Читать книгу Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann - Страница 52

7.1.4 Das Lektürekonzept im Buch Jesus Sirach

Оглавление

DasSir deuterokanonischeLektüre-konzept Buch Jesus SirachSir (frühes 2. Jh. v. Chr. C)1 weist nicht nur ein individuell-direkteLektüreindividuell-direkts Lesekonzept in Bezug auf die ToraTora auf, sondern setzt dieses auch selbstreferenziellselbstreferenziell voraus. Eine solche selbstreferenzielle Reflexion der anvisierten Form der Rezeption ist eine Seltenheit in der kanonischenKanon und deuterokanonischen Literatur und sollte nicht zuletzt wegen der zeitlichen Nähe der Entstehungszeit des Buches Jesus Sirach (insbesondere der griechischen Übersetzung)2 zur neutestamentlichen Zeit und angesichts der breit bezeugten Rezeption dieses Buches im NT3 näher betrachtet werden.

Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Buches Jesus SirachSir liegt freilich darin, dass der hebräische Text nur fragmentarisch überliefert und die Textüberlieferung nicht einheitlich ist.4 Dennoch sind einige für diese Studie relevante Stellen erhalten geblieben und in Bezug auf das NT ist ohnehin der griechische Text des Buches Jesus Sirach von größerer Relevanz. Daher werden die hebräische und griechische Textfassung im Folgenden stets vergleichend besprochen. Im überlieferten hebräischen Text finden sich drei Belegstellen für das Verb הגה (jeweils mit בְּ), das sich oben in Kombination mit der Präposition als wichtiger LeseterminusLese-terminus herausgestellt hat (vgl. Sir 6,37Sir 6,37; 14,20Sir 14,20; 50,28Sir 50,28). Während in Sir 6,37 die Gebote (מִצְוָה/ἐντολή) und in Sir 14,20 allgemein Weisheit (חָכְמָה/σοφία) als Gegenstand des Murmelns genannt werden, bezieht sich Sir 50,28 im Rahmen des Buchschlusses (Sir 50,27 f), der in der Forschung mitunter als Kolophon gedeutet5 und z. T. in seiner Authentizität bestritten wird,6 selbstreferenziellselbstreferenziell auf das vorliegende Buch:

Hebräische Fassung Griechische Fassung
27 a Weisheitslehre und Sprüche in rechter Form 27 a LehreLehre des Verstandes und der Erkenntnis hat in dieses BuchBuch geritzt (παιδείαν συνέσεως καὶ ἐπιστήμης ἐχάραξεν ἐν τῷ βιβλίῳβιβλίον7 τούτῳ)
b von Simon Ben Jeschua Ben Eleaser Ben Sira, b Jesus, der Sohn Sirachs, des Eleazar, der Jerusalemer,
c dessen Herz mit [Schrift]Interpretation überquoll c der Weisheit (σοφία) aus seinem Herzen herausgegossen hat.
d und der Kenntnis ausgoss.
28 a Glückselig [ist] der Mensch, der in diesen murmelt (‎בְּאֵלֶּה יֶהְגֶּה), 28 a Selig [ist], wer sich in diesen umwendet (ὃς ἐν τούτοις ἀναστραφήσεται)
b und wer sie seinem Herzen auflegt, wird weise. b und weise wird, wenn er sie auf sein Herz legt.

Sir 50,27Sir 50,27 bezieht sich zurück auf das komplette BuchBuch und kennzeichnet das zuvor Gebotene als „Weisheitslehre (מוּסַר שֶׂכֶל) und Sprüche in rechter Form (מוֹשֶׁל אוֹפַנִּים)“ und nennt den VerfasserAutor/Verfasser. Dabei ist aufschlussreich, dass mit אֹפֶן auf den textlichen Charakter, vermutlich auf die Metrik des Vorhergehenden verwiesen wird.8 Auch der Übersetzer, der die griechische Fassung zu verantworten hat, nimmt wahr, dass der textliche Charakter im Blick ist und interpretiert אֹפֶן sehr frei mit dem Syntagma ἐχάραξεν ἐν τῷ βιβλίῳβιβλίον τούτῳ. Dabei nutzt er mit der Verwendung des Verbes χαράσσω als poetisches Ausdrucksmittel das Bild, dass die BuchstabenBuch-stabe nicht einfach geschriebenSchriftGeschriebenes, sondern wie bei einer InschriftInschriften (Stein, Metall, Holz) eingeritzt sind.9 Sowohl im hebräischen als auch im griechischen Text folgt unter Verwendung verschiedener Verben in Sir 50,27c/dSir 50,27 eine geläufige Metaphorik, die LehreLehre als Flüssigkeit konzeptualisiert. Die komplementäre MetapherMetapher des Aufnehmens dieser Lehre durch Trinken wird im Buchschluss nicht realisiert, kann aber durchaus mit verstanden werden.

Die Rezeption der im BuchBuch befindlichen Weisheitslehre, die Simon Ben Jeschua usw. ausgegossen hat, wird im hebräischen Text mit der oben schon als LeseterminusLese-terminus identifizierten Wendung הגה + בְּ („murmeln in“) beschrieben. Das Demonstrativpronomen im Plural (‎בְּאֵלֶּה) zeigt dabei an, dass Sir 50,28Sir 50,28 sich nicht einfach auf die in Sir 50,27c/dSir 50,27 genannten Aspekte zurückbezieht, sondern auf den gesamten Buchinhalt, also auf die geschriebeneSchriftGeschriebenes „Weisheitslehre und [die] Sprüche in rechter Form“, d. h. selbstreferenziellselbstreferenziell auf das vorliegende Buch verweist. Dies wird im Griechischen umso klarer, als das Demonstrativpronomen τούτοις definitiv keinen grammatischen Bezug zu einer der Konstituenten im vorhergehenden Vers aufweist. Der griechische Text von Sir 50,28 bietet im Vergleich zum hebräischen Text aber noch eine weitere, für das Thema dieser Studie aufschlussreiche poetische Formulierung. Anders als in der LXXAT/HB/LXX üblich – und auch anders als in Sir 6,37Sir 6,37; 14,20Sir 14,20 – verwendet der Übersetzer zur Übersetzung von הגה nicht das Verb μελετάω, sondern das Verb ἀναστρέφωἀναστρέφω im Passiv. Während die Septuaginta Deutsch den Vers so versteht, als wären die ethischen Konsequenzen der Weisheitslehren für das individuelle Handeln im Blick („selig, der nach diesen Dingen leben wird“),10 referiert ἀναστρέφωἀναστρέφω (Med.-Pass. sich umwenden, sich umtun, ἔν τινι [!] sich beschäftigen mit11) hier m. E. nicht im übertragenen Sinne auf den Lebenswandel eines einzelnen Menschen, sondern auf den Prozess der Auseinandersetzung bzw. der Beschäftigung mit dem Inhalt des vorliegenden Buches und im Kontext des Buchschlusses im Sinne der unter 3.7 herausgearbeiteten Bewegungsmetaphorik ganz konkret auf den Leseprozess. Der LeserLeser wendet sich in der Weisheitslehre, d. h. in den Zeilen des im vorliegenden Buch eingeritzten Textes.12

Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass der mit dem Verb ἀναστρέφωἀναστρέφω bezeichnete Vorgang (Sir 50,28aSir 50,28) mit der Semantik des Verbes χαράσσω (Sir 50,27aSir 50,27) korrespondiert und ein stimmiges Gesamtbild ergibt. So nennen die Griechen die zeilenweise wechselnde Schriftrichtung, die sich auf (v. a. – aber nicht nur – frühen) InschriftenInschriften finden lässt, βουστροφηδόν (βοῦς [Ochse] + στρέφω [wenden]), weil die Zeilen auf einer so gestalteten Inschrift der Spur eines vom Ochsen gezogenen Pflugs gleichen. Diese Form der Schriftgestaltung findet sich zwar v. a. – aber nicht nur – auf Inschriften aus der Archaik, der Hauptbeleg für die Bezeichnung stammt jedoch von Pausanias aus dem 2. Jh. n. Chr.,13 was die Kenntnis dieser Gestaltungsform von Schrift noch für die römische Zeit belegt. Aus der Perspektive des Buchschlusses handelt es sich beim Buch JesusSir Sirach also – um beide im Text verwendeten metaphorischenMetapher Konzepte aufzunehmen – um in Text/Buch gegossene Weisheitslehre, in dem sich die LeserLeser umwenden sollen.

B. M. Zapff hat m. E. in seinem Kommentar richtig gesehen, dass der hebräische Text einen Bedeutungszusammenhang mit Ps 1,1Ps 1,1 herstellt und damit zugleich die allgemeine Aussage in Sir 14,20Sir 14,20 konkretisiert. „Ähnlich wie man entsprechend Ps 1,2Ps 1,2 die ToraTora halblaut murmelnd meditieren soll, bis sie in Fleisch und Blut übergeht, so auch die Weisungen Sirachs. Ohne falsche Bescheidenheit stellt sich Sirach damit in die Reihe der authentischen Interpreten der Tora.“14 Der Zusammenhang in Sir 14,20 zeigt eindeutig, dass Sir 14,20a nicht ein Nachdenken über bereits Gelesenes bzw. allgemein über die Weisheit meint, wie zahlreiche moderne Übersetzungen suggerieren, sondern dass ein Murmeln in der im vorliegendenAufmerksamkeitvertieft BuchBuch geschriebenen Weisheit im Blick ist, die durch intensive LektüreAufmerksamkeitvertieft der vorliegenden Schrift in das eigene Denken erst noch aufgenommen werden muss (Sir 14,20b).

Das in Sir 50,28Sir 50,28 und 14,20Sir 14,20 angedeutete LektürekonzeptLektüre-konzept, das das Buch JesusSir Sirach voraussetzt, lässt sich anhand von Sir 39,1–3 LXXSir 39,1–3 LXXAT/HB/LXX (im Hebräischen leider nicht überliefert) noch weiter konkretisieren. Und zwar wird in diesen Versen, wie vorher deutlich geworden ist, die zeitintensive Tätigkeit des Weisheitserwerbs eines SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte (סֹפֵר/γραμματεύςγραμματεύς; Sir 38,24Sir 38,24) im Gegenüber zu handwerklichen Berufen erläutert, die keine Zeit für den Weisheitserwerb auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit Schriften lassen (vgl. Sir 38,24–43Sir 38,24–43): „Und derjenige, der wenig Arbeit hat, wird weise“ (Sir 38,24bSir 38,24). Dabei ist aufschlussreich, dass zuletzt auch die HandwerkerHandwerker durch ihre geübte und intensive Tätigkeit mit den Händen in einer anderen Form, nämlich „in ihrem Werk weise werden (ἐν τῷ ἔργῳ αὐτοῦ σοφίζεται; Sir 38,31Sir 38,31)“, und „ihr Gebet besteht im Tun ihrer Kunst“ (Sir 38,34 LXXSir 38,34 LXX).15 Dadurch entsteht der Eindruck, als wolle der Text eine gewisse Analogie zwischen der Tätigkeit in handwerklichen Berufen und der Tätigkeit des Schriftgelehrten herstellen, obwohl Letztere von den vorherigen Tätigkeitsbeschreibungen der Handwerker sprachlich abgegrenzt wird (vgl. v. a. πλήν in Sir 39,1 LXXSir 39,1 LXX):

39,1 a Wer jedoch sein Leben hingibt (τοῦ ἐπιδιδόντος τὴν ψυχὴνψυχή αὐτοῦ)
b und sich mit seinem Verstand dem Gesetz des Höchsten widmet (διανοουμένου ἐν νόμῳ ὑψίστου),
c der wird die Weisheit aller Altehrwürdigen erforschen (σοφίαν πάντων ἀρχαίων ἐκζητήσει),
d und in Prophezeiungen beschäftigt sein (ἐν προφητείαις ἀσχοληθήσεται).
39,2 aSir 39,2 Er wird die Erzählungen namenhafter Menschen bewahren (διήγησιν ἀνδρῶν ὀνομαστῶν συντηρήσει)
b und er wird zusammen hineingehen in die Wendungen der Parabeln.
39,3 aSir 39,3 Er wird das Verborgene der Sprüche erforschen (ἀπόκρυφα παροιμιῶν ἐκζητήσει)
b und er wird sich umwenden in den Rätseln der Parabeln (ἐν αἰνίγμασι παραβολῶν ἀναστραφήσεται).

Sir 39,1a/bSir 39,1 charakterisiert die Tätigkeit eines SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte als lebensfüllende Aufgabe. So wie die HandwerkerHandwerker ihre Arbeitsgegenstände mit den Händen bearbeiten, widmet sich der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte mit seinem Verstand der ToraTora, was intensive, ausgiebige – wörtlich: rastlose – Studien- und Forschungslektüre erforderlich macht, wie die Verben ἐκζητέωἐκζητέω und ἀσχολέω in Sir 39,1c/d deutlich machen. Möglicherweise verweist das Syntagma „in Prophezeiungen“ (ἐν προφητείαις) in räumlicher Hinsicht auf das Vertieft-Sein in die Schriftrollen der ProphetenbücherProphet.16 „Die Altehrwürdigen“ (οἱ ἀρχαῖοι) stehen metonymischMetonymie für ein hier nicht näher spezifiziertes Corpus von Texten, das von den Schriftgelehrten studiert und erforscht wird.

Zumindest aus der Perspektive des Prologs in der gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. veröffentlichtenPublikation/Veröffentlichung17 griechischen Übersetzung wird deutlich, dass der Großvater des Übersetzers und postulierte AutorAutor/Verfasser18 des hebräischen Sirachbuches sich der intensivenAufmerksamkeitvertieft Lektüre der ToraTora, der ProphetenProphet (Sir 49,10Sir 49,10 zeigt schon im hebräischen Text das Bewusstsein für die Einheitlichkeit des Dodekapropheton) und der übrigen BücherBuch der Väter hingegeben hat (vgl. SirProl 1 fSirProl 1 f.8–10SirProl 8–10). Auch wenn diese Stelle im Hinblick auf die Frage der Entwicklung des KanonsKanon kontrovers diskutiert wird und es offenbleibt, welche exakten Schriften der Übersetzer insbesondere zu den letzten beiden Kategorien zählt,19 zeigt sich hier, dass die Schriften IsraelsIsrael kategorial strukturiert wurden und diese Kategorien für die LeserLeser des griechischen Sirachbuches transparent gewesen sein müssen. Auf den PrologProlog wird in Kürze zurückzukommen sein. Während Sir 39,2aSir 39,2 darauf hindeutet, dass die SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte Erzählungen auswendiggelerntAuswendiglernen haben (die Formulierung impliziert keine wortgetreue Speicherung des Textes!), scheint Sir 39,2b mit einer Bewegungsmetapher (ἐν στροφαῖς παραβολῶν συνεισελεύσεται) auf die Lehrtätigkeit des Schriftgelehrten zu rekurrieren (vgl. neben dem Prolog auch Sir 39,8Sir 39,8). Darauf deutet zumindest das PräfixPräfix συν- hin: Der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte geht zusammen mit jemandem in die Wendungen der Parabeln. Sir 39,3Sir 39,3 beschreibt wiederum das Ziel der Lektüre des Schriftgelehrten, nämlich: das in den Texten Verborgene und deren Rätsel zu entschlüsseln. Die hier beschriebene LektürehaltungHaltung des Schriftgelehrten und Weisheitslehrers, der sich mit den überlieferten Schriften Israels beschäftigt, kann in Anknüpfung an Sir 20,28Sir 20,28 auf die Leser des Buches JesusSir Sirach übertragen werden.

Zuletzt ist nun auf den schon erwähnten, vom Übersetzer hinzugefügten PrologProlog des griechischen Sirachbuches zurückzukommen, in dem der Übersetzer ausführlich über die Abfassung und Zielsetzung des BuchesBuch reflektiert und sich explizit an die AdressatenAdressat wendet. Damit gewährt er uns einerseits Einsichten in die intendierte Art und Weise der Rezeption der griechischen Übersetzung des Buches, andererseits aber auch in die Art und Weise der Rezeption und Verwendung der „kanonischenKanon“ Texte IsraelsIsrael. „Die Weisung und die ProphetenProphet und die anderen, die auf sie gefolgt sind“ (SirProl 1 fSirProl 1 f). Das vom Prolog vorausgesetzte LektürekonzeptLektüre-konzept der Schriften Israels (und, wie im Verlauf deutlich wird, auch des Sirachbuches selbst) wird in SirProl 4–6SirProl 4–6 sichtbar:

4 Und so ist es notwendig, dass nicht allein die LeserLeser (τοὺς ἀναγινώσκοντας) selbst wissend (ἐπιστήμων) werden,
5 sondern die Freunde des LernensLernen (τοὺς φιλομαθοῦντας) sollen imstande sein, auch denen außerhalb (ἐκτός) nützlich zu sein –
6 durch Sprechen und SchreibenSchreiben (καὶ λέγοντας καὶ γράφοντας).

In diesen Versen wird eine doppelte Funktion des Lesens bzw. des LernensLernen der Schriften IsraelsIsrael sichtbar: der Erwerb von Wissen (ἐπιστήμη) und die Aneignung von Fähigkeiten zur Vermittlung durch das gesprochene Wort und Schrift. Der Kontext legt nahe, dass οἱ ἀναγιγνώσκοντες und οἱ φιλομαθοῦντες mindestens partiell deckungsgleich sind. Es geht nämlich um eine Form des Lernens durch intensive Lektüre.20 Die mit dem PartizipPartizip von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω Angesprochenen subsumieren die Gesamtheit aller RezipientenRezipient; die „Freunde des Lernens“ gehören auch zum Kreis dieser Leserschaft, sind aber in besonderer Hinsicht herausgehoben, indem sie als Multiplikatoren fungieren (sollen),21 die den „Impuls der reichhaltigen TraditionenTradition Israels für eigene Aktivitäten“22 nutzen und zwar im Hinblick auf diejenigen, die ἐκτός sind (s. dazu u. Anm. 122, S. 340). So zeigen SirProl 7–14SirProl 7–14, dass der Prologautor seinen Großvater JesusJesus zu den „Freunden des Lernens zählt“,23 der sich der intensiven LektüreAufmerksamkeitvertieft der drei o. g. Schriftengruppen gewidmet hat.

7–10 Mein Großvater JesusJesus widmete sich (ἑαυτὸν δοὺς) mit großer Intensität (ἐπὶ πλεῖον) der Lektüre (ἀνάγνωσις) der Weisung und der ProphetenProphet und der übrigen väterlichen BücherBuch
11 und erwarb sich durch diese eine reiche Fähigkeit.

Die Formulierung „sich der Lektüre widmen“ (ἑαυτὸν δίδημι ἀνάγνωσιν) impliziert – gedeckt durch den unter 3.1.4 beschriebenen Befund –, dass der Großvater die Schriften IsraelsIsrael in Form von individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Studienlektüre intensiv24 rezipiert hat. SirProl 11SirProl 11 benennt zunächst als Ergebnis dieser Form von Lektüre, dass sich der Großvater eine reiche Fähigkeit (ἕξις) angeeignet habe,25 die aus der Perspektive von SirProl 4 fSirProl 4 f darin besteht, eben nicht nur Wissen zu haben, sondern darüber hinaus auch in produktiver Hinsicht nützlich sein zu können. So hat der Großvater selbst ein Bildungs- und Weisheitsbuch (vgl. die Lexeme παιδεία und σοφία in SirProl 12SirProl 12) geschriebenSchriftGeschriebenes, das sich an die „Freunde des LernensLernen“ (SirProl 13SirProl 13) richtet.

In SirProl 15–18SirProl 15–18 spricht der Prologautor schließlich die adressiertenAdressat LeserLeser seiner Übersetzung in der 2. Person direkt an. Sie sollen ihre Lektüre mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit betreiben (μετ᾽ εὐνοίας καὶ προσοχῆς τὴν ἀνάγνωσιν ποιεῖσθαι; SirProl 16 fSirProl 16 f); und zwar v. a. im Hinblick auf textliche Auffälligkeiten, die – und hier rechtfertigt sich der Prologautor vor seinen Lesern – auf das Problem der Äquivalenz beim Übersetzen vom Hebräischen ins Griechische zurückzuführen sind (vgl. SirProl 19–26SirProl 19–26).26 Sowohl die damit vorausgesetzten philologischen Fähigkeiten der intendierten Adressaten27 als auch die Wendung „die Lektüre betreiben“ implizieren entsprechend der Analyseergebnisse unter 3.1.4, dass der Prologautor eine intensiveAufmerksamkeitvertieft, individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Studienlektüre für seine Übersetzung vorgesehen hat. Ein zusätzliches Indiz dafür bietet zudem das Ende des Prologs, wo er darauf hinweist, dass er die Übersetzung des BuchesBuch auch des Nachts erstellt hat (SirProl 30–33SirProl 30–33), woraus zu schließen ist, dass er sich am in den Quellen vielfach belegten Ideal des nächtlich lesenden und schreibenden Gelehrten orientiert.28

SirProl 33–35SirProl 33–35 gibt außerdem Aufschluss sowohl über die Zielsetzung der Lektüre als auch über das intendierte LesepublikumLese-publikum. Der Prologautor nutzt mit dem Verb ἐκδίδωμι (SirProl 33SirProl 33) die gängige Bezeichnung dafür, dass ein BuchBuch herausgegeben wird (s. zur PublikationPublikation/Veröffentlichung in der griechisch-römischen Welt o. 5), wobei er explizit betont, dass es sich um eine (veröffentlichungsfähige) Endfassung handelt (πρὸς τὸ ἐπὶ πέρας ἀγαγόντα τὸ βιβλίον ἐκδόσθαι). Er hat also seine Übersetzung – möglicherweise über die Kanäle des antiken BuchmarktesBuch-handel verbreitet – für ein anonymes Lesepublikum verfügbar gemacht; und zwar für LeserLeser, die „in der Fremde das LernenLernen lieben wollen (καὶ τοῖς ἐν τῇ παροικίᾳ βουλομένοις φιλομαθεῖν), dass sie sich ihren Ethos so zurichten lassen, toragemäß zu leben“ (SirProl 34–36SirProl 34–36). Das Buch richtet sich also an Juden, die in der DiasporaDiaspora leben,29 und aus dieser Perspektive kann man schlussfolgern, dass diese möglicherweise auch schon in SirProl 5SirProl 5 mit der Formulierung οἱ ἐκτός im Blick sind.30 Der Übersetzer weiß, dass die Schriften IsraelsIsrael in Ägypten in griechischer Übersetzung verfügbar sind und rezipiert werden.31 Er antizipiert ein gebildetes LesepublikumLese-publikum (vgl. SirProl 29SirProl 29), in dem er entsprechend seiner RedeRede von den „Freunden des Lernens“ als Multiplikator wirken kann; also mit seiner Übersetzung einen Beitrag zur aktiven Vergegenwärtigungs- und Vermittlungsarbeit toragemäßer und weisheitlicher Bildung im Sinne der reichen Schriftentradition Israels in der Diaspora leisten kann.32

Dabei deutet weder im PrologProlog noch an anderer Stelle des Sir etwas darauf hin, dass diese Vermittlungsarbeit darin besteht, anderen die Schriften IsraelsIsrael oder das vorliegende BuchBuch kollektiv vorzulesen. Die Lektürearbeit der „Freunde des LernensLernen“ hat eindeutig nicht zum Ziel, sich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen vorzubereiten, sondern dient der eigenen, weisheitlichen Bildung, die wiederum produktiv genutzt werden sollte. Die aktive Vermittlungsarbeit besteht entweder in Form mündlicher LehreLehre (vgl. λέγω) oder der schriftlichen Verarbeitung in Form literarischer Beiträge (vgl. γράφω in SirProl 6SirProl 6), die in erster Linie in Form intensiv-direkter StudienlektüreAufmerksamkeitvertieft rezipiert wurden.

Das Buch JesusSir Sirach setzt also ein weisheitliches LektürekonzeptLektüre-konzept voraus, das zuletzt in KontinuitätKontinuität zu Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2 steht. Dieses hier skizzierte weisheitliche Lesekonzept ist insofern von großer Relevanz für diese Studie, als einige VerfasserAutor/Verfasser neutestamentlicher Texte mutmaßlich zu den empirischen RezipientenRezipient des (griechischen) Buches Jesus Sirach gehörten und sich damit im Sinne des Prologautors implizit als „Freunde des LernensLernen“ und Multiplikatoren identifiziert haben.33 Zudem mahnen die Ergebnisse zur Vorsicht, ein Lektürekonzept im Hintergrund der neutestamentlichen Schriften zu postulieren, bei dem aus einem vermeintlich geringen Literalitätsgrad in antiken Gesellschaften, insbesondere von unteren Schichten, geschlussfolgert wird, dass den vorausgesetzten AdressatenAdressat, die diesen Schichten zugeordnet werden, die Texte „laut“Lautstärkelaut vorgelesen werden mussten. Zumindest aus der Perspektive des Buches Jesus Sirach kämen solche vorausgesetzten Adressaten der neutestamentlichen Texte gar nicht als Rezipienten in Frage. Denn aus der Perspektive des Buches Jesus SirachSir werden zumindest HandwerkerHandwerker explizit als Rezipienten für dieses Buch ausgeschlossen, da dieser Bevölkerungsgruppe die Zeit für eine Auseinandersetzung mit den Texten fehlte (s. o.). Es fällt mir kein guter Grund ein, warum man dies nicht auch analog für die von vielen Forschern postulierten Adressaten der neutestamentlichen Texte annehmen muss, die ebenfalls in den unteren Schichten vermutet werden. Diese fallen als intendierte Rezipienten der neutestamentlichen Schriften aus. Analoges findet sich im Übrigen bei Laktanz, der bezüglich eines ähnlich elaborierten Lektürekonzepts eines philosophischPhilosophie Gelehrten formuliert, dass Frauen, SklavenSklave, ArmeArmut, ArbeiterArbeiter und Menschen vom Lande keine Zeit für das Lernen durch Lektüre hätten, weil Frauen Dinge in Bezug auf den Haushalt lernen müssten, Sklaven durch ihren Dienst zeitlich okkupiert seien und die letzten Drei ihren täglichen Bedarf durch Arbeit decken müssten (vgl. Lact.Lactantius inst. 3,25,12).34 An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass Frauen in der Antike sehr wohl gelesen haben.35

In diesem Kontext hebt Laktanz, wie oben schon ausgeführt (S. 205), auch die perzeptuellen Vorzüge der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre gegenüber dem Hören bzw. Hersagen aus dem GedächtnisGedächtnis hervor. Dies ist zwar nicht ohne Weiteres auf den Übersetzer des Sir zu übertragen – es bleibt völlig offen, ob man sich das im Hintergrund des Sirachbuches stehende Lesekonzept vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend, subvokalisierend oder nicht vokalisierend vorstellen muss. Immerhin ist Letzteres aber vor dem Hintergrund der deutlichen Analogien durchaus denk- und vorstellbar.

Lesen in Antike und frühem Christentum

Подняться наверх