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6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte

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DieLese-praxis Erschließung der LeseterminiLese-terminus und der materiellenMaterialität Dimension des Lesens in der Antike hat deutlich gemacht, dass die unter 1.5 vorgeschlagene differenzierte Beschreibungssprache angesichts des mannigfaltigen Quellenbefundes in heuristischer Hinsicht notwendig ist, um die Vielfalt und Multifunktionalität antiker LesepraktikenLese-praxis zu untersuchen. Zahlreiche der untersuchten Bildbereiche, aber insbesondere die weit verbreitete Konnotation des Lesens mit dem SehsinnSehen zeigen, dass die in der Einleitung angeführten Thesen zur primär auditivenauditiv Konnotation antiker Literatur und antiker Leseprozesse angesichts dieses Befundes eine grobe Verkürzung darstellt und die Wichtigkeit des Sehsinns für die griechische Kultur vernachlässigt.1 Diese Verkürzung ist darauf zurückzuführen, dass die Quellenauswahl der bisherigen Forschung durch Vorannahmen des oralen und gemeinschaftsbezogenen Charakters des Lesens in der Antike eingeengt ist. Die Vielfalt der Lexeme, MetaphernMetapher und MetonymienMetonymie, die Lesen konzeptualisieren, entspricht der Heterogenität und Multifunktionalität antiker Lesepraktiken. Insbesondere die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den materiellen Grundlagen des Lesens und der physiologischen und kognitionspsychologischen Dimension des Lesevorgangs (4) hat aufschlussreiche Ergebnisse hervorgebracht. Dabei haben die vielfältigen Reflexionen antiker Lesepraxis, die durch die Untersuchung antiker Leseterminologie gefunden werden konnten (3), deutlich gezeigt, dass es sich bei den Beschreibungskategorien zur Physiologie und Kognitionsphysiologie des Lesens nicht um anachronistische Konzepte handelt. Vielmehr korrespondieren diese Kategorien, wie die Befunde in den Quellen und insbesondere die herausgearbeitete Beschreibungssprache des Lesens zeigen, mit der antiken Selbstwahrnehmung des Lesens.

Ein wichtiges Ergebnis der vorhergehenden Untersuchungsschritte besteht darin, dass es sich beim Lesen in der Antike nicht um einen bloßen Akt der Wiederhörbarmachung des im Text gespeicherten Klangs bzw. gesprochenen Wortes handelt, sondern dass Lesen auch in der Antike ein komplexer Vorgang semiotischer Dekodierungsprozesse in der physiologischen und kognitivenkognitiv InteraktionInteraktion mit Texten war, die sich in konkreter, kulturspezifischer Weise materiellMaterialität und darin vor allem visuellvisuell wahrnehmbar manifestiert haben.2 Es ist deutlich geworden, dass die kognitive Verarbeitung des GeschriebenenSchriftGeschriebenes sowohl beim VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt (vermutlich die kognitiv herausforderndere Form des Lesens) als auch bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre vor der lautlichen Realisierung mit der Lesestimme oder der inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) abläuft. Der Einsatz der StimmeStimme ist sekundär und betrifft lediglich die Frage, ob die in unterschiedlichen Formen und komplexen Prozessabläufen von einem Individuum synthetisierten3 und kognitiv verarbeiteten BuchstabenBuch-stabe, Silben, Wörter, Sätze auch in Form von realiter gesprochenem Text weiterverarbeitet werden. Dies gilt im Übrigen auch, wenn jemand eine indirekte Rezeptionssituation mit einem LeseverbLese-terminus beschreibt – was in den Quellen selten vorkommt –, da hier von einer konzeptionellen Übertragung des Phänomens „Lesen“ auf die hörende Rezeption eines Textes auszugehen ist. Es wäre erst zu erweisen, dass jemand in der Antike, der des Lesens nicht mächtig war, eine indirekte Rezeption vorgelesener Texte z.B. mit dem Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω oder legolego bezeichnete hätte.

Im Folgenden wird der Befund entlang der wichtigsten oben vorgeschlagenen Kategorien in systematisierender Hinsicht zusammengestellt und anhand aufschlussreicher Quellen illustriert, um davon ausgehend die LesepraxisLese-praxis im antiken JudentumJudentum und frühen ChristentumChristentum untersuchen zu können. Für einen besseren Überblick sind die folgenden Ausführungen entlang der Unterscheidung von kollektiver Rezeption und individueller Lektüre strukturiert. An dieser Stelle ist auch noch einmal auf das Schaubild auf S. 88 hinzuweisen, das die Lektüre der folgenden Ausführungen erleichtern kann.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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