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ZWEI

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CHARLOTTE WEIDNER wurde das ungute Gefühl in der Magengegend nicht los. Seit Tagen, ja eigentlich seit drei Wochen hoffte sie vergebens auf eine Nachricht von ihrer Tochter. Schließlich hatte sogar Max ihre Unruhe bemerkt, und das wollte etwas heißen. Dem gingen im Augenblick ganz andere Dinge im Kopf herum. Aber darüber sprach er nicht. Um sie zu schonen, wie sie wusste. Die Zeiten waren ernst. Wie immer. Hatten sie jemals fröhliche Zeiten erlebt? «Der Klassenfeind gibt niemals Ruhe, auch nicht in der Kultur», war alles, was Max äußerte. Kein Wort davon, dass im Politbüro eine parteifeindliche Fraktion entlarvt und liquidiert worden war. Wie es das Unglück wollte, gehörte der am heftigsten Angegriffene zu Max’ engsten Kampfgenossen aus alten Zeiten. Insgeheim und nicht ohne Hoffnung war sein Name als der eines längst notwendigen Nachfolgers für das höchste Amt genannt worden. Etwa auch durch Max?

Charlotte wusste, was das bedeutete. Ein schrecklicher Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ, obwohl sie sich damit zu beruhigen versuchte, dass sich die Dinge seit dem letzten Parteitag in Moskau verändert hatten. Ein wenig jedenfalls. Der Alpdruck, der alle ihre Erinnerungen überschattete, war geblieben. Gerade jetzt, wo sie etwas Verbotenes zu unternehmen gedachte, spürte sie ihn deutlich.

Dabei hörte sich ganz harmlos an, was sie vorhatte: Sie wollte ihre Tochter besuchen. Elke wohnte wie sie in Berlin, kaum eine Stunde entfernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem zu erreichen. Nur verlangte diese Fahrt eine Entscheidung von Charlotte, die gerade in der gegenwärtigen Situation existenzielle Auswirkungen für Max und sie haben konnte. Elke wohnte in West-Berlin. Für sie selbst, die treue Genossin und brave Ehefrau eines höheren Staatsfunktionärs, war es selbstverständlich, die Berliner Westsektoren nicht ohne besondere Genehmigung zu betreten. Genossen ihres Standes durften nicht einmal zu Agitationseinsätzen in die feindliche Frontstadt.

Dabei hatten Max, Elke und sie bis zum Jahre 1952 zusammen in Charlottenburg gewohnt. Als sie Anfang 1946 aus Moskau in Berlin eintrafen und Max sofort eine wichtige Funktion im Rundfunk übernahm, schien es angebracht, sie in der Nähe des Funkhauses an der Masurenallee unterzubringen. Aber dann wurde Max aus heiterem Himmel in eine unglückliche politische Affäre verwickelt, gemaßregelt und in die Provinz versetzt, wo er sich als Chef eines Museums wiederfand. Bis sich der zu jener Zeit noch führende Genosse im Politbüro, dessen Namen zu nennen man seit zwei Monaten besser vermied, auf ihn besann. Er holte Max zurück nach Berlin, wo ihn im Kulturministerium eine verantwortungsvolle Aufgabe erwartete.

Seitdem wohnten sie in Niederschönhausen. Im Städtchen, wie das abgeschlossene Viertel am Pankower Schlosspark allgemein genannt wurde. Im Schloss hatte der greise Staatspräsident seinen Amtssitz, und in den Villen ringsum wohnten er und die Repräsentanten von Partei und Regierung. Das erleichterte es den Verantwortlichen, für deren Sicherheit zu sorgen. Im Westen galt Pankow deswegen als Synonym für das «Zonenregime», eine Formulierung, die Max maßlos aufregte, während Charlotte eher das Wort «Repräsentanten»missfiel.

Sie vermied es sich umzublicken, als sie die stille Straße mit den gepflegten Gärten und Häusern entlangschritt. Seltsam, sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wer früher hier gelebt hatte. Sicherlich alte Nazis. Die sowjetischen Freunde hatten gewiss die Richtigen enteignet.

Auf der Ossietzkystraße hatte sie ständig den Eindruck, jeder Passant mustere sie besonders aufmerksam und sogar der Posten am Zugang zum Städtchen schaue ihr aufmerksam hinterher. Ärgerlich verzog sie das Gesicht. Sie war schließlich kein heuriger Hase. Als junge Frau hatte sie lange genug im illegalen Apparat der Partei gearbeitet und seither nicht verlernt, wie man einen Verfolger erkannte und sich ihm entzog. Vor der Buchhandlung blieb sie stehen und tat so, als betrachte sie die Auslage. Im Spiegelbild fiel ihr nichts Verdächtiges auf. Weshalb auch? Niemand konnte ahnen, was sie vorhatte.

Sie überquerte die Straße und den alten Dorfanger mit der Kirche und wandte sich nach rechts, als wollte sie in Richtung Rathaus gehen. Der Straßenbahn, die gerade in die Haltestelle einfuhr, schenkte sie scheinbar keine Aufmerksamkeit. Erst als alle Wartenden eingestiegen waren und die Schaffnerin im Anhänger abklingelte, lief sie hastig auf die anfahrende Bahn zu und kletterte auf die Plattform.

«Hätten Se sich och früher überlejen könn’, junge Frau!», murrte die mollige Schaffnerin.

Charlotte lächelte gewinnend. «’tschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.»

Dabei war sie hellwach. Sie bezahlte die zwei Groschen und blieb an der hinteren Scheibe stehen. Aufmerksam beobachtete sie die Fahrzeuge neben der Bahn, bevor sie sich umwandte und unauffällig die Insassen im Innern des Wagens in Augenschein nahm. Jetzt, um die Mittagszeit, waren es nur wenige, und sie entdeckte kein bekanntes Gesicht darunter. Die meisten stiegen am S-Bahnhof Pankow aus. Unschlüssig, ob sie mit Straßen- und U-Bahn ins Stadtinnere fahren sollte oder besser die S-Bahn nahm, folgte sie in einem plötzlichen Entschluss dem letzten Aussteigenden.

Ganz entgegen ihrer üblichen Vorsicht besaß sie nicht einmal einen genauen Plan für ihr Vorhaben. Nur nicht lange zögern!, dachte sie, doch ihre Hand zitterte, als sie am Schalter mit leiser Stimme eine Rückfahrkarte verlangte. Niemand stand hinter ihr, und dem alten Mann hinter der Glasscheibe schienen die Fahrgäste höchst gleichgültig. Er fragte nicht nach der Preisstufe, schob ihr das gelbe Pappkärtchen und sechzig Pfennig Wechselgeld hin, ohne den Blick zu heben.

Der Mann in der Abfertigungswanne knipste die Fahrkarte mit gleicher Unaufmerksamkeit. Selbst zwei auf dem Bahnsteig patrouillierende Bahnpolizisten interessierten sich nicht für sie, zumal sie sich vorsichtshalber nach links wandte, zum Gleis nach Bernau. Als der Zug in der Gegenrichtung einfuhr, überquerte sie den Bahnsteig und stieg erst beim Kommando «Türen schließen!» ein. Wie albern sie sich plötzlich vorkam! Sie, eine geborene Berlinerin, war seit Jahren nicht mehr mit der S-Bahn gefahren. Im Grunde war sie überhaupt nicht mehr mit den alltäglichen Gegebenheiten der geteilten Stadt vertraut.

Wollte sie mal ins Zentrum, nahm Max sie morgens mit oder schickte ihr im Verlauf des Vormittags den Dienstwagen. Ihr war das unangenehm, doch Max bestand darauf. Dass sie gelegentlich alleine mit der Straßenbahn bis zur Schönhauser Allee und von dort sogar mit der U-Bahn zum HO-Kaufhaus am Alex fuhr, verschwieg sie ihm ebenso wie die regelmäßigen Verabredungen mit Elke. Kehrte Max spätabends und oft genug erst nachts nach Hause zurück, fragte er sowieso nicht danach, was sie den ganzen Tag getrieben hatte. Nur ihrem Wunsch, sich wieder eine Arbeit zu suchen, widersprach er heftig. «Sei zufrieden, dass du deine Ruhe hast!», lautete sein Kommentar. Erwähnte er in den seltenen gemeinsamen Stunden etwas von den täglichen Widrigkeiten, vom Misstrauen, den Intrigen und Verdächtigungen, welche die Arbeit in den oberen Etagen so schwer erträglich machten, musste sie ihm recht geben. Das war wirklich nichts mehr für sie und ihre angegriffene Gesundheit.

Der Zug hielt. Eine gurgelnde Lautsprecherstimme verkündete unüberhörbar: «Letzter Bahnhof im demokratischen Sektor!» So direkt auf ihr Vergehen hingewiesen, durchfuhr Charlotte ein leichter Schock, der sich angesichts zweier graugekleideter Zöllner noch verstärkte, die suchend durch den Wagen schritten. Charlotte streifte nur ein gleichgültiger Blick. Den Mann am Fenster, der seinen Rucksack vergeblich hinter den Beinen versteckte, wurde zum Aussteigen aufgefordert. Murrend folgte er den Uniformierten.

Endlich fuhr die S-Bahn weiter. Charlotte warf einen Blick auf den Linienplan neben der Tür. Die nächste Station hieß Gesundbrunnen. Am nahen Wedding hatte sie sich einst gut ausgekannt. Mehr als fünfzehn Jahre lag das zurück. Und was für Jahre! Jetzt erinnerte der Name der Station sie nur an Frau Raabe, ihre Haushaltshilfe. Fehlte etwas in der Wirtschaft und war nicht einmal für die bevorzugten Bewohner des Städtchens aufzutreiben, riet die mit ihrer Berliner Kodderschnauze: «Vasuchn Set mal bei de HO Jesundbrunn’! Da jibt et allet.»

Charlotte erschrak. Weshalb war sie so kopflos und unüberlegt losgestürzt?

Der Zug, in dem sie sich befand, erreichte in fünf Minuten wieder den demokratischen Sektor. Am Bahnhof Friedrichstraße musste sie umsteigen, wo eine weitere Grenzpassage bevorstand. Hastig stand sie auf. Stieg sie hier am Gesundbrunnen in den Nordring um, konnte sie über Westkreuz nach Charlottenburg fahren. Das war etwas umständlicher, aber die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten Genossen zu begegnen, war umso geringer. Es sei denn, sie traf die gute Frau Raabe auf dem Weg zu einem Einkauf. Die war zu Max’ Ärger nicht einmal Genossin und sprach ganz offen über ihre Westeinkäufe. Oft genug hatte sie Charlotte angeboten, ihr das eine oder andere mitzubringen, ein gutes Stück Seife oder Tosca, ein Parfum, für das sogar Max eine Schwäche hatte.

Charlotte passte scharf auf, entdeckte in dem Gewusel der Umsteigenden aber weder Frau Raabe noch sonst ein vertrautes Gesicht. Von der Raabe wusste sie, dass sich andere Ehefrauen aus dem Städtchen keineswegs so abstinent verhielten wie sie, wenn es um Besuche in West-Berlin ging. Vor allem unter den sogenannten Kulturschaffenden gab es genügend unsichere Kantonisten, von denen viele noch aus den Jahren ihres Westexils über Kontakte nach «drüben»verfügten und sich keineswegs schämten, die reichlich vorhandene Ostwährung zum Schwindelkurs einzutauschen. Sogar über den Kulturminister selbst wurde derlei und manches andere behauptet.

Charlotte fand einen Fensterplatz. Neugierig starrte sie nach draußen. Alles erschien ihr fremd, bis der Zug am Wedding hielt. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und ein wenig in der vertrauten Gegend herumgeschlendert. Was hinderte sie eigentlich daran, es zu tun? Ein Verbot zu übertreten hatte sie in ihren jungen Jahren keine Sekunde Nachdenken gekostet.

Sie war in Friedrichsberg aufgewachsen, einer Vorstadt im Osten, die seit ihrem Geburtsjahr 1908 auf keinem Pharus-Plan mehr auftauchte und heute zu Friedrichshain gehörte. Zu dritt bewohnten sie in der Kreutzigerstraße Stube und Küche im Hinterhof. Das Gewehr, das der Vater in den heißen Januartagen 1919 mit nach Hause gebracht hatte, blieb so lange in ihrer Matratze versteckt, bis das Kinderbett, dem sie ohnehin um einige Zentimeter entwachsen war, eines Nachts unter ihr zusammenbrach und das Geheimnis preisgab. Das magische Wort Partei, das im Zusammenhang mit dieser Waffe fiel, gehörte zum vertrauten Wortschatz in der Familie. Von Beruf war ihr Vater Parteiarbeiter, wie er der Zwölfjährigen geduldig auseinandersetzte, wobei er sie eindringlich ermahnte, die Partei bei eventuellen Befragungen ungenannt zu lassen.

Als sie sechzehn wurde und die Inflation sich ebenso endgültig verflüchtigt hatte wie die Aussicht auf eine baldige revolutionäre Erhebung der Massen, gehörte sie selbst schon dazu, zum Apparat, in den sie wie selbstverständlich hineinwuchs. Als man den Vater fünf Jahre später zu den sogenannten Versöhnlern zählte und er nur nach harscher Selbstanklage mit einer gelinden Parteistrafe davonkam, verurteilte sie ihn scharf. Gewisser spezieller Aufgaben wegen hatte sie sich weitgehend von den Eltern abgenabelt. In Wahrheit stand sie gänzlich unter dem Einfluss des schwarzlockigen und absolut linientreuen jungen Genossen Jakob Menzel, dessen wahren Namen man ihr erst zehn Jahre später im Verlauf inquisitorischer Vernehmungen und in russischer Sprache vorhielt, so dass sie lange nicht begriff, von wem die Rede war. Ihre einzige Liebe, dieser furchtlose Kämpfer mit dem feurigen Blick aus den so verträumt schimmernden Augen, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Genossen, hieß angeblich Isaak Mendel und war der Spionage für die verhassten Faschisten überführt. Diesem unbeirrbar geradlinigen Menschen, der sie nie belogen oder betrogen hatte, war sie blindlings nach Prag und schließlich – welch ein Glücksgefühl empfand sie! – direkt in die Hauptstadt der Welt gefolgt, wo inmitten all der Enge und täglichen Unruhe die gemeinsame Tochter das Licht der Welt erblickte. Mit welchem Stolz versuchte sie, die Urkunde in der noch fremden Schrift zu entziffern! Elka Jakubowna Menzel. Geburtsort: Moskau. Konnte es bessere Voraussetzungen für die Zukunft eines Kindes geben?

Elka, die eigentlich Elke heißen sollte, war vier, als man Jakob verhaftete und wenige Tage später auch Charlotte vorlud, sie bedrohte, beschimpfte, ihr ins Gesicht schlug und ankündigte, sie ins Lager und Elke in ein Heim zu stecken, würde sie nicht zugeben, von Jakobs verräterischem Treiben gewusst, ja ihn dabei unterstützt zu haben. Halb wahnsinnig vor Angst um die bei der Zimmernachbarin zurückgelassene Tochter, war sie beinahe bereit, alles zu unterschreiben, was man ihr vorlegte, als der hasserfüllte Eifer des Vernehmers unerwartet erlahmte. Drei weitere schreckliche Wochen vergingen, bis man sie plötzlich aus dem düsteren Kerker eher verjagte als entließ. Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen möglichen Grund dafür erfahren. Das Schreiben über Jakobs Rehabilitation verzeichnete den Tag ihrer letzten Vernehmung als den seines Todes in der Lubjanka.

Unter all den fremden Frauen in der stinkenden, überfüllten Zelle hatte sie gelernt, mit der Verzweiflung umzugehen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie ihr blasses und verstörtes Kind wieder in die Arme schloss. Und ein wenig blieb ihr dieses Glück treu. Hielt jemand die Hand schützend über sie, damit sie nicht die Arbeit in der Fabrik und das dürftige Kämmerchen in der drangvollen Gemeinschaftswohnung verlor, in dem sie hausten? Frauen und Angehörige der Volksfeinde verschwanden spurlos in den Lagern, die Kinder in Heimen. Viele wurden nach Deutschland ausgeliefert, sie und Elke jedoch erst nach Kriegsausbruch in eine primitive Siedlung nahe Taschkent deportiert. Dort wären sie gewiss zugrunde gegangen, hätte es nicht den einflussreichen Genossen Max Weidner gegeben, der sich ihrer aus Berlin erinnerte. Ihm gelang es, sie als wichtige Mitarbeiterin nach Ufa mitzunehmen und später sogar zurück nach Moskau kommandieren zu lassen.

Sie wusste, was sie Max zu verdanken hatte, der ihr in unbeholfenen Worten seine Liebe gestand und schwor, ihr ein treusorgender Ehemann und Elke ein guter Vater zu sein. Ein Wort, das er hielt, solange Elke mitspielte. Sie war dreizehn, als sie mit ihrer Mutter und Max nach Berlin kam und die Mädchen in ihrer Klasse sie als Russki hänselten, weil sie besser Russisch als Deutsch sprach.

Diese Erinnerungen gingen Charlotte durch den Kopf, während sie aufmerksam ihre Umgebung beobachtete. In einem Anfall von Leichtsinn beschloss sie, erst in Witzleben auszusteigen, der Station nahe dem Funkhaus. Dort hatte sie in der Frauenredaktion gearbeitet und zusammen mit Max die Stellung verloren. Dass sie ihm an seine neue Wirkungsstätte folgte, wie er die Verbannung in Stralsund beschönigend nannte, schien ihr so selbstverständlich, dass Elkes Weigerung, mit ihnen in die Provinz zu ziehen, sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Elkes achtzehnter Geburtstag stand bevor, mit dem sie in der DDR ihre Volljährigkeit erreichen würde. Sie jedoch beharrte darauf, mindestens bis nach dem Abitur in der Charlottenburger Wohnung zu bleiben. Später begann sie zu Max’ und Charlottes Entsetzen an der vom Osten verachteten Spalteruniversität zu studieren.

Erst da hatte Charlotte begriffen, wie weit ihr die Tochter inzwischen entglitten war, deren heftige Vorwürfe sie fassungslos über sich ergehen ließ. «Du hast mir nie gesagt, wo mein Vater geblieben ist und weshalb du selbst im Gefängnis warst! Weißt du überhaupt, wie ich mich damals in der schrecklichen Wohnung in Moskau gefürchtet habe?»

Nein, darüber war selbstverständlich nie gesprochen worden. Allenfalls in Andeutungen, von denen Max und Charlotte geglaubt hatten, Elke überhöre sie. Im Übrigen nahm die Partei Elkes Entschluss erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Das war für Max das Wichtigste. Ihm fiel es ohnehin schwer genug, sich an seinem neuen Arbeitsplatz Respekt zu verschaffen. Die Museumsleute waren ein reaktionäres Völkchen besonderer Art, die dem Genossen aus Berlin und seinen revolutionären Vorstellungen von der Kunst mit Argwohn, ja mit eindeutiger Ablehnung begegneten. Bei der Untersuchung eines Brandes im Museum stellte sich heraus, wie ungenügend Max über viele Vorgänge informiert war. Vermutlich war der Brand gelegt worden, um einen Einbruchdiebstahl in das nicht ausreichend gesicherte Depot zu verdecken. Max’ Rückberufung nach Berlin kam gerade zur rechten Zeit und ersparte ihm weiteren Ärger.

Als Charlotte aus dem Bahnhof trat, galt ihr Blick zuerst der vertrauten Silhouette des Funkturms. Sie war niemals dort oben gewesen, nicht einmal im Restaurant. Anfangs hatte sie es sich immer wieder vorgenommen, aber Max riet ab. Später verboten die politischen Umstände solche Absichten. Nur von der anderen Straßenseite aus sah sie die Menschenmassen, darunter viel zu viele aus dem Osten, zur alljährlichen Industrieausstellung in die Messehallen strömen.

Sie wandte sich nach links und bog wie gewohnt in die Wundtstraße ein, an deren oberem Ende Elke wohnte. Hoffentlich begegnete ihr kein Bekannter von früher. Aber wer erinnerte sich nach sieben Jahren noch an eine unscheinbare ältere Frau, die hier zweimal am Tag vorbeigehastet war? Zu den Nachbarn, die dem Zonenrundfunk und seinen Mitarbeitern ohnehin misstrauten, hatte es kaum Kontakt gegeben. Elke hingegen war von Anfang an akzeptiert worden.

Bei dem Gedanken, die Tochter gleich in die Arme zu schließen, schlug ihr Herz schneller. Sie blieb stehen, atmete tief ein und schaute hinunter auf den Lietzensee. So idyllisch war ihr die Gegend damals gar nicht vorgekommen. Leute saßen auf den Bänken – Arbeitslose, wie sie vermutete –, Kinder spielten auf dem Rasen. In der wärmenden Maisonne wirkte alles so friedlich, dass sie plötzlich sicher war, alles würde gut ausgehen. Elke hatte sich bestimmt aus reiner Gedankenlosigkeit nicht gemeldet, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Wie die Mutter war sie eine umsichtige und zuverlässige Person, die auf Ordnung hielt. Schon in Moskau, in Taschkent und in Ufa am Ural war das so sorgfältig gekleidete, zierliche Kind mit dem Madonnengesicht jedermann aufgefallen. Immer wieder hatten Frauen versucht, Charlotte zum Tausch oder Verkauf abgelegter Kleidungsstücke zu überreden, nur war da nichts zu tauschen gewesen. Jeder Fetzen Stoff wurde gebraucht, damit ihre Elke nicht abgerissen herumlief wie die anderen Kinder.

Erst in letzter Zeit war ihr aufgefallen, dass Elke anscheinend etwas weniger auf ihre Kleidung achtete, das rabenschwarze Haar manchmal strähnig wirkte. Sie schwieg dazu, um die viel zu seltenen Treffen mit der Tochter nicht durch Gemecker zu belasten. Oder hatte Elke ihr etwa doch eine Bemerkung übelgenommen, ohne dass es ihr aufgefallen war?

Was hatte sie falsch gemacht, das eine solche Kluft zwischen Elke und ihr rechtfertigte? Gewiss, in den Jahren beim Rundfunk war viel zu wenig Zeit für die Heranwachsende geblieben. Elke hatte ihr eigenes Leben geführt, das äußerlich keinen Grund zur Beunruhigung bot. Was wirklich in dem Mädchen vorging, war Charlotte verborgen geblieben. Auch jetzt wusste sie im Grunde nicht mehr über ihre Tochter, als dass sie studierte. Publizistik und Theaterwissenschaft. Und dass sie für Brecht schwärmte und öfter das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm besuchte. Ein ideologischer Hoffnungsschimmer für Charlotte, während Max aus seinem Misstrauen gegen den «Augsburger», wie er Brecht stets betitelte, kein Hehl machte. Wo Elke politisch wirklich stand, vermochte Charlotte nicht einmal zu erraten. Den knappen, nur flüsternd vorgetragenen Bericht über die Schreckenszeit in der Haft, zu dem sich Charlotte nach dem Parteitag in Moskau überwand, hatte Elke mit Schweigen quittiert. Davon, dass ihr Vater inzwischen rehabilitiert worden war, ahnte sie nichts. Auch deshalb musste sie unbedingt mit Elke reden.

Vor dem Haus angelangt, fiel ihr die renovierte Fassade auf. In dem ehemaligen Antiquitätengeschäft residierte eine Fahrschule. Ein chices Auto stand vor der Tür und dahinter ein Gefährt mit gläsernem Dach, das an ein Kleinstflugzeug erinnerte.

Es hatte sich noch mehr geändert. Die stets offenstehende Haustür war verschlossen, links in der Wand war eine Klingelleiste installiert. Menzel las sie dort und hinter einem Schrägstrich einen zweiten Namen: U. Losinski. Richtig, Elke hatte vor einiger Zeit ihre Absicht erwähnt, der steigenden Miete wegen einen Untermieter aufzunehmen. Entschlossen drückte Charlotte auf den Klingelknopf. Ein scharfes Klicken ertönte, dann quäkte eine Männerstimme: «Bin schon unterwegs!»

Ratlos starrte Charlotte die Tür an. «Das ist ein Missverständnis», sagte sie dann. «Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

Eine Antwort blieb aus.

Sie drückte erneut auf den Knopf. Nichts. Dann die sich überschreiende Männerstimme, die ungeduldig «Ja doch!» hervorstieß. Kurz darauf vernahm Charlotte das Zuknallen der Wohnungstür im Treppenhaus. Sie kannte das vertraute Geräusch noch.

Schritte polterten die Treppe herab, die Haustür wurde aufgerissen. Ein baumlanger junger Mann wollte an ihr vorbeistürmen. Sie hielt ihn am Ärmel fest. «Herr Losinski?», fragte sie.

Überrascht blickte er auf sie hinab. «Ja, bitte?»

«Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

Sein Befremden wuchs sichtlich. «Die ist nicht da», sagte er barsch und wollte gehen, nicht ohne die Frau, die noch immer seinen Arm umklammerte, mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. «Was wollen Sie denn von ihr?»

«Ich bin ihre Mutter.»

Er schien zu erschrecken. «Sie ist trotzdem nicht da», sagte er ablehnend, doch immerhin eine Spur höflicher.

«Und wann kommt sie wieder?»

«Keine Ahnung.» Es war klar, dass er an einem Gespräch mit ihr nicht interessiert war.

«Sie wohnen doch mit ihr in derselben Wohnung!»

Moralische Skrupel waren Charlotte fremd. Aber wenn eine bildhübsche 25-jährige Frau und ein Mann, der nur ein wenig älter sein konnte, gemeinsam in einer Zweieinhalbzimmerwohnung lebten, sah das nach einer engeren Beziehung aus.

«Elke ist zurzeit nicht hier», äußerte der Mann vage. Das Thema schien ihm nicht zu behagen. «Tut mir leid, ich muss los.»

Charlotte besann sich nicht lange, versperrte ihm den Weg in Richtung auf das rote Kleinflugzeug. «Einen Moment werden Sie wohl noch Zeit für mich haben», sagte sie kühl. «Wo ist meine Tochter?»

Er wich ihrem Blick aus.

Der Kerl gefiel Charlotte überhaupt nicht. Sein Äußeres wirkte ungepflegt, der Bartflaum zottelig, das Haar zu lang. Passte es zu Elke, sich mit so einem einzulassen?

«Kann ich nicht sagen», murmelte er, wobei er sich nach allen Seiten umblickte, als könnte jemand sie beobachten. «Sie wird sich schon wieder melden.»

So leicht war Charlotte nicht abzuschütteln. Sie sagte laut und bestimmt: «Ich möchte wissen, wo sich meine Tochter aufhält! Und ich erwarte eine vernünftige Antwort von Ihnen.»

Ihm war anzumerken, wie lästig sie ihm wurde. «Ich weiß es nicht», sagte er unbestimmt. «Sie ist weggefahren …» Er wandte sich um und klappte die Glaskanzel des Fahrzeugs auf.

«Wenn Sie mir keine Auskunft geben wollen, muss ich mich wohl an die Polizei wenden», sagte Charlotte.

Er erschrak. «Lassen Sie das lieber sein!», sagte er halblaut und ein wenig drohend, wie ihr schien. «Sie bringen uns in Teufels Küche!»

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