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DREI

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IM GRUNDE gefiel Oberkommissar Otto Kappe die Frau, die vor ihm saß. Als Frau jedenfalls: eine schlanke, aber keineswegs magere Mittdreißigerin mit rötlich getöntem Haar, das nicht ganz so akkurat frisiert war, wie es zu der eleganten Erscheinung der Dame und ihrer teuren Kleidung gepasst hätte. Auch die leicht verschmierte Schminke um ihre braunen Augen verriet etwas von dem Kummer, den sie berechtigt war zu zeigen. Vielleicht zeigte sie ihn etwas zu deutlich, wie Kappe in einer Aufwallung von Misstrauen empfand. Etwas störte ihn an dem Bild der untröstlichen Witwe. Spielte sie ihm etwas vor? Hatte sie den Stuhl vor seinem Schreibtisch mit Absicht so weit nach hinten gerückt, dass er ihre wohlgeformten Beine unbedingt wahrnehmen musste, oder war das nur die Haltung einer selbstsicheren Person, die sich ihrer Wirkung bewusst war?

Andererseits gab es keine Norm, wie eine so plötzlich in eine Witwe verwandelte junge Frau sich als Zeugin zu betragen hatte. In dieser Rolle gefiel sie Kappe weniger. Nur stockend teilte sie auf seine bewusst zurückhaltenden Fragen ihre persönlichen Daten und karge Einzelheiten ihres Lebenslaufs mit: Verena Roeder, am 8. April 1922 als Verena Hassenkamp in Stralsund geboren, nach Abitur und abgebrochenem Kunststudium infolge der Kriegsereignisse ins Mecklenburgische verschlagen, 1953 wie ihr späterer Mann Ronald als politischer Flüchtling in West-Berlin anerkannt, seitdem in Reinickendorf ansässig. Das Häuschen, dessen Reste nunmehr ihren ganzen Besitz darstellten, sah man von dem blauen Ford Taunus ab, mit dem sie in der Nacht bei der Brandstätte aufgetaucht war, hatten sie mit Hilfe der Hassenkamp’schen Verwandtschaft erworben und zu einem wohnlichen Heim ausgebaut. Ihr Mann, obwohl von Hause aus studierter Volkswirt, hatte sich als ein handwerklich begabter Mensch erwiesen, der auch wesentliche Teile der teuren Heizanlage selbst installiert hatte …

An diesem Punkt schlug sie die Hände vor das Gesicht und beugte sich aufschluchzend weit vor, wobei sie, wie Kappe nicht umhinkam zu bemerken, mit den Ellenbogen den engen Rock um einiges zurückschob, was ihm zwangsläufig einen Blick weit über ihre aufreizenden Knie hinaus gestattete. Gerne wäre er jetzt aufgestanden und hätte ihr väterlich-mitfühlend die Hand auf die Schulter gelegt, doch er hütete sich von jeher vor derlei Vertraulichkeiten. Außerdem stand ihm – und ihr – das Schlimmste noch bevor: die Identifizierung der Leiche, die bereits abtransportiert war, als Frau Roeder zu Hause erschien. Dass es sich bei dem Brandopfer nur um ihren Mann handeln könne, hatte sie im Angesicht der qualmenden Ruine fassungslos zu Protokoll gegeben. Er habe die Heizung nach dem langen Winter überprüfen und in Ordnung bringen wollen. In letzter Zeit habe es Schwierigkeiten mit dem Warmwasser gegeben.

«Kommen wir nun zur Person Ihres Mannes», sagte Kappe mild, nachdem sich Frau Roeder etwas beruhigt und den Rock wieder züchtig bis an die Knie gezupft hatte. «Wann und wo ist er geboren?»

«Am 22. Juni 1916, in einem kleinen Ort in Westpreußen. Den Namen vergesse ich immer wieder.» Sie blickte Kappe entschuldigend an. «Er steht in unserer Heiratsurkun …» Sie stockte, wohl weil ihr bewusst wurde, dass dieses Dokument unwiederbringlich ein Opfer der Flammen geworden sein musste. «Alle unsere Papiere sind verbrannt», stellte sie denn auch mit schreckgeweiteten Augen fest. «Alle.»

«Haben Sie die nicht in einem besonderen Behältnis aufbewahrt? In einer Kassette oder etwas Ähnlichem?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht. Mein Mann war in solchen Dingen nicht übertrieben ordentlich. Das lag alles in einer Mappe in seiner Schreibtischschublade. Wer rechnet denn mit einer solchen Katastrophe?»

Ich!, hätte Otto Kappe jetzt sagen können. Die Papiere waren doch das Wichtigste, was ein Mensch besaß. Wie waren solche sorglosen Zeitgenossen wie diese Roeders über den Krieg gekommen?

«Hätte das Feuer nicht auch eine Kassette ausgeglüht?», gab Frau Roeder mit einem Augenaufschlag zu bedenken, der Kappes Misstrauen neue Nahrung gab. Viel Tränen waren bei ihrem Aufschluchzen nicht geflossen, konstatierte er.

«Na gut, das finden wir ja alles in den Unterlagen», sagte er, was sie zu erstaunen schien.

Irritiert fragte sie: «In welchen Unterlagen?»

«Sagten Sie nicht, Sie hätten das Anerkennungsverfahren für politische Flüchtlinge absolviert? Außerdem muss Ihr Mann ja beim Finanzamt und bei einer Versicherung gemeldet sein. Das ist also kein Problem.»

Ihre unsichere Miene verriet Kappe, dass es eines werden konnte. «Bei welcher Krankenkasse war er denn versichert?», erkundigte er sich vorsichtshalber.

Sie hob die Schultern. «Er war nie krank.»

Kappes Hände umfassten die Schreibtischkante. «Wollen Sie damit andeuten, er sei nicht versichert gewesen?»

Sie riss die Augen weit auf. Die verlaufene Schminke gab ihrem tragischen Blick zugleich etwas Dämonisches. «Um so etwas habe ich mich nie kümmern müssen», entgegnete sie.

Kappe glaubte, eine Spur von Arroganz herauszuhören, die ihn erboste. «Aber Steuern wird er doch wohl gezahlt haben!», stellte er in einem Ton fest, den er bisher sorgsam vermieden hatte – und der bei ihr schlecht ankam.

Im gleichen herablassenden Ton sagte sie: «Wie ich bereits andeutete, habe ich mich um so etwas nie kümmern müssen.»

«Sie haben keine eigenen Einkünfte?»

Sie zögerte. «Nein, nicht direkt. Ist daran etwas auszusetzen?»

«Natürlich nicht. Welcher Tätigkeit ist Ihr Mann nachgegangen?»

«Er ist … er war Künstler. Er … hat gemalt.» Sie schnäuzte sich umständlich. «Seine graphischen Arbeiten fanden bei Sammlern reges Interesse.»

«Er hat also nicht in seinem Beruf als Volkswirt gearbeitet, sondern von der Malerei gelebt?», vergewisserte sich Kappe.

«Ja. Er hat hin und wieder etwas verkauft. Nötig war das eigentlich nicht, wir haben ja die Unterstützung meiner Familie.» Ihr Blick erschien ihm jetzt beinahe treuherzig. «Ich entstamme einer wohlhabenden Reederfamilie. Besonders der Hamburger Zweig ist recht vermögend.»

«Ich verstehe», sagte Kappe, obwohl er keineswegs verstand, welches Glück manchen Leuten beschieden war. Eine reiche Familie, keine Steuern und ein bisschen Farbenkleckserei, ein Häuschen im Grünen, ein Auto und eine schöne Frau – da kam kein gewöhnlicher Kriminalbeamter mit. Obwohl sich wenigstens seine Gertrud vor so einer Schmarotzerin nicht zu verstecken brauchte. Es gab genügend Männer, die ihn mit Recht um sie beneideten. «Na schön. Auf Ihre Vermögensverhältnisse kommen wir noch zurück», sagte er. «Wenden wir uns der äußerlichen Beschreibung Ihres Mannes zu. Wie groß war er?»

«1,79 Meter.» Sie dachte einen Augenblick nach. «Das hat er jedenfalls immer gesagt. Vielleicht war er auch zwei, drei Zentimeter kleiner.» Wieder so ein Augenaufschlag. «Er hielt sich immer sehr aufrecht, um groß zu wirken. Ist das so wichtig?»

«Sehr wichtig. Wir müssen den aufgefundenen Körper eindeutig identifizieren.» Er vermied das Wort Leiche. Den Anblick würde er ihr nicht ersparen können.

Sie sah ein wenig blass aus um die Nase und senkte den Kopf. «Schrecklich!», stöhnte sie.

«Sein Gewicht?»

Sie blickte auf. «Wissen Sie, was Sie mir zumuten?», fragte sie anklagend. Ihre Stimme wurde lauter. «Mein Mann ist heute Nacht auf entsetzliche Weise zu Tode gekommen, und Sie fragen nach seinem Gewicht! Er war ein ganz normaler, gutaussehender, schlanker Mensch! Genügt Ihnen das?»

Es genügte Kappe nicht, doch beharrte er nicht auf einer exakten Antwort. Nicht in dieser Situation, in der sich die Frau nur unnötig aufregte. Begütigend hob er die Hand und fragte: «Bei welchem Zahnarzt war er in Behandlung?»

«Zahnarzt?», fragte sie gedehnt zurück. «Was soll das nun wieder? Er hatte gesunde Zähne und brauchte keinen Zahnarzt!»

Kappe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Allmählich wurde die Angelegenheit mysteriös. Ein malender Volkswirt ohne Papiere, der keine Steuern zahlte und keinen Zahnarzt benötigte. Hatte es diesen Mann überhaupt gegeben? Wenn nicht – um wen handelte es sich dann bei der Leiche?

Immerhin hatte der Tote eine trauernde Witwe hinterlassen, die leibhaftig und nicht ohne Attraktivität vor ihm saß und deutliche Anzeichen von Unmut verriet. Zu ihrem Alibi für den vergangenen Abend hatte er sie noch nicht befragt. Es war überhaupt allzu viel offen in diesem Fall, für den die Mordkommission bis jetzt nur deshalb zuständig war, weil er Bereitschaft gehabt und die ersten Untersuchungen am Auffindungsort der Leiche geführt hatte. Weshalb wartete er nicht einfach das Ergebnis der Obduktion ab? Der Brand war ein bedauerlicher Unfall, um den sich die Gutachter der Versicherung kümmern würden. Dass es eine Lebensversicherung von Ronald Roeder zugunsten seiner Frau und eine Police für das Haus gab, hatte Verena Roeder ihm noch in der Nacht am Brandort bestätigt. Da sie noch nicht genau gewusst hatte, wo sie unterkommen würde, hatte er sie für den Nachmittag zu einer ersten Befragung ins Landeskriminalamt bestellt.

Kappe erhob sich und sagte gemessen: «Ich möchte Ihre Geduld und Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Es wird sicherlich noch die eine oder andere Frage zu klären sein. Deshalb ist es unumgänglich, dass Sie zu erreichen sind.»

Kappe merkte ihr die Erleichterung an, als sie aufstand. Er reichte ihr den leichten Sommermantel vom Kleiderhaken und wartete höflich, bis sie hineingeschlüpft war. Sie war einen halben Kopf kleiner als er und roch nach einem teuren Parfum. Keine Spur von Rauch. Sie musste ihre Haare gründlich gewaschen haben.

«Ich habe vorläufig in der Pension Rosenkranz in der Potsdamer Straße Unterkunft gefunden», sagte sie. «Adresse und Telefonnummer notiere ich Ihnen.»

Während sie schrieb, gestattete sich Kappe einen letzten Blick auf ihre Waden. Weshalb es eine solche Frau aus Frohnau ausgerechnet in die übelbeleumdete Potsdamer Straße zog, war ihm schleierhaft. Zuvorkommend geleitete er sie durch das Vorzimmer und verabschiedete sie mit einer gemessenen Verbeugung.

Als er sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter seiner Kollegen Günter Kynast und Jürgen Rückert. Kynast, allemal der Dreistere von beiden, verkniff es sich nicht einmal, anzüglich das Gesicht zu verziehen und so etwas wie «Glücklicher Witwentröster» zu murmeln.

Das war selbst Rückert zu viel. «Wenn du mal im Dienst erschossen wirst», bot er Kynast hinterhältig an, «übernehme ich die Tröstung sämtlicher deiner Flammen. Einverstanden?»

Kynast salutierte militärisch. «Einverstanden, Herr Oberleutnant!» Er liebte es, Rückerts Hang zum Militärischen zu karikieren. Lachend fügte er hinzu: «Aber schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch! Mehr als ’ne Woche gibt dir Keunitz bestimmt nicht frei.»

Kriminalrat Keunitz war der Leiter des Referats M, zuständig für alle Tötungs- und Sittlichkeitsdelikte, und damit ihr Vorgesetzter. Otto Kappe wusste, wie der zu nehmen war, und kam einigermaßen gut mit ihm aus. An Günter Kynast aus Neukölln, von Otto gern als James Dean von Rixdorf tituliert, missfiel ihm dagegen die amerikanischen Filmschauspielern abgeguckte Lässigkeit. Seit Lilli Lenné, die jugendliche Schönheit der Truppe, zum Lehrgang in Westdeutschland weilte, artete sein Ton ein wenig aus.

«Euch steigen wohl die linden Maienlüfte zu Kopf», knurrte Kappe. Er war müde und wurde das Gefühl nicht los, immer noch wie ein Scheiterhaufen zu riechen. Dabei hatte er am Morgen länger als gewöhnlich geduscht. «Habt ihr nichts zu tun?»

Kynast zog den sorgfältig frisierten Kopf ein. «Angelwetter, wie?», sagte er spöttisch und spielte damit auf Otto Kappes Gewohnheit an, sie in ruhigen Zeiten mit den «nassen Fischen», den ungelösten Mordfällen der Vergangenheit, zu beschäftigen.

Kappe ging nicht darauf ein. «Ich mache jedenfalls Schluss für heute. Hab mir die ganze Nacht da draußen in Frohnau um die Ohren geschlagen.» Und außerdem hatte er noch Galgenberg zur Rettungsstelle begleitet, in der sie beide allein schon durch den sie umgebenden Brandgeruch aufgefallen waren. Galgenberg hatten sie im Krankenhaus gleich dabehalten. Diagnose: Knöchelbruch.

«Da wartet noch diese Frau …», sagte Rückert. «Ich hatte das Gefühl, sie möchte eher mit einem etwas gesetzteren Kollegen reden.»

«Was denn für eine Frau?», fragte Kappe ungehalten. Die Höflichkeit erforderte es eigentlich, dass er jetzt noch seinen verunfallten Mitarbeiter im Krankenhaus besuchte.

«Sie sitzt draußen. Kommt aus dem Osten und vermisst ihre Tochter. Sie ist sich ganz sicher, dass der was Schreckliches passiert ist. Die Kollegen vom Revier in Charlottenburg haben sie hergebracht.»

«Und was habe ich damit zu tun? Für solche Fälle sind die da oben zuständig.» Aufgebracht wies Kappe zur Decke. Im obersten Stockwerk saßen die Kollegen, die sich um vermisste Personen kümmerten.

Rückert ließ sich nicht beirren. «Die Tochter wohnt in der Wundtstraße. Das ist doch gleich bei dir um die Ecke.»

«Seid ihr nicht ganz bei Trost?», fauchte Kappe. «Übernimmst du neuerdings nur noch Fälle, wenn die Leiche aus Siemensstadt stammt?»

Dort wohnte Rückert, seit er vor beinahe zehn Jahren aus dem Osten gekommen war. Jetzt wand er sich wie ein Aal. «Red doch wenigstens mal mit der Frau! Ich hab nicht viel aus ihr rausgekriegt.»

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