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7.2.1 Lesesozialisation bei Philon am Beispiel von agr. 18

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In PhilosPhilon von Alexandria SchriftLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) De agricultura, die durch Gen 9,20aGen 9,20 inspiriert ist, findet sich am Anfang eine allegorische Übertragung der Bildwelt der Landwirtschaft auf die Erziehung und Bildung des Menschen bzw. die Pflege der menschlichen Seele (PhiloPhilon von Alexandria agr. 8–19). In diesem Kontext kommt er auch auf die „schulische“ Grundausbildung zu sprechen.

„Einpflanzen werde ich aber in die Kinderseele Schößlinge, deren Frucht [die Seele] erquicken wird; das ist die Kunst geläufigen SchreibensSchreiben und Lesens (ἡ τοῦ γράφειν καὶ ἀναγινώσκειν εὐτρόχως ἐπιτήδευσις), das sorgfältige Untersuchen der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser (ἡ τῶν παρὰ σοφοῖς ποιηταῖς ἀκριβὴς ἔρευνα), die Geometrie und der Betrieb der RhetorikRhetorik, sowie das gesamte Curriculum der enkyklischen Bildung (ἡ σύμπασα τῆς ἐγκυκλίου παιδείας μουσική“ (PhiloPhilon von Alexandria agr. 18; Üb. COHN; modifiziert JH).1

Die einzeln aufgezählten Elemente dieses Bildungsschrittes im Kindesalter, den PhilonPhilon von Alexandria von der Ausbildung des jugendlichen Heranwachsenden und dem Erwachsenwerden (vgl. νεανιεύομαι und ἀνδρόω direkt im Anschluss an die zitierteZitat Stelle) unterscheidet, konzeptualisiert Philon metaphorischMetapher als Schößlinge (μοσχεύματα), die durch den UnterrichtUnterricht in die Kinder hineingepflanzt werden. Vier Schößlinge nennt Philon explizit: „die Kunst geläufigen SchreibensSchreiben und Lesens“, „die sorgfältige Untersuchung der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser“, Geometrie und RhetorikRhetorik. Zusammenfassend verweist er zuletzt auf das zu Lebzeiten Philons fest etablierte Konzept der enkyklischen Bildung (ἐγκύκλιος παιδεία)2 als einen weiteren Schößling. Die Art und Weise der Aufzählung und insbesondere die Tatsache, dass die Geometrie als fester Bestandteil der Bildung der freien Männer galt,3 zeigen, dass Philon die vier explizit genannten Schößlinge zur enkyklischen Bildung rechnet.4 Das heißt, es geht ihm mit dem ersten Schößling vermutlich nicht einfach nur um eine elementare Alphabetisierung (wie z.B. Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 88,20, der die litteratura als Elementarbildung von der Vermittlung der liberales artes unterscheidet), sondern auch um elaboriertere Formen des Schreibens und Lesens, die er zur enkyklischen Bildung zählt.5 Dies macht er an einer anderen Stelle noch expliziter, an der er Lesen und SchreibenSchreiben in Bezug auf die enkyklische Bildung dem Bereich der Grammatik zuordnet (vgl. somn. 1,205).6 Die enkyklische, i. e. „allgemeine“, „übliche“ Bildung7 gilt für Philon wie für andere Zeitgenossen als Propädeutik für das StudiumStudium der PhilosophiePhilosophie.8 So vergleicht er sie z.B. mit der gängigen Metapher der Milchnahrung für Kinder, die der festen Nahrung der Philosophie vorausginge (vgl. Philo agr. 9; congr. 19; prob. 160),9 oder bezeichnet sie als „Vorhalle am Anfang eines Hauses“ (οἰκίας ἀρχαὶ πυλῶνες; Philo fug. 183) bzw. als Vororte (τὰ προάστεια) von Städten, durch die man hindurch müsse, wenn man in die Stadt wolle (Philo congr. 10).10

Bezüglich der Fragestellung dieser Studie ist nun der erste Schößling, der wohl bewusst am Beginn der Aufzählung steht, die Kulturtechnik11 des SchreibensSchreiben und Lesens, näher zu betrachten. PhilonPhilon von Alexandria spezifiziert das Lesen (ἀναγιγνώσκω) mit dem Adverb εὔτροχος, das wörtlich übersetzt so viel heißt wie „mit gutem Rad versehen“, modern „gut bereift“, und im übertragenen Sinne etwa „schnellLese-geschwindigkeit laufend“, „leicht laufend“ oder „gut gerundet“ bedeuten kann. Die Semantik des Lexems lässt es also zunächst offen, ob die Schnelligkeit oder Konstanz des Lesens gemeint ist, also eine Bewegungsmetaphorik im Hintergrund steht, oder ob Philon eine rein ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen Wertung über die phonologischePhonologie Wohlformung des vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend, inszenierten Lesens in den Blick nimmt. Angesichts der weiten Verbreitung von Bewegungsmetaphern, die Lesen konzeptualisieren (s. o. 3.7), sowie der Zuordnung zur enkyklischen Bildung (s. o.) ist meines Erachtens die erste Option plausibler. Das Adverb εὔτροχος referenziert also die Schnelligkeit und Konstanz des Lesens.Lese-geschwindigkeit Dabei kann aber die ästhetische Dimension eines „gut laufenden“ VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt einerseits oder eine auf effiziente und schnelle Erfassung des Textinhalts ausgerichtete Lektüre andererseits gemeint sein. Wahrscheinlicher ist m. E. allerdings Letzteres, wie die Verwendung von εὐτρόχως an anderen Stellen bei Philon zeigt. In seiner Schrift De vita contemplativa diskutiert er das Perzeptionsvermögen von Vortragszuhörern in Relation zur Art und Weise des Vortrags. Im Hintergrund der Ausführungen stehen mutmaßlich Philons eigene Erfahrungen im Hören von Vorträgen. Philon formuliert, dass im Vergleich zu einem guten Lehrvortrag, der sich durch Verweilen, Langsamkeit und Repetition auszeichnet, eine Vortragsweise, die durch Schnelligkeit und atemloses Aneinanderreihen von Wörtern (vgl. die Formulierung εὐτρόχως καὶ ἀπνευστὶ συνείροντος συνείρω) geprägt ist, die ZuhörerHörer abhängt und das VerstehenVerstehen verhindert (vgl. Philo cont. 76). Hier wird εὐτρόχως also in Bezug auf mündliche Äußerungen mit eindeutig negativer Konnotation verwendet.12 Umgekehrt verwendet Philon εὐτρόχως in Mos. 1,48 mit eindeutig positiver Konnotation, um die schnelle kognitivekognitiv Auffassungsgabe von Mose zu charakterisieren.

Als nächstes Element nennt PhilonPhilon von Alexandria „die sorgfältige Untersuchung der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser“. Da Philon das Verb ἐρευνάωἐρευνάω als LeseterminusLese-terminus für eine durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuerte LesepraxisLese-praxis verwenden kann,13 erscheint es plausibel, unter der ἔρευνα eine spezifische Lektürepraxis zu Studienzwecken zu verstehen. Dafür spricht zusätzlich, dass ἔρευνα mit dem an anderer Stelle zur näheren Bestimmung von LeseaktenLese-akt verwendeten Adjektiv ἀκριβήςἀκριβής spezifiziert wird.14 Einige Paragraphen später verweist Philon seine LeserLeser mit der Formulierung „wie wir nachforschend fanden“ (ἀναζητοῦντες εὕρομεν; (Philo agr. 26) auf lexikalische Untersuchungen, die er bezüglich landwirtschaftlicher Termini eingeführt hat. Da er hierfür mutmaßlich Agrarliteratur o. ä. lesen musste, könnte man dies als eine Konkretisierung der durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuerten Lesepraxis verstehen, die Philon mit dem zweiten Element in agr. 18 im Blick hat. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass auch das erste Element in agr. 18 eine auf effiziente und schnelle Erfassung des TextinhaltsLese-geschwindigkeit ausgerichtete Lektüre meint. Dazu passt, dass Philon selbst eine große Menge von Literatur rezipiert haben muss.15

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