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GESCHICHTENZEITEN

Es gibt Tage, die sind wie gemacht zum Geschichtenerzählen. Auf einmal sind sie in meinem Kopf, die Geschichten. Dann müssen sie raus. Am besten möglichst bald, solange sie noch frisch und heiß und spannend sind. Dann warte ich sehnsüchtig auf den Abend, denn die eigentliche Geschichtenzeit ist bei uns zu Hause abends. Beim Zubettgehen.

Also, an solchen Geschichtenabenden kuscheln wir uns zusammen ins gemütliche Bett, meine drei Söhne und ich. Vielleicht lernt ihr sie eines Tages kennen. Es sind drei ganz famose Söhne. Aber welcher Vater würde das nicht von seinen Söhnen behaupten?

Wir ziehen uns die Decke bis an die Ohren und schalten die kleine Nachttischlampe an. Dann beginne ich zu erzählen.

Und während die Geschichten aus meinem Mund hinauswandern, gleiten sie in den Raum hinein und huschen schnurstracks in die Köpfe meiner Jungs. Das merkt man gar nicht so richtig, wie das passiert. Auf einmal sind sie da und wir sind mittendrin.

Spürst du, wie der Wind des anbrechenden Sommers die warme Decke anhebt? Siehst du das klare Leuchten der Sterne im tiefdunklen Himmel über dir? Dort oben, schau genau hin! Ganz deutlich hebt sich im Osten das Sternbild des großen Löwen hervor.

Der Junge, der in diesem Moment in rasendem Tempo über das flache Land reitet, fühlt den Wind auf seiner Haut und schaut hinauf zu den Sternen am Himmelszelt. Er ist wohl kaum älter als du. Seine Beine pressen sich fest in die Flanken des riesigen Tieres, auf dessen mächtigem Rücken er sitzt. Der Atem des Welfen geht regelmäßig. Seine Pfoten berühren den Boden sanft und in gleichmäßigem Takt und völlig lautlos. Fast scheint er zu fliegen. Nur eine Armeslänge entfernt reitet ein zweiter Junge, wohl nur wenig jünger als du. Seine Hände graben sich tief in das weiche silbrige Fell des zweiten Welfen, während die Büsche und Bäume neben ihm nach hinten wegfliegen.

Fühlst du, wie wir fast schon in einer anderen Welt sind? Aus den Hochhäusern werden massive Felswände, die die rechte Seite des Pfades begrenzen. Rau und von Rissen durchzogen säumen sie unseren Weg. Geduckte Büsche klammern sich mit ihren feinen Wurzeln an den kleinsten Spalt.

Die quadratische Rasenfläche da drüben, die beinahe so aussieht, wie du sie vielleicht vom Goethepark gegenüber kennst (vielleicht steht auf der, die du kennst, auch eines dieser überflüssigen Schilder „Betreten des Rasens verboten!“), scheint zuerst klein und dehnt sich dann doch nach Westen hin zu fast unendlicher Weite aus, entrollt sich, legt sich über Hügel und durch Gräben und bedeckt bald das ganze Land, durch das wir uns lautlos bewegen. Aus den wenigen Eichen, die die Friedhofsallee in meiner Stadt säumen, wird in diesem Moment im Nordwesten der mächtige und geheimnisvolle Wald der Wölfe. Manche nennen ihn auch „den alten Wald“, doch ihr werdet ihn als den „Wald der Wölfe“ in Erinnerung behalten. Wartet nur.

Hinter uns, dort, wo eben noch der kleine Spielplatz mit der roten Rutsche und dem quadratischen Sandkasten lag, glitzern goldene Sandkörner im Mondlicht und die Wellen des Südmeeres rollen mit sanftem Rauschen ans Ufer.

Ich könnte dir nun Piratengeschichten noch und nöcher erzählen. Doch darum soll es erst später gehen. (Vielleicht auch erst in einer ganz anderen Geschichte – wir werden sehen.)

Weit vor uns, nur sichtbar, wenn du deine Augen zusammenkneifst und ein wenig Fantasie mitbringst, streben die mächtigen und schneebedeckten Gipfel des Siebengebirges in den Himmel.

Und dahinter liegt, ihr ahnt es schon, das prächtige Schloss des großen Königs Lian mit seinen Zinnen, wehenden Wimpeln und hoch ragenden Türmen.

Und schon sind wir mittendrin. Mittendrin in dieser wundersamen Welt und mittendrin in unserer Geschichte. Bevor ich es vergesse: Die beiden Jungen heißen Jisah und Pepe. Ihre beiden Begleiter sind Welfen. Welfen sind die wohl treuesten und schnellsten Boten König Lians. Auf den ersten Blick werden sie von den meisten Erwachsenen für Wölfe gehalten. Das wäre euch natürlich nicht passiert. Auch wenn sie wirklich wie Wölfe aussehen.

Doch sie sind groß und mächtig wie Schlachtrösser und haben auf jeder Seite drei muskelbepackte Läufe. Ja, es sind wirklich drei. Auf jeder Seite!

Also, wie du bestimmt schon selbst nachgerechnet hast, insgesamt sechs Läufe.

Und jetzt, du wirst sagen: „Ist doch logo!“, sage ich dir, dass sie die schnellsten Tiere in diesem Teil der Erde sind.

Auf ihre Feinde – und auf die meisten Erwachsenen – machen sie einen ganz furchteinflößenden Eindruck. Ihre Zähne sind nicht niedlich. Ganz bestimmt nicht! Habt ihr vielleicht schon einmal ein niedliches Wolfsgebiss gesehen? Sicher nicht! Sie sind reißend und scharf und weiß. Ihre Lefzen sind blutrot und aus ihren Augen strahlt ein glühendes Feuer. Ihr Fell leuchtet bei Mondschein silbergrau und wer bei ihrem Anblick einen gehörigen Schrecken bekommt, der tut schon recht daran.

Ihr braucht natürlich keine Angst vor ihnen zu haben. Ein klein wenig Ehrfurcht vielleicht, das reicht. Denn Wald und Winter, so werden die beiden Welfen in dieser Zeit genannt, sind Freunde von Jisah und Pepe.


Die Jagd nach der silbernen Feder

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