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02. Der Engel namens Elisabeth

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Tante Elisabeth und Wolf fuhren schweigend nach Klein Flottbek, denn keiner wusste so recht, was zu sagen wäre. Nur wenig später waren sie in der Wohnung von Tante Elisabeth.

"So, mein Junge, ich zeige dir erst mal dein Zimmer, dann mache ich uns etwas zu essen. Ich jedenfalls habe Hunger." Wolf nickte. Er hatte auch Hunger, denn seit seiner Festnahme hatte er nicht richtig gegessen. Es gab ein Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe. Tante Elisabeth war keine gute Köchin, wie sie oft genug gesagt hatte, und sie lebte praktisch aus der Tiefkühltruhe von Fertiggerichten. Das Essen war schnell hergerichtet, und aus Bequemlichkeit aßen die Beiden in der Küche.

Zunächst redeten sie nicht sehr viel. Der erste Hunger war gestillt, als Tante Elisabeth sagte:

"Du kannst hier bleiben, solange du willst."

"Ich möchte dir nicht zur Last fallen", erwiderte er, und dann sagte er noch: "Ich will keinem Menschen zur Last fallen. Ich weiß, wo ich unterkommen kann."

"Das mag ja sein", meinte sie fast ungerührt. "Aber du fällst mir nicht zur Last, das kannst du mir ruhig glauben. Und was mich angeht, ich bin ja viel zu faul, um große Umstände zu machen."

Wolf musste lächeln. Er lächelte auch, als sie fortfuhr: "Ich gebe dir den Schlüssel, und du kommst und gehst, wie du es für richtig hältst. Du wirst in Kürze 17 Jahre alt, und du wirst wissen, was du tust."

Wolf half beim Abräumen des Geschirrs, ohne dass Elisabeth etwas gesagt hatte. Er fragte, ob er abwaschen sollte. Lachend antwortete sie, dass sie eine Spülmaschine habe, und da tue sie alles herein. Spülen? Abwaschen? Das habe sie sich schon längst abgewöhnt.

"So, und nun mache ich meinen Mittagsschlaf", erklärte sie. Dabei machte sie normalerweise keinen Mittagsschlaf. Sie wollte aber dem Jungen Zeit geben, seine Gedanken zu sammeln, und sie wollte auch selbst nachdenken. Sie hatte keine Erfahrung mit jungen Menschen, und über Wolf hatte sie nur das erfahren, was Irene ihr gesagt hatte, und das war nicht viel gewesen. Sie gab Wolf den Wohnungsschlüssel, aber er wollte gar nicht fort, zumindest nicht jetzt. Er wollte auch ins Bett gehen, denn er hatte zwei Nächte hindurch kaum geschlafen, In der Zelle sei es nicht besonders gemütlich gewesen. Er war, wie es sagte, hundemüde. Das war richtig, denn kaum war er in seinem Bett, schlief er auch schon, fest und traumlos. Tante Elisabeth hingegen legte sich zwar ins Bett, an Schlaf jedoch war nicht zu denken. Wie würde die Zukunft aussehen? Würde Wolf einen Tag, zwei Tage oder wie lange bleiben? Was würde sie tun, wenn er einfach weglaufen würde? Nein, an Schlaf war nicht zu denken. Ihr war auf einmal bewusst, dass sie eine Verantwortung übernommen hatte, aber wie man damit umzugehen hat, war ihr keineswegs klar.

*

Elisabeth und Wolf saßen an ihrem ersten gemeinsamen Abend gemütlich zusammen und ließen sich gehen. Sie trank etwas Wein, er zog Wasser vor. Warum trinke er kein Alkohol, hatte sie gefragt. Er hatte mit den Schultern gezuckt. Sie fragte nicht weiter nach dem "warum", und so sagte sie, dass sie weder Regeln noch Erfahrung eines Zusammenseins mit jungen Menschen habe. Während ihrer Ehe sei das anders gewesen, denn sie habe mit Rainer im Geschäft gearbeitet, mal als Sekretärin, mal als Protokollführerin, was auch immer. Aber nach dem Tod ihres Mannes habe sie sich an das Alleinsein sehr gewöhnt. Das Alleinsein habe sie sogar genossen.

"Du, ich will nicht stören, und ich kann auch wieder verschwinden", sagte Wolf. Er schaute sie an. Sie wusste, dass er es ernst meinte.

"Ich würde mich freuen, wenn du hier bleiben würdest, denn du störst nicht", entgegnete sie. Und sie sagte weiter: "Du hast den Schlüssel, und du kommst und gehst, wie du möchtest. Ich frage dich nicht, was du tust - aber wenn du von dir aus sagst, was du tust oder was dich bewegt, so hast du sehr offene Ohren. Aber eine Frage: Hast du einen Freund?"

Wolf hatte diese Frage nicht erwartet. Er war überrascht und zögerte mit der Antwort, dann erzählte er, dass er einen Elektriker zum Freund habe. Der heiße Johannes Ederling. Johannes bereite sich auf seine Meisterprüfung in seinem Fach vor.

"Das klingt doch gut. Solltest du ihn mal mitbringen wollen, so ist er willkommen."

"Der ist schwul, wie ich auch", erklärte Wolf. Er schaute Tante Elisabeth an.

"Na, und?" Tante Elisabeth lachte.

Mehr wurde nicht darüber gesagt. Während der Zeit ihrer Ehe und ihrer beruflichen Tätigkeit hatte sie durchaus Verbindung zu homosexuellen Menschen gehabt, und die Begegnung mit ihnen war positiv gewesen.

Nach dem Abendessen verschwand Wolf, er sagte, er müsse noch weggehen - er sagte nicht, wohin oder warum, und Elisabeth fragte auch nicht. Sie sah Wolf nach, und sie freute sich, dass er sich ihretwegen nicht verbog oder etwas vorgab, was nicht existierte.

Wie jeden Abend vorher war sie auch jetzt allein. Sie schaltete das Fernsehgerät an und sah die Nachrichten, dann las sie in einem Buch, das ihr sehr gefiel. Eigentlich brauchte sie kein Fernsehgerät, und meist sah sie nur die Nachrichten, diese allerdings mit einigem Interesse. Dieses Mal ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken immer wieder zu ihrem Neffen wanderten. War es richtig, was sie tat? Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie wusste, dass sie ihn nicht auf die Straße setzen würde. Wolf brauchte so etwas wie einen Hafen, zu dem er zurückkehren konnte, dessen war sie sich sicher.

*

So ähnlich ging das während der nächsten Tage zu. Wolf war abends meistens außer Haus, aber er kam immer wieder zurück, sodass er und seine Tante zumindest gemeinsam frühstücken konnten. Tante Elisabeth frühstückte ziemlich pünktlich gegen 8.00 Uhr. Wolf richtete sich danach, ohne darum gebeten worden zu sein. Was er den ganzen Tag über machte, wusste sie nicht, sie fragte auch nicht, denn sie wollte Wolf nicht zum Lügen verleiten, und noch weniger wollte sie eine Trotzreaktion erleben.

Das gemeinsame Frühstück wurde zu einer Routine, und Wolf ertappte sich dabei, dass er sich auf das Frühstück mit seiner Tante sehr freute. Die Tante stellte nach und nach seine Familie dar, und das Frühstück gehörte ganz einfach dazu. Manchmal erzählte er, was er am Abend oder in der Nacht zuvor gemacht hatte, sie hörte zu. Er ertappte sich dabei, dass er auch Dinge erzählte, die er sonst immer für sich behalten hatte. Gelegentlich erzählte sie von sich oder von dem, was am Vortag passiert war, wenn überhaupt etwas passiert war. Es war einfach gemütlich, dieses Frühstück mit Tante Elisabeth.

Im Wohnzimmer gab es auf der Kommode einen Platz, wo sie € 500,00 in kleineren Scheinen hingelegt hatte. Sie sagte Wolf, dass er jederzeit das Geld nehmen könne, wenn er es brauche. Und wenn er alles oder einen Teil davon genommen habe, werde sie es wieder ergänzen.

"Du sollst nie ganz ohne Geld sein - und ich will auch nicht wissen, was du damit tun wirst", hatte sie erklärt.

Ohne dass er es sich eingestehen wollte, war Wolf gern bei seiner Tante. Sie nahm ihn so, wie er war, und das gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Nach und nach dehnte sich die Zeit des Frühstücks aus. Er begann, ein wenig von sich und seinem Freund Johannes zu erzählen, und er erklärte, dass sein Freund ehrgeizig sei, und dass er bald einen Meistertitel haben dürfte, während er selbst noch nicht einmal einen vernünftigen Schulabschluss hatte. Das erkannte er nicht nur, sondern sprach auch darüber. Aber er hatte nicht vor, noch einmal die Schulbank zu drücken. Dennoch denke er über seine Zukunft nach, und ganz sicher werde ihm auch etwas einfallen, sagte er.

Nach etwa drei Wochen erschien Herbert zur großen Überraschung von Tante Elisabeth. Er wusste natürlich, wo er seinen kleinen Bruder finden würde, und so erschien er eines Abends unangemeldet. Er hatte sogar Glück, denn Wolf war zu Hause. Herbert öffnete seine Arme, und Tante Elisabeth sah mit Vergnügen und Genugtuung, wie sich die Brüder voller Wärme umarmten. Gemeinsam saßen sie im Wohnzimmer, wo sie sich über Belanglosigkeiten unterhielten - und doch waren es wichtige Belanglosigkeiten. Über die Eltern wurde allerdings nicht gesprochen. Elisabeth wollte sich erst zurückziehen, aber die Brüder protestierten heftig. Nein, es sei so gemütlich, und sie gehöre dazu, erklärte Wolf mit einem Lächeln. Herbert stimmte zu.

Herbert hatte mit seinem Besuch keine Absichten verbunden außer der, seinen kleinen Bruder zu sehen, wie er sagte. Er wollte ganz einfach den "Kleinen" sehen und erfahren, wie es ihm gehe. Er erzählte ein wenig von sich und seinem Studium und von einer Cornelia, mit der er befreundet sei. Ja, man habe auch über eine dauerhafte Bindung nachgedacht - aber erst müsse er mit seinem Studium fertig werden.

"Sie ist übrigens Polizistin", sagte Herbert. "Die Eltern wissen noch nichts davon, dass ich eine Freundin habe, und ich habe auch nicht vor, etwas zu sagen - jedenfalls nicht vor dem Ende meines Studiums."

Herbert beschrieb, wie seine Cornelia aussehe - sehr sportlich, zupackend und vor allem könne sie lachen. Cornelia, so meinte er, sei sehr natürlich.

"Du erzählst so nett über deine Cornelia -. bring sie einfach einmal mit", sagte Tante Elisabeth. Ja, wenn es die Zeit erlaube, werde er sie mitbringen. Nicht nur er müsse frei sei, sondern auch sie.

Herbert blieb nicht allzu lange. Er verabschiedete sich, sagte aber, er wolle sich von Zeit zu Zeit blicken lassen.

*

Nur wenige Abende später erschienen Rudolf und Walter, und dieses Mal war Wolf bereits ausgegangen, was sicherlich vor allem Walter recht zu sein schien. Tante Elisabeth empfing ihren Bruder und dessen Ältesten überrascht, aber freundlich und leicht lachend. Rudolf hatte noch nie seine Schwester besucht. Elisabeth hatte es auch nicht erwartet. Ihr Verhältnis zu Rudolf war nicht besonders eng, denn sie hielt ihn ein wenig für oberflächlich, was gewiss ein unbegründetes Vorurteil war. Rudolf schaute sich interessiert um. Die kleine Wohnung war, so fand er, einfach und nett eingerichtet. Walter hingegen schien sich nicht besonders für die Wohnung zu interessieren.

Sie bat die Beiden ins Wohnzimmer und bot Getränke an. Ja, ein Schluck Bier wäre nicht schlecht, meinte Rudolf, der zu Hause nie Bier trank. Walter wollte nichts trinken. Beide, Vater und Sohn, waren in grauen Anzügen mit Weste, sie sahen sehr offiziell und förmlich aus, wie Tante Elisabeth feststellte. Die Beiden waren der lebende Gegensatz zu Wolf, dachte sie. Der Eindruck verstärkte sich durch den kleinen Diplomatenkoffer, den Walter bei sich trug, und den er jetzt öffnete. Er holte aus ihm eine Mappe, die er Rudolf reichte.

"Du wohnst ja recht gemütlich", stellte Rudolf fest, und er schaute sich noch einmal um. Weder er noch Walter hatten eine Vorstellung von Elisabeths privaten Umgebung.

"Danke, ja, ich habe es mir hier recht bequem und einfach gemacht", erwiderte Tante Elisabeth mit einem Lächeln. "Aber Ihr seid doch nicht gekommen, um zu sehen, wie ich wohne und um mir zu sagen, dass ich ganz gut untergebracht bin."

Rudolf machte ein sehr ernstes Gesicht, als er sagte, dass es sich um Wolf handele. Deswegen seien er und Walter gekommen. Er fuhr fort: "In den letzten drei Jahren habe ich für Wolf insgesamt über € 27.000,00 bezahlen müssen - das sind Kosten für den Anwalt, Gerichtskosten, Zahlungen an einen Lehrer und an vier Schülern, die Wolf missbrauchte. Lebenshaltungskosten sind nicht berücksichtigt."

Elisabeth schaute ihren Bruder fragend an. Der nickte und sagte weiter:

"Ich sage dir das, weil Wolf ein Problem ist. Er ist jetzt bei dir, er ist minderjährig, und die Frage ist, wer für ihn verantwortlich ist, und wer für die Kosten aufkommt, die Wolf verursachen könnte." Rudolf schien leicht verlegen zu sein. Er trank ein Schluck Bier.

Es war Walter, der weiter sagte: "Vater hat mit seinem Anwalt gesprochen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder das Jugendamt und das Gericht bestimmen einen Betreuer, oder du übernimmst die Verantwortung für Wolf. Vater sieht Wolf nicht, er hat keinen Einfluss auf ihn, und er will auch in Zukunft die Kosten für Schäden nicht mehr übernehmen."

Rudolf und Walter schauten Elisabeth forschend an. Sie war überrascht, und plötzlich musste sie grinsen. Nicht umsonst hatte sie vor Jahren noch mit ihrem Mann gearbeitet, der auch Familienfälle hatte klären müssen. Sie wusste auf einmal, was die Beiden wollten: Sie wollten Wolf und die Verantwortung für ihn loswerden, und sie hatten zunächst mit einem Anwalt geredet. Und nun? Oh ja, Tante Elisabeth war durchaus bereit, die Verantwortung für Wolf zu übernehmen. Aber sie wollte es ihrem Bruder auch nicht zu leicht machen. Er und Walter müssten schon genauer sagen, was sie wollten.

"Was genau möchtest du?", fragte Elisabeth, als Walter und Rudolf schwiegen. Sie schaute Rudolf an, denn die Frage war an ihn gerichtet.

"Ganz einfach: Bleibt Wolf hier, dann solltest du auch die Verantwortung übernehmen. Wenn nicht, schalten wir das Familiengericht ein, und dann wird ein Betreuer oder was auch immer bestimmt", erklärte Rudolf. Er fuhr fort: "Es liegt bei dir. Willst du keine Verantwortung übernehmen, müsste Wolf möglicherweise untergebracht werden - es gibt ja Anstalten dafür. Willst du die Verantwortung übernehmen, so müsstest du unterschreiben." Rudolf reichte seiner Schwester ein von seinem Anwalt verfasstes Papier.

Elisabeth nahm das Papier, warf nur einen sehr flüchtigen Blick darauf, dann fragte sie, ob Rudolf einen Stift habe. Ganz überrascht schaute er seine Schwester an.

"Ich unterschreibe", sagte sie. Sie nahm den Stift, den Rudolf ihr gereicht hatte und unterschrieb.

"Willst du das Papier denn nicht lesen?", fragte Rudolf ganz erstaunt.

"Nein", entgegnete sie, dann reichte sie ihm den Stift und das Papier. Rudolf überließ ihr dann noch eine Kopie, abgestempelt vom Notar und unterschrieben von Rudolf.

"Ich hoffe, die weißt, worauf du dich einlässt", sagte Walter. "Wolf ist ein ausgesprochen schwieriger Mensch, ein Mensch, der in keine Norm passt. Er ist ein Außenseiter, und er ist ausgesprochen gefährlich."

"Lass es gut sein", meinte Rudolf. "Tante Elisabeth wird wissen, was sie tut.

"Ja, das weiß ich", bestätigte sie.

Sehr bald verabschiedeten sich Rudolf und Walter. Es gab ganz einfach nicht mehr viel zu sagen. Sie fragten nicht, wo Wolf sich jetzt aufhalten würde, oder wie es ihm gehe. Rudolf und Walter hatten die Verantwortung für den Jungen abgeschoben, das war es, was bei Elisabeth haften geblieben war, und sie hatte die Verantwortung übernommen. Ob das alles so rechtens war, war ihr nicht ganz klar, aber das war ihr gleichgültig.

Am nächsten Morgen frühstückten Tante Elisabeth und Wolf wieder gemeinsam. Wolf sah ein bisschen müde aus, wie Tante Elisabeth belustigt feststellte. Nach einigen guten Schlucken heißen und starken Kaffees erzählte sie von Rudolfs und Walters Besuch, und sie zeigte ihm auch die Kopie des Dokumentes, das Rudolf ihr übergeben hatte. Wolf las das Papier zweimal, dann bekam er einen roten Kopf. Elisabeth legte kurz ihre Hand auf seine Hand, ehe sie sie wieder zurückzog und sagte:

"Ich habe mit einiger Freude unterschrieben, mein Junge."

Wolf wusste zunächst nicht, was er sagen sollte, dann kam es aus ihm heraus: "Du wirst das nicht zu bereuen haben."

Sie lächelte leicht. Ja, sie würde es nicht zu bereuen haben, dessen war sie sich sehr bewusst.

Wolf

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