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3. Mahlzeit

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Kurz nach der üblichen Seenotrettungsübung vor Ablegen des Schiffes, der einzigen Pflichtveranstaltung für alle Passagiere während der Reise, bei der ich die Schwimmweste anlegen musste, ging ich noch einmal in die Kabine. Ich machte mich rasch frisch, um zum Abendessen zu gehen. Es gab drei Buffetrestaurants an Bord der „Bella Auranta“ und ich entschied mich für das „Vista Belissima“ auf Deck 11. Ich weiß nicht, ob das die klügste Entscheidung gewesen war – die kleineren Tische waren alle schon besetzt, vor den Buffets wuselten die Leute mit ihren Tellern in der Hand hektisch durcheinander, als hätten sie drei Jahre nichts zu essen bekommen und man musste Schlange stehen, ehe man dazukam, sich etwas zu nehmen. Vielleicht hätte ich in eines der Bedienrestaurants gehen sollen, aber ich war nun einmal hier und auch hungrig genug, um dazubleiben.

Ich packte mir etwas aus den Schüsseln mit Antipasti auf meinen Teller. Mit Frischkäse gefüllte Paprika, getrocknete Tomaten, Oliven, Auberginenstreifen, halbe Cherrytomaten, kleine Zwiebeln und Salate. Damit strich ich durch die Reihen der Tische, um einen Platz zu finden. Und an einem großen Neunertisch wurde ich tatsächlich schnell fündig.

„Darf ich – ist hier noch frei?“, fragte ich in die Runde der anderen Leute, die im Kreis herumsaßen und sich die Bäuche vollschlugen.

Einer nickte kauend und brachte ein „Gern!“ mit vollem Mund heraus, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Sie kennen das: Wenn man isst und dabei „Mops“ sagt, dann passiert etwas.

Ich setzte mich, stellte meinen Teller vor mich hin, griff zur Serviette und breitete sie auf meinen Schenkeln aus, goss mir Mineralwasser in ein Glas und griff zum Besteck.

„Guten Appetit!“ krächzte einer aus der Runde, ein Mann, scheinbar um die Neunzig, der nicht mehr sehr fit aussah, aber es bis aufs Kreuzfahrtschiff und ins Restaurant geschafft hatte. Er hatte wirres schlohweißes Haar, das ihm weit vom Kopf abstand, und trug ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift „1976 San Francisco“. Insgesamt sah er aus wie „Doc Brown“ aus „Zurück in die Zukunft“. Er stellte sich uns auch gleich vor und sagte, wir sollten ihn „Blasius“ nennen. War das nun der Vorname oder der Familienname? Egal! Ich dankte ihm und betrachtete verstohlen die anderen Frauen und Männer am Tisch. Ein schlanker Fünfziger erinnerte vom Aussehen her an einen Klempner, der einst in meiner Wohnung gearbeitet hatte. Da er in die Toilettenleitung bohrte und das Bad unter Wasser setzte, hatte ich ihm insgeheim den Spitznamen „The Loser“ verpasst und dafür gesorgt, dass die Firma, eine frühere DDR-Sanitär-PGH, mir später jemand anderes schickte, wenn etwas kaputt war. Der Bursche hier mir schräg gegenüber sah mit seinem schmalen, aber nicht unangenehmen Gesicht und den etwas abstehenden Ohren diesem Nichtskönner zweifelsohne sehr ähnlich, und ich musste grinsen.

Sehr liebevoll miteinander turtelte ein Pärchen, das links neben mir saß und mir freundliche Blicke zuwarf. Sie hatten zwar auch schon das vierte Jahrzehnt hinter sich, aber sie wirkten ungemein vertraut und verliebt. Sie sahen sich immer mal wieder gegenseitig an, während sie auf ihren Tellern gabelten und einmal legte er seine linke Hand auf ihre Rechte. Sie sah ihn sofort an – ihre Augen sagten alles. Ich überlegte, ob sie sich vielleicht auf der Hochzeitsreise befanden, aber schließlich ging mich das nichts an. Der Rest am Tisch war durchwachsen vom Alter her bis auf Blasius und dessen Frau, eine Blondine von etwa fünfundachtzig Jahren, die genauso viele Falten im Gesicht hatte wie kurzgeschorene blondierte Haare auf dem Kopf und auch ein fetziges Shirt trug mit dem Aufdruck „Auch böse Frauen kommen in den Himmel“. Ich bewunderte insgeheim die beiden Alten, weil sie so sehr aus der Zeit gefallen waren und auch, weil sie sich noch einmal auf große Fahrt begeben hatten. Sie merkten wohl, dass ich sie anschaute, und sie warfen mir ein Lächeln zu. Ehrlich – ich mochte sie auf Anhieb.

Von einem der Nachbartische kam lautes Geschimpfe. Einer der dort Essenden regte sich auf, dass wir bei der Rettungsübung über eine halbe Stunde nur herumgestanden hatten, ehe es losging. Natürlich waren wieder einmal die fehlenden Passagiere daran schuld gewesen, die es nicht für nötig gehalten hatten, rechtzeitig zur Musterstation zu kommen. Trotz des Alarmsignals, das die Übung ankündigte, hatten sich drei Fehlende weiter im Pool auf dem Sonnendeck vergnügt. Zwei andere waren noch voll beim Sex zugange, als ein Mitglied der Crew ihre Meerblickkabine kontrollierte, um das Evacuated-Schild anzubringen. Und in einer Innenkabine hatte man ein alleingelassenes schlafendes Baby gefunden, dessen Eltern drei Decks tiefer mit Rettungswesten am Körper auf den Beginn der Übung warteten.

Beim Nachtisch kam es an unserem Tisch beinahe zum Eklat. Eine der Damen hatte den „Loser“ gefragt, warum er allein reise. Der wackelte bedenklich mit dem Kopf, ehe er erklärte, dass eigentlich sein Vater hätte mitkommen sollen. Aber der sei plötzlich verstorben. An einem Blutsturz. Und der Loser begann anschaulich vorzuführen, wie seinem Erzeuger das Blut aus dem Mund gekommen und über die Brust gelaufen war.

Alle legten die Löffel und Gabeln weg. Auch ich fand das eklig.

„Wir essen!“, sagte der männliche Teil des Liebespaares. Er schüttelte den Kopf. „Hören Sie auf – das ist ja schrecklich!“

Wir waren alle froh, als der „Loser“ wieder wortlos mit einem beleidigten Gesicht an seinem Vanilleeis mit Blaubeersauce löffelte, endlich aufstand und verschwand. Unser Tisch leerte sich. Die meisten waren satt. Das Liebespaar, „die Überglücklichen“, wie ich sie taufte, sagte „tschüss“, und auch die beiden Alten gingen weg. Nur zwei Frauen mit raspelkurzen Haaren, nicht älter als dreißig, in geblümten Hosen und farbigen Hängern, schaufelten noch Berge von Essen in sich hinein.

Auch ich erhob mich. Ich würde nachher noch einmal in eines der anderen Restaurants gehen, um etwas Warmes zu mir zu nehmen. Und ich konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – nämlich essen und mich gleichzeitig ein bisschen nach Paul umschauen. Bis jetzt hatte ich noch keine Spur von ihm gesehen. Nicht beim Check-in im Hamburger Terminal, nicht bei der Rettungsübung und auch nicht hier oben. Das war nicht verwunderlich bei mehreren tausend Passagieren an Bord.

Ich sah mich trotzdem nach ihm um, bevor ich das „Vista Bellisima“ verlassen wollte. Schaute nach rechts, nach links, blieb mal hier und mal dort stehen. Und wurde fast über den Haufen gerannt. Jemand rempelte mich an. Etwas Heißes schwappte auf meine helle Hose und verunzierte sie mit einem hässlichen großen braunen Fleck. Wütend wandte ich mich zur Seite und dem Übeltäter zu.

Es war eine Übeltäterin. Und was für eine! Sie sah so gut aus, dass mir der Atem stockte, als ich sie sah. Schulterlanges braunes Haar, ein gebräuntes hübsches Gesicht, das jetzt erschrocken wirkte, graugrüne Augen, eine lustige Stupsnase und ein verlockender, leicht geschminkter Mund. Meine Blicke glitten unauffällig an ihr herab und entdeckten, dass sie die perfekte Figur hatte, die durch das ausgeschnittene hellblaue Shirt und die enganliegende dunkelblaue Capri-Jeans voll zur Geltung kam.

„Ach, mein Gott!“, entfuhr es ihr. Sie erstarrte und hielt die Schüssel mit Gulaschsuppe in der rechten Hand von mir fort, aus der mir etwas auf meinem Hosenbein gelandet war.

„Sagen Sie doch nicht Gott zu mir“, sagte ich und griff zu einer Serviette vom nächstbesten Tisch, um an meiner Hose herumzureiben.

„So geht das nicht heraus“, jetzt lächelte sie. Ihre Stimme klang angenehm, mit einem leichten österreichischen Touch. „Es tut mir ja so Leid. Ich habe Sie nicht gesehen, weil ich anderen Leuten ausweichen musste. Es ist ja so voll hier.“ Es war richtig schön, wie sie mich dabei ansah. Wie schnell man sich doch über etwas freuen kann, und wenn es nur eine bekleckerte Hose ist.

„Kein Problem!“, beruhigte ich sie. „Auf Deck 7 ist ein Waschsalon. Mit Vollautomaten und Trocknern. Nachher ist die Hose wieder wie neu. Ich habe auch noch eine zweite im Koffer.“

„Also verzeihen Sie mir?“ Ihre Augen blitzten schelmisch.

„Schon vergessen – der kleine Unfall. Das kann ja jedem mal passieren.“

Sie streckte die flache Hand zu mir aus und pustete mir symbolisch einen Kuss zu. „Sie sind zu nett. Ein anderer hätte mich erschlagen.“

„Sie doch nicht“, sagte ich und betrachtete sie noch einmal mit einem bewundernden Blick.

„Ja, dann…“ lächelte sie.

„Ja, dann…“, sagte ich.

Und dann ging sie weg und ich schaute ihr nach. Wirklich – perfekt!

Als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich, dass der kleine Zwischenfall nicht unbeobachtet geblieben war. Jemand schaute intensiv hierher. Es war ein Mann, etwa einsachtzig, um die Fünfzig, mit schütterem Haar und einem Gesicht, das ich irgendwo schon einmal gesehen hatte. Er steckte in einer Camp-David-Jacke und braunen Hosen und guckte rasch weg, als ich ihn entdeckt hatte.

An dieser Kopfbewegung erkannte ich ihn wieder.

Es war der Typ, der Stephanie und mich auf dem Friedhof fotografiert hatte. Oder es versucht hatte. Die Welt ist klein und man sieht sich immer zweimal. Da auch er auf dem Schiff weilte, würde ich ihn vielleicht sogar öfter wiedersehen. Ich war mir nicht sicher, ob er darauf Wert legte. Denn als ich einen Schritt in seine Richtung andeutete, verdrückte er sich im Pulk der neu erschienenen Hungrigen, die sich vor den Buffets drängten.

Ich folgte ihm nicht. Kam aber ins Grübeln. Warum hatte der Kerl vom Friedhof mich so angeglotzt? Wieso war er überhaupt auf dem Schiff?

Das konnte doch kein Zufall sein!

„So ein blöder Spanner!“, schimpfte ich. Damit hatte ich auch ihm einen treffenden Namen verpasst. Ich grinste. „Der Loser“. „Der Spanner“. Ich war heute richtig gut drauf.

Aber irgendwie war ich trotzdem beunruhigt.

Kreuzfahrt kann sehr tödlich sein

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