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KAPITEL 1 Einführung
Оглавление„Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein.“ Das schreibt der Apostel Paulus von Tarsus in seinem ersten Brief an die christliche Gemeinde von Korinth (14,10f – zitiert, wie immer in diesem Buch, nach der Lutherbibel 2017) etwa um das Jahr 55 nach Christus. Der Brief an die griechische Gemeinde, die er ein paar Jahre zuvor offenbar selbst gegründet hatte, gilt als eines der ältesten christlichen Dokumente – der Schluss liegt nahe, dass das Christentum sich schon immer, selbst in seinen ersten Tagen, mit der Kraft und den Grenzen der Sprache, auch der Sprache ihrer eigenen Verkündigung, beschäftigt hat.
Wer sich heute mit der Sprache der Kirche auseinander setzt, fußt also auf einer reichen Tradition, denn das zentrale Mittel des Christentums zur Verkündigung war und ist die Sprache. Zwar verkünden unter anderem auch gute Werke, Liturgie, Sakramente, Musik und Bauwerke ihre Botschaft – doch bleiben sie am Ende stumm, wenn nicht das Wort, das Evangelium, eben die Sprache dazu kommt, die erklärt, warum man etwas tut oder sagt oder zeigt. Ein Christentum und eine Kirche ohne Sprache sind schlicht nicht denkbar. Die Kirche ist gegründet auf dem Wort und erneuert sich auch immer wieder durch das Wort.
Nun gelingt der Kirche die Verkündigung seit rund 2.000 Jahren, und das ist, trotz aller Fehler, Verirrungen und Sünden, schon eine immense, ja fast beispiellose Dauer für eine menschliche Institution. Dennoch scheint die Sprache der Kirche und die Kirche selbst in einer Krise zu stecken, und dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten, diese Krise zu ergründen. Drei Anstöße dazu:
Unter dem Titel „… und das ist auch gut so!“ hielt die Pfarrerin Kerstin Söderblom beim 33. Evangelischen Kirchentag in Dresden Anfang Juni 2011 im Festsaal des noch leicht sozialistisch angehauchten Kulturpalastes vor großem Publikum einen zentralen Vortrag des Kirchentags zu einer „Theologie der Vielfalt“. Dieser Vortrag, der noch heute im Archiv des Deutschen Evangelischen Kirchentags nachzulesen ist, schildert in einer fast perfekten und sehr gedrängten Weise, was in diesem Buch für die derzeitige kirchliche Sprache so typisch wie problematisch ist.
Die Pastorin lädt in ihrer kurzen Einleitung zu einer „Werkstatt“ ein, die „vom Mitdenken und Mitmachen“ lebe. Ihre Theologie der Vielfalt suche Wege, die Unterschiede in den Lebensformen der Menschen „konstruktiv aufzunehmen, sodass alle Beteiligten in Kirche und Gesellschaft respektvoll miteinander leben und voneinander lernen können“. Diese Theologie könne „nicht ‚von oben‘ verordnet werden, sondern wächst von der Basis her durch gemeinsames verantwortliches Handeln“. Es solle ein Klima von „Achtsamkeit und Respekt“ entstehen und zugleich die vorhandenen „Macht-, Unrecht- und Gewaltstrukturen in Kirche und Gesellschaft“ erkannt, benannt und analysiert werden. Für eine Theologie der Vielfalt brauche es „Gerechtigkeitssensibilität und aktive Verantwortungsübernahme“ sowie „Differenzsensibilität“. Es gehe darum, dass Menschen sich gegenseitig bereicherten. „Die Fähigkeit, Unterschiede wahrzunehmen, diese wertzuschätzen und nicht abzuwerten“, helfe, „mit Vielfalt kreativ und lebendig umzugehen“. Alle seien „aufgerufen“, sich an diesen ethischen Debatten und „Klärungen“ zu beteiligen.
In ihrem ebenso knappen Ausblick fordert die Theologin, dass die Mitglieder der queer community „als Subjekte ihrer Erfahrungen, ihrer Fähigkeiten und Qualifikationen beteiligt“ sein sollten. „Aus Betroffenen Beteiligte machen“ sei das Motto und das Ziel einer Theologie der Vielfalt. Man wolle den Kirchen „ein menschlicheres und gastfreundlicheres Gesicht“ geben. Niemand habe per se die richtigen Antworten, aber dies sei nun einmal „ein Suchprozess, der alle herausfordert“. Dieser Suchprozess ermutige einzelne Personen, Gemeinden bis hin zu Organisationen, „sich offen, respektvoll und gastfreundlich“ gegenüber denen zu präsentieren, die anders seien als man selber. Dafür brauche es auch „Begegnungsorte“. Eine Theologie der Vielfalt könne weiter entwickelt werden, und zwar „praktisch konkret, inhaltlich kritisch und prophetisch visionär“. Nötig seien dazu „Zivilcourage, Mit-Leidenschaft und Solidarität, um Benachteiligte und Schwächere zur Teilhabe und Teilnahme zu ermutigen und zu ermächtigen“.
Man ahnt im besten Fall, was sie sagen will, die Pastorin, die seit 2014 als Studienleiterin und Pfarrerin beim Evangelischen Studienwerk in Villigst in Westfalen arbeitet, einer Kaderschmiede der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Aber versteht das irgendjemand außerhalb der Kirche? Warum diese Sprache? Woher kommt sie?
Der zweite Anstoß: Sandra Bils ist Pastorin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Honorarprofessorin für Missionarische Kirchenentwicklung an der CVJM Hochschule Kassel. Am 23. Juni 2019 hat sie im Signal Iduna Park, dem früheren Westfalenstadion, wo der Fußball-Bundesligist BVB Dortmund spielt, die Ehre, die Predigt beim Abschlussgottesdienst des Kirchentags zu halten, zu dem nach Angaben der Veranstalter wieder über 120.000 Teilnehmer kamen, TV-Live-Übertragung eingeschlossen – eine fast einmalige Chance der Verkündigung. Die Theologin Bils will über den Hebräerbrief des Neuen Testaments (Hebr. 10.35–36) predigen – und sie will originell, wahrscheinlich auch ein wenig ruhrpottisch sein. Deshalb sagt sie, dass dieser Brief ein „Arschtritt“ sei. Es finden sich in ihrer Predigt unvermittelt Formulierungen wie „Chakka – du schaffst es!“ oder „… die ihr nicht klarkommt, bei denen es gerade nicht so läuft im Leben“. Bils sagt: „Jesus ist der Türsteher, der weiß, wie es ist, als Letzter bei den Bundesjugendspielen durchs Ziel zu gehen und wieder keine Siegerurkunde zu bekommen.“ oder „Das sind wir: Gottes geliebte Gurkentruppe.“ Jesus schaue nicht auf „die Siegerurkunde der Bundesjugendspiele“ oder den „Body-Mass-Index“. „Nur mal angenommen“, sagt die Pastorin, „wir würden das echt durchziehen, dieses Vertrauen …“ Und sie regt neue Formen von Kirche an: „Kirche als rollende Frittenbude: Glaube, Liebe, Currywurst.“
Auch hier die Frage: Warum sagt sie das so? Was und wen will sie damit erreichen?
Der dritte Anstoß: Im Jahr 1971 schrieb der angesehene evangelische Theologe Gerhard Ebeling (1912–2001), ein Schüler Rudolf Bultmanns und Dietrich Bonhoeffers, ein Mitglied der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit und späterer Theologie-Professor u.a. in Tübingen, in seiner „Einführung in theologische Sprachlehre“ (sic!): „Überdruß an der Sprache. Überdruß am Wort – so läßt sich formelhaft andeuten, was die heutige Krise des Christentums ausmacht, worin sie ihre tiefste Wurzel hat. Das Vertrauen auf das, was für das Leben des christlichen Glaubens, zumal in dessen reformatorischer Gestalt, konstitutiv ist: nämlich auf das Wort, ist weitgehend geschwunden.“ Und: „Auch bei denen, die Christen sein wollen und sich als solche bekennen, entsteht eine tiefe Unsicherheit über die Sprache des Glaubens. Die überlieferte christliche Sprache weiß man nicht so zu gebrauchen, daß sie redlich und wirksam im heutigen Kontext zur Geltung kommt. So rückt sie in den Rang einer Fremdsprache, deren man sich allenfalls nur noch in Ausnahmesituationen bedient. Für das alltägliche Leben gerät der Glaube weithin in Sprachlosigkeit und muß entsprechend verkümmern … So erzeugt die Sprachunsicherheit schließlich einen Überdruß am christlichen Wort. Man wird dessen müde, sich einer Sprache zu bedienen, zu der man in einem gestörten Verhältnis steht.“ Schließlich: „Die überlieferte Sprache des christlichen Glaubens bedarf einer Interpretation, weil sie – aufs Ganze gesehen – nicht mehr unmittelbar die unsere sein kann.“
Das bedeutet, schon vor fast einem halben Jahrhundert erkannte manch hellsichtiger Kopf die Problematik der Sprache des Glaubens. Denn sie beschreibt das Unbeschreibliche, versucht es zumindest – „Denn wie soll das gehen, von Gott sprechen?“, fragt der Theologe und Dichter Christian Lehnert in einem denkwürdigen Vortrag an der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M. Anfang 2019, auf den wir noch zurückkommen. Der Glaube bewegt sich, so er sich selbst beschreiben soll, an der Grenze des Sagbaren – und es ist ganz natürlich, dass die kirchliche Sprache an dieser Grenze oft verrutscht, unpassend wirkt und sich im besten Fall ihrer eigenen Schwächen bewusst ist, wenn sie ehrlich zu sich ist. Gleichzeitig bleibt es ihr Auftrag, zu sprechen, zu verkünden, sie kann sich nicht wie Wittgenstein elegant aus der Affäre ziehen mit der demutsvollen Aussage: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Deshalb schreiben wir über die kirchliche Sprache – nicht als Besserwisser, aber ernsthaft, und hoffentlich nicht ohne Humor. Dieses Buch widmet sich dabei ausdrücklich der kirchlichen Sprache.
Der Begriff ist etwas unscharf. Denn innerhalb der kirchlichen Sprache gibt es verschiedene Teilsprachen, die leicht unterschiedlich klingen, weil sie verschiedene Funktionen haben oder von unterschiedlichen Menschen gesprochen werden.
So gibt es die biblisch-liturgische Sprache des Gebets und des Gottesdienstes. Sie ist meist sehr alt, dient in der Regel der inneren Sammlung, wird aus guten Gründen in der Regel nur zaghaft verändert, hat oft einen poetischen Einschlag und richtet sich vor allem an die Gläubigen, oder vorsichtiger gesagt: die Menschen im Gottesdienst.
Eine weitere Teilsprache der kirchlichen Sprache ist die theologische Fachsprache der akademischen Welt. Sie dient wie alle wissenschaftlichen Fachsprachen der internen, oft verknappten Kommunikation der Wissenschaftsgemeinde, der scientific community. Sie schleppt eine fast 2.000-jährige Geschichte mit sich, erfordert viel Vorwissen und wird von Nicht-Fachleuten meist nur schwer verstanden.
Es gibt die besondere Teilsprache der Predigt in der Kirche. Die Predigtsprache ist der biblisch-liturgischen Sprache nahe, denn natürlich finden sich in ihr Gebete und Bibelzitate, die die biblisch-liturgische Sprache prägen. Auch theologische Fachausdrücke nutzt sie recht oft, manchmal zu oft. Vor allem aber wird die Predigtsprache bestimmt durch ihren appellativen Charakter, ihr Ziel der Seelsorge und die direkte Ansprache an eine Zielgruppe, die vor allem aus Christinnen und Christen besteht, bei denen also religiöses Vorwissen vermutet werden darf und ein gewisser Predigt-Duktus geradezu erwartet wird.
Ihr nahe ist die Sprache der Verkündigungssendungen in öffentlich-rechtlichen Sendern, die seit Jahrzehnten tausendfach unser Bild von der kirchlichen Sprache prägen – das „Wort zum Sonntag“ ist die bekannteste Verkündigungssendung der Bundesrepublik. Die Verkündigungssendungen sind in den Staatsverträgen der öffentlich-rechtlichen Sender vorgeschrieben. Viel Mühe steckt in ihnen, die Volkskirchen stellen eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab, die sich um sie kümmern – die Sender haben so gut wie keinen Einfluss auf sie. Wegen der Kürze dieser Sendungen (oft nur wenige Minuten) und die meist völlig diffuse Zielgruppe aus Gläubigen, Nicht-Gläubigen und Desinteressierten am Fernseher, Radio oder Rechner hat sich bei den Verkündigungssendungen ein ganz eigener Duktus heraus gebildet, der schon oft reformiert werden sollte und häufig karikiert wurde – aber offenbar nur schwer zu ändern ist.
Die kirchliche Sprache hat als Teilsprache die kirchenintern-synodale Sprache, die vor allem in Kirchenverwaltungen oder auf Synoden, also Kirchenversammlungen, zu hören ist. Am auffälligsten ist auf den recht häufigen evangelischen Synoden die Anrede als „Bruder“ und „Schwester“, also zum Beispiel: „Bruder Huber“ oder „Schwester Schwaetzer“. Hier mischen sich biblisch-liturgische Versatzstücke, Elemente der Predigtsprache und theologische Fachausdrücke mit einer Politik- und Verwaltungssprache.
Schließlich gibt es noch als vielleicht kleinste Teilsprachen der kirchlichen Sprache die Sprache der kirchlichen Verlautbarungen (also vor allem „Denkschriften“ oder Gemeinsame Worte der Volkskirchen zu gesellschaftlich-politischen Themen), die Pressemitteilungen vor allem der bischöflichen oder landeskirchlichen Medienabteilungen (von denen es, geschätzt, immerhin rund 50 gibt) und die ganz eigene Sprache der Evangelischen Kirchentage und Katholikentage beziehungsweise seit ein paar Jahren der Ökumenischen Kirchentage. Kirchentage oder Katholikentage sind eine deutsche Besonderheit, die seit rund 170 Jahren existiert, vor allem „einfache“ Gläubige anspricht und mit großen Schwankungen und Pausen Jahr für Jahr bis zu 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer anlockt – auch die dort gesprochene Sprache hat die kirchliche Sprache beeinflusst, wie wir zeigen werden.
All diese Teilsprachen der kirchlichen Sprachen beeinflussen sich logischerweise gegenseitig, denn ihre Trägerinnen und Träger sind ja im ständigen Austausch miteinander – und deshalb gibt es nach unserer Ansicht und nach der Ansicht der von uns befragten Fachleute eben doch eine übergreifende, ganz eigene kirchliche, viel zu oft blutleere Sprache, der wir uns in diesem Buch widmen wollen.
Die kirchliche Sprache ist Fluch (und Segen) der Kirchen in der Bundesrepublik, in jedem Fall von enormer Bedeutung, denn das Wort ist nach wie vor ihr zentrales Verkündigungsinstrument in die Gesellschaft hinein – oder, kirchlich gesprochen, an die Mitmenschen. Eine Kirche, die mit ihrer Sprache nur noch die Ihrigen, die Gläubigen, erreicht und nur noch von ihnen verstanden wird, verliert sich in einer selbst gewählten Wagenburg, in einer splendid isolation. Um es mit einem Jesus-Wort zu sagen: „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.“ (Markus 2,17). Oder, um es etwas moderner mit dem Jahrhunderttheologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer auszudrücken: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Das heißt, etwas überspitzt gesagt: Wo die Kirche nur noch in den Innenraum spricht oder aufgrund ihrer ganz eigenen Sprache nur noch von ihren Gläubigen verstanden wird, verfehlt sie ihren wichtigsten Auftrag, hört auf, Kirche zu sein.
Aber es gibt ein Problem mit dieser kirchlichen Sprache: Bei der Recherche zu diesem Buch haben wir festgestellt, dass es, auch und gerade in Kirchenkreisen, einen „Überdruß an der Sprache“, an der kirchliche Sprache gibt – und gleichzeitig keine oder nur sehr wenig Literatur dazu. Gelegentlich erscheinen in der einschlägigen Fachpresse kleinere Artikel zur Kirchensprache – so etwa im „Kirchenbote Osnabrück“ im August 2019 eine Sammlung von 17 Wörtern des Kirchenslangs. Überschrift: „Wenn Kirchensprech nervt“. Ein verwandtes Beispiel ist eine Sammlung von knapp 50 Redewendungen wie etwa „Das Gewordene und das Gewesene“ oder „Gott sieht Ihre Sorgen“, die die evangelische Monatszeitschrift „chrismon“ im gleichen Jahr unter der Überschrift „Lexikon Evangelisch-Deutsch“ auf einer Seite veröffentlichte (06.2019) – samt einem ziemlich peinlichen roten Button „Achtung Satire!“, der hoffentlich ironisch gemeint war.
Der evangelikal angehauchte Journalist und Publizist Andreas Malessa hat schon vor Jahrzehnten „Das fromm-deutsche Wörterbuch“ heraus gegeben, das in unterschiedlichen Auflagen auch andere Titel trägt. Er konzentriert sich jedoch vor allem auf die Sprache, die in evangelikal-pietistischen Kreisen gesprochen wird, und dies ist nur ein kleiner Teil der kirchlichen Sprache, wie wir sie heute kennen, auch weil diese besonders frommen Gruppen des Protestantismus immer kleiner werden. Früher nannten manche diese besonders fromme, heute vor allem evangelikal geprägte Sprache „Die Sprache Kanaans“. Ein schöner Ausdruck, denn er zeigt ja an, dass sie geheimnisvoll ist – aber auch fast verschwunden. Uns geht es aber um die noch ziemlich lebendige, öffentliche Sprache der Kirche.
Der katholische PR-Mann und Publizist Erik Flügge hat vor ein paar Jahren die richtige Nase gehabt und „Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“ geschrieben. Es wurde ein Bestseller, was zeigt, dass es Interesse an diesem Thema gibt, obwohl die Zahl der Christinnen und Christen seit Jahrzehnten kontinuierlich abnimmt und bald die Hälfte der Deutschen keine Christen mehr sein wird. Allerdings ist Flügges Ansatz ein stark subjektiver, es ist ein großer, wortgewaltiger und schmissiger Appell, was die Kirche besser machen sollte mit ihrer öffentlichen Ansprache (und hier drängt sich der berufliche Hintergrund des Autors stark nach vorne). Die analytischen Passagen treten dagegen stark zurück, weshalb dieses Buch in Kirchenkreisen nicht sehr ernst genommen wurde – und die Wissenschaft es fast links liegen gelassen hat.
Wir hoffen dagegen, dass wir in diesem Buch etwas weiter und tiefer schürfen können, journalistisch-beschreibende Passagen wollen wir begrenzen. Wir haben uns bemüht, mit wichtigen Stimmen in der Theologie, in der Kommunikations- und Geschichtswissenschaft sowie in der Kirchenleitungsebene über das Phänomen der heutigen kirchlichen Sprache zu sprechen – oder mit Intellektuellen, denen wir ein besonderes Gefühl für die (kirchliche) Sprache unterstellten. Die in diesem Buch zu lesenden Zitate dieser Fachleute stammen aus exklusiven (und autorisierten) Interviews, die wir mit ihnen zum Thema „kirchliche Sprache“ geführt haben. In der Regel bekamen wir dabei zu hören, dass dies ein wichtiges und drängendes Thema sei, zu dem aber bisher eigentlich nichts Ernsthaftes erschienen sei. Wir konnten sicherlich nicht mit allen Fachleuten sprechen, die vielleicht Wichtiges zu unserem Thema hätten beitragen können. Aber wir hoffen, dass wir doch die wichtigsten Fragen und Probleme ansprechen können. Und wir haben ein Glossar erstellt, dass die typische kirchliche Sprache in einzelnen Worten umfasst – auch das wäre natürlich jederzeit zu ergänzen.
Die Grundthese dieses Buches ist es, dass die kirchliche Sprache von heute zwar einen weiten Vorlauf bis in die Reformationssprache hat – die daraus in den folgenden Jahrhunderten entstandene „Sprache Kanaans“ aber heute nicht mehr von großer Prägekraft ist. Wichtiger für die heutige kirchliche Sprache ist das für Deutschland so prägende protestantische Pfarrhaus, die Kirchentage der vergangenen Jahrzehnte und die soziologische und vor allem sozialpädagogische Sprache der Siebziger- und Achtzigerjahre, womöglich in Reaktion auf die Sprache der Nationalsozialisten, von der man sich absetzen wollte. Es sind konfessionelle Unterschiede aufzuzeigen, die es auch bei der kirchlichen Sprache gibt. Die kirchliche Sprache verschweigt viel, sie kennt Sprachlosigkeiten – und sie vertuscht Macht, Hierarchien und auch Gewalt. Sie ist in weiten Teilen eine Sprache der Vorsicht, ja der Angst, sie meidet Klarheit und verdeckt Verantwortung. Sie simuliert eine Nähe, ja manchmal gar eine Sinnlichkeit, die sie in Wahrheit gar nicht besitzt. Die kirchliche Sprache ist gefärbt von einem ganz bestimmten Milieu, dem Bürgertum, was ihre Schwäche, aber auch zum Teil ihre Stärke ist. Sie wird von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, wirkt aber auch auf sie zurück. Die Sprache, die wir untersuchen, hat Vorteile, weshalb sie sich etablieren konnte und sich so hartnäckig hält. Sie hat aber auch Nachteile, die größer sind, ja womöglich einen Teil der Krise der Volkskirchen ausmachen. Zum Schluss fragen wir: Nutzen die Kirchen vielleicht diese weiche, unklare Sprache, weil es ihr selbst an Klarheit, Kraft oder gar festem Glauben fehlt? Sollte man diese Sprache überwinden? Und wie könnte das geschehen?
Die folgenden Kapitel sollen diese Thesen erläutern und belegen. Voran gestellt sei ein hartes Wort des Schweizer evangelischen Theologen Rudolf Bohren (1920–2010), der unter anderem beim evangelischen Jahrhunderttheologen Karl Barth studiert hatte und ab 1974 viele Jahre an der Universität Heidelberg eine Predigtforschungsstelle aufbaute. In einem Referat vor evangelischen Kirchenmusikern hat Bohren schon 1978 überspitzt gesagt: „In einer Zeit, da die Kirche unglaubwürdig erscheint, kann nicht genau genug auf die Worte geachtet werden; denn die Kirche erscheint nicht deshalb als unglaubwürdig, weil sie es zu genau nimmt mit dem Wort, sondern weil sie zu viel lügt.“