Читать книгу Die Jagd nach der silbernen Feder - Jan Hanser - Страница 11
ОглавлениеDIE SCHMUGGLERHÖHLE
Jisah stieß seine Knie in Winters Flanken und warf einen gehetzten Blick über die Schultern. „Lauf!“, schrie er.
„He! Nur die Ruhe, Junge. Erstens hast du uns die Suppe eingebrockt und zweitens weißt du, dass ich schneller bin“, brummte Winter, schüttelte unwillig den Kopf und bäumte sich auf. Nachdem er sich ein letztes Mal nach den heranjagenden Verfolgern umgedreht hatte, jagte er los.
Lange, taubenetzte Grashalme streiften Jisahs Füße. Dicht über dem Boden lagen Nebelschwaden. Wabernd umzingelten sie die vereinzelt auftauchenden Büsche. Sie jagten zwischen geduckten Obstbäumen mit knorrigen, verwundenen Stämmen und ausladendem Astwerk hindurch. Weich hoben und senkten sich die sanften Hügel des Brachtlandes unter Winters Läufen.
Jisah passte sich Winters Rhythmus an und verschmolz mit seinem Rücken. Jetzt waren sie eins. Mit weit ausladenden Schritten flog Winter in den anbrechenden Morgen hinein. In regelmäßigen Abständen drehte Jisah sich um. Dann sah er die langgestreckten Hälse der Hyänen aus den Nebelschwaden herausragen. Sie waren ihnen dicht auf den Fersen. Jisah spürte Müdigkeit und Hunger in sich heraufsteigen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete und erneut hinter sich sah, konnte er keine Hyänen mehr erblicken. Winter neigte seinen Kopf leicht nach hinten und sagte leise:
„Du hast geschlafen, Junge.“
„Lange?“, brummte Jisah und hob den Kopf.
Die Sonne begann ihre ersten Strahlen über den östlichen Horizont zu senden.
„Nur so lange, wie ich gebraucht habe, um einen sicheren Abstand zwischen uns und die Meute zu bringen“, antwortete Winter und verlangsamte sein Tempo. „Wir sollten uns bald eine kurze Rast gönnen!“
Wie ein glutroter Feuerball stand die Sonne wenige Meter über dem Boden, und Winter und Jisah ritten, Lauf vor Lauf, mitten in den Sonnenaufgang hinein. Jisah konnte nicht einmal mehr raten, wie viele Kilometer sie schon zurückgelegt hatten.
Jeder Knochen seines Körpers schmerzte und das nagende Hungergefühl ließ ihn zittern. Als er meinte, keinen einzigen Meter mehr reiten zu können, erreichten sie ein schmales Tal. Bald stiegen die Hügel zu ihrer rechten Seite an, wurden felsiger und strebten mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, steiler in den Himmel. Jisah ließ seinen Blick über die Felswand schweifen. Als sie das Tal fast durchquert hatten, entdeckte er eine Felsspalte. Sie zog sich vom Boden durch den Felsen in die Höhe und schien einen sicheren Unterschlupf zu gewähren.
Winter ritt auf die Felsspalte zu. Kurz vor ihr kam er zum Stehen. Sie zog sich wie der Eingang zu einer Schlucht nach oben. Aber es war eine Höhle, deren Dach sich weit oben schützend über ihnen wölbte.
„Lass uns bitte eine Pause machen“, keuchte Jisah. „Ich kann nicht mehr!“
Winter nickte und schlich ins Halbdunkel.
Nach nur wenigen Metern ließen sich die beiden nieder. In der Höhle war es kalt und klamm. Jisah fror. Wie gerne hätte er nun in seine Satteltasche gegriffen, etwas gegessen und getrunken.
„Wir können hier nicht lange bleiben“, flüsterte Winter.
Jisah nickte schläfrig und kuschelte sich in Winters warmes Fell. Doch kaum waren seine Augen zugefallen, da sprang Winter schon wieder auf. „Schnell! Komm mit“, raunte er. Stolpernd folgte Jisah Winter, der tiefer in die Höhle eindrang. Die beiden hielten den Atem an und lauschten. Es klang, als näherte sich Hufgetrappel.
„Das sind keine Hyänen“, raunte Jisah Winter zu. Winter nickte.
Die Hufschläge näherten sich, wurden lauter und kamen direkt vor der Höhle zum Verstummen. Leises Stimmengewirr drang an ihre Ohren. Dann setzten Hufe auf steinigem Boden auf und die Geräusche hallten von den hohen Wänden zurück.
Jisah und Winter pressten sich dicht hinter einen Felsvorsprung. Jisah wagte einen Blick um die Ecke. Der Eingang der Höhle war von Eseln und kleinwüchsigen bärtigen Männern bevölkert. Sie trugen schlabbrige Stoffhosen, die nach unten enger wurden und in den Schäften hoher Lederstiefel steckten. Ihre Hemden waren bunt und flatterig. Die Esel standen am Eingang der Höhle und scharrten mit den Hufen. Schon waren einige Männer dabei, ein Feuer zu entfachen.
Jetzt fiel Jisah auf, dass der Boden rußschwarze Flecken hatte. „Diese Männer scheinen öfter hier zu sein“, flüsterte er Winter zu.
„Pssst“, zischte Winter.
Kochgeschirr wurde aus Satteltaschen gekramt und Trinkflaschen machten die Runde. Nach einigen Minuten hatten sich die Männer um das Feuer niedergelassen. Bald durchzog der köstliche Geruch nach gebratenem Speck und geröstetem Brot die Höhle. Jisahs Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Winter stieß Jisah von hinten an. „Lass mich auch mal!“ Er drängte Jisah zur Seite. Als er sich Jisah wieder zuwandte, flüsterte er: „Es sind Eselreiter. Schmuggler. Ein wildes und gefährliches Volk. Sie sollten uns besser nicht entdecken. Denn wahrscheinlich …“, Winter zeigte ins Dunkel der Höhle hinein, „ … sitzen wir mitten in einem ihrer geheimen Lager.“
Und wieder lugte Jisah neugierig um die Ecke und beobachtete die Schatten, die der Feuerschein an die Wand warf. Die Eselreiter erzählten sich gegenseitig wilde Geschichten und lachten rau. Fett tropfte von ihren Fingern und sie schlangen das Brot mit groben Bissen hinunter. Einer der Reiter wischte sich die Hände an seiner Hose ab, stand auf und holte eine Fidel aus der Satteltasche seines Esels. Bald durchzogen lustige Töne die Höhle und die Gespräche verstummten.
Müde und satt lehnten sich die Eselreiter mit ihren Rücken gegen die Felswände.
Unterdessen wurde Jisah unruhig. Die Hyänen würden ihr Versteck bald aufgespürt haben.
Jisah hatte seine Sorge Winter gegenüber gerade ausgesprochen, als ein spitzer Hornstoß ertönte. Kurz darauf durchriss ein weiteres Warnsignal die Luft. Der Fidelspieler hielt inne. Stille breitete sich in der Höhle aus. Die Eselreiter lauschten aufmerksam. Jisah griff unter sein Hemd, um nach der Feder zu fühlen. Er hob seinen Kragen und blickte darunter. Sie leuchtete in einem matten silbernen Licht. Er blinzelte. Das Leuchten war noch da. Verwundert schüttelte Jisah den Kopf. Vorne in der Höhle brach Aufregung aus. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Zwei weitere Hornstöße schallten aus der Ferne in die Höhle hinein. Die Eselreiter sprangen auf. Nur Sekunden später vernahm Jisah lautes Hufgetrappel. Ein junger Eselreiter erreichte den Eingang der Höhle. Jisah sah seine Silhouette. Es war ein Junge, etwa so alt wie er selbst. Noch bevor die Beine seines Reittieres völlig still standen, sprang er ab. Atemlos keuchend schlitterte er in die Höhle hinein.
„Sie sind direkt hinter mir!“, stieß er aus. „Hyänen! Eine ganze Meute“, fuhr er keuchend fort.
Hektisch sprangen die Schmuggler auf. Becher fielen scheppernd zu Boden. Einer der Schmuggler begann eilig, mit seinen schweren Stiefeln das Feuer auszutreten.
In diesem Augenblick verließen Winter und Jisah ihre Deckung. Sie traten aus dem Versteck hervor. Sofort waren alle Blicke auf sie gerichtet. Stille breitete sich aus. Dann schnellten die Köpfe zurück zum Eingang, wo der kleine Junge, noch immer völlig außer Atem, an seinen Esel gelehnt stand. Winter reckte seinen Kopf und sprach leise, aber bestimmt: „Sie jagen nicht euch. Sondern uns!“
Ohne genau zu wissen, was er tat, griff Jisah unter sein Hemd und zog die Feder hervor. Ihr silberner Schein erleuchtete die gesamte Höhle.
Die Stille war greifbar. Jisah stand nur da. Alleine neben Winter. Die Feder in der linken Hand. Alle Blicke waren auf ihn und auf die Feder gerichtet.