peter Kraus schwärmte – und der war nun wirklich das Letzte!

Wie gerne hätte Peter hier im «Studio 22» eine verständnisvolle Partnerin an seiner Seite gehabt und mit ihr zusammen die Musik genossen – soweit das Amateur-Getue genießbar war. Es durfte sich eben jeder versuchen, solange das Publikum geduldig blieb. Insgeheim nährte Peter die Hoffnung, die Zuhörer eines Tages mit seinen Gitarrenriffs zum Aufhorchen zu bringen. Bis dahin war es ein steiniger Weg, das wusste er.

Auf dem Podium brachte inzwischen ein swingendes Quartett Schwung in den Laden. Alle wippten mit den Füßen, nicht mal der kluge Clemens fand etwas auszusetzen. Sein Kumpel, der angebliche Trompeter, fingerte laienhafte Griffe in die Luft, um Eindruck auf die Mieze zu machen. Angesichts dessen besann sich deren Begleiter auf seine Rechte und Pflichten. Er drückte sie besitzergreifend an sich und begann, auf sie einzureden.

In Ermangelung eines anderen Diskussionspartners wandte sich Clemens zu Peter. «Du spielst Gitarre?», fragte er.

«Ein bisschen», gab Peter zu, und damit Clemens ihn nicht für einen Zickendraht à la Eddie Condon hielt, fügte er hinzu: «So in Richtung Barney Kessel.»

Den akzeptierte Clemens. «Von dem gibt es eine herrliche neue Scheibe mit den Poll Winners», sagte er.

Peter nickte. «Die habe ich schon», entgegnete er nicht ohne Genugtuung. Zum Beweis imitierte er eine Kessel’sche Improvisation von der Platte. Die Poll Winners waren die besten Instrumentalisten des Jahres ’57.

Clemens hörte mit fachmännischem Interesse zu. «Was sammelst du denn so?», wollte er wissen.

Endlich ergab sich eine Gelegenheit für Peter, mal ein bisschen mit seiner bescheidenen Plattensammlung zu renommieren. Da er den Oldtime Jazz vorsichtshalber wegließ, fand das meiste Clemens’ Zustimmung. «Und du?», erkundigte sich Peter. «Worauf stehst du?»

Unter anderem auf Ellington, Bebop und Jazz at the Philharmonic, wie sich herausstellte. Und auf Lionel Hampton. «Das ist der Größte!», behauptete Clemens. «Musikalisch und rhythmisch. So wie der swingt kein anderer.»

Peter widersprach nicht. Beim letzten Konzert des Maestros im Sportpalast hatte auch ihn die allgemeine Begeisterung angesteckt.

Es wurde ein langer Abend. Das Pärchen verzog sich irgendwann, zwei schwarze US-Krieger nahmen die Plätze ein. Keine Jazzer, wie sich herausstellte, sondern zwei brave GIs aus Oklahoma, die auf Rhythm and Blues und Chuck Berry standen und das schwarze Harlem nur aus furchterregenden Erzählungen kannten. Peter, der sich schon öfter mit Amis und britischen Soldaten unterhalten hatte, fand sich überraschend in der Rolle des Dolmetschers. Clemens’ Englisch war dürftig und das seines Kumpels nicht viel besser.

«Ich dachte, du studierst», sagte Peter, dessen Bewunderung für Clemens einen Knacks weg hatte. Und gleich einen zweiten bekam.

«Ich mache gerade Abitur», gab Clemens mit gedämpfter Stimme zu.

«Auch in Englisch?», wagte Peter zu fragen.

Clemens schüttelte den Kopf. «Das haben wir leider erst seit zwei Jahren.»

Peter sah ihn ungläubig an. Zwei Jahre Englisch und dann Abitur – so etwas hatte er noch nie gehört.

Clemens senkte seine Stimme. «Im Osten, verstehst du?»

Der nach dem Aufbruch des Pärchens wieder schweigsame Trompeter nickte trübe.

Peter verstand. Nun war ihm klar, weshalb sich die beiden den ganzen Abend an einer Coca festgehalten hatten, allen mahnenden Anfragen des Kellners zum Trotz. Er selbst hatte immerhin drei getrunken.

Ost-Berliner waren ihm schon hin und wieder begegnet. Eine nähere Bekanntschaft hatte sich nie ergeben. Wozu auch? Sein Vater war Polizeibeamter, der mit dem Osten nichts am Hut hatte. Gar nicht haben durfte. Das war so selbstverständlich wie die Abneigung seiner Mutter gegen alles Östliche und die Vorbehalte seiner Freunde und Klassenkameraden gegen den Osten. Hieß es nicht, der Jazz sei dort verboten?

«Quatsch!», widersprach Clemens. «Musik lässt sich nicht verbieten. Jazz gibt es sogar bei den Russen. Nur keine Platten. Das ist das Problem.»

Peters Problem bestand eher im hohen Preis der Langspielplatten. Die billigeren 45er knisterten nach einer Weile wie ein Lagerfeuer. Sein Taschengeld, das er durch allerlei Nebenarbeiten aufbesserte, reichte nie aus. Einmal in der Woche setzte er in einer Kneipe Kegel auf, für einen Stundenlohn von einer Mark. Das war schäbig genug, aber bei einem Wechselkurs von eins zu vier eine Menge Geld für die Billigkonkurrenz aus dem Osten.

Clemens’ schmale Künstlerhände sahen nicht aus, als hätten sie jemals Kegel aufgesetzt oder andere schwere Arbeiten ausgeführt. Wollte er allerdings eine LP kaufen – die meisten kosteten 19,90 DM –, so waren das in seiner Währung fast neunzig Mark.

«Hast du eine größere Plattensammlung?», fragte Peter dennoch.

«Nur das Wichtigste», antwortete Clemens. «Vom Oldtime nur die wahren Schöpfer: Armstrongs Hot Five, den frühen Sidney Bechet, allenfalls noch Really the Blues mit Tommy Ladnier.»

«Die habe ich auch!», bestätigte Peter stolz.

«Weißt du, dass Bechet und Ladnier zwar aus New Orleans stammen, sich aber erst in Moskau kennengelernt haben?»

Nun staunte Peter doch. «In Moskau? Wie kamen sie denn ausgerechnet da hin?»

Clemens wusste es. «In den zwanziger Jahren gab es dort Jazzkonzerte. Und in den Vierzigern hatten sie sogar ein staatliches Jazzorchester unter Eddie Rosner. Der machte ganz brauchbaren Swing. Natürlich auf sehr sowjetische Art.»

«Interessant», befand Peter. «Du weißt ja gut Bescheid. Bist du mal in Russland gewesen?»

Clemens’ Gesicht verdüsterte sich ein wenig, aber auf dem seines schweigsamen Kumpels breitete sich ein Grinsen aus. «Clemens ist in Moskau geboren», meldete er naseweis.

Clemens schien das für eine überflüssige Bemerkung zu halten. «Ich bin seit ’46 wieder in Berlin!», sagte er ein wenig unwirsch.

Aus Moskau wieder in Berlin? Wie meinte er das? Peter hätte gerne nachgefragt, wollte aber nicht indiskret sein. «Hast du russische Jazzplatten?», fragte er stattdessen.

Clemens bestätigte das. «Auch polnische LPs vom Jazzfestival in Sopot.»

Damit waren sie wieder bei den Platten. «Wäre schön, wenn man die eine oder andere Scheibe auf Band umschneiden könnte», schlug Clemens vor.

Daran war nichts auszusetzen. Peter stimmte zu. «Warum nicht. Wir könnten uns ja mal verabreden. Hast du ’ne vernünftige Bandmühle?»

Die besaß Clemens, im Gegensatz zu Peter, auf dessen Wunschliste ein mindestens halbprofessionelles Tonbandgerät ganz oben stand – also unerreichbar hoch vorläufig. Vielleicht klappte es zum Abi im nächsten Jahr. Im Osten gab es anscheinend wohlhabende Leute, die ihren Kindern, die noch dazu in Moskau geboren waren, großzügige Geschenke machen konnten.

Peter entsann sich, dass es von Hartmut, dem ältesten Cousin seines Vaters, hieß, er sei höherer Offizier bei der Kripo im Osten. In der Familie wurde er kaum erwähnt. Nicht mal zum Siebzigsten des eigenen Vaters war der aufgetaucht. Vermutlich verdienten solche Leute im Osten so viel, dass ihre Kinder im Westen hätten einkaufen können, es aber sicherlich nicht durften.

«Wenn du willst, können wir das bei mir machen», schlug Peter großzügig vor. «Ich wohne nur ein paar Ecken von hier.» In seinem Zimmer durfte ihn jeder besuchen. Weder Mutter noch Vater waren da kleinlich. Außerdem brauchte niemand zu erfahren, dass der Besucher aus dem Osten kam. Clemens sah überhaupt nicht danach aus.

«Ich weiß nicht …», sagte der zögernd. «Die Kiste ist ziemlich schwer und unhandlich. Damit müsste ich ja über die Grenze …»

«Müsste ich mit meinen Platten auch», wandte Peter ein.

«Das ist kein Problem! Du hast einen Westausweis. Bei uns in der Interessengemeinschaft Jazz halten öfter Personen aus dem Westen Vorträge. Die bringen alle ihre Platten mit.»

«Na, wenn du meinst.»

«Ich wohne in Biesdorf. Mit der S-Bahn sind das von hier kaum vierzig Minuten.»

Peter zögerte. In den Osten sollte er. Und dann auch noch so weit. Andererseits reizte ihn die Vorstellung. Wer kannte schon einen echten Jazzfan aus dem Osten? «Wann würde es dir denn passen?», fragte er.

«Am besten wäre es am Tage. Und in der Woche. Dann habe ich sturmfreie Bude.»

«Wir können ja mal darüber reden», sagte Peter.

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