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03. Die unkindliche Kindheit des Jens Hansen

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Dr. Markus Lediga war ein begnadeter Erzieher, so jedenfalls wurde er beurteilt, und so sahen ihn auch die Betreuer und die Kinder im Waisenhaus. Im Heim befanden sich 53 Kinder vom Babyalter bis zum 14. Lebensjahr. Es herrschte oft ein großes Durcheinander, es ging laut zu, und das knappe Personal hatte Mühe, mit den Kindern zurechtzukommen. Jedem Kind die nötige Aufmerksamkeit zu widmen, war unmöglich. Erschien Dr. Markus Lediga, dann herrschte Ruhe. Er hatte eine besondere Art, die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich zu ziehen. Er setzte sich manchmal zu ihnen auf den Boden, er erzählte spannende Geschichten, er half bei Schularbeiten. Er leitete auch den kleinen Chor, er machte Ausflüge mit ihnen - war er da, so verwandelte sich alles in ein Spiel.

Natürlich fragte sich manch einer, wieso ein promovierter Mann einen so unspektakulären Job als Erzieher in einem Heim hatte und sehr zufrieden damit war, wie er immer wieder versicherte, wenn er gefragt wurde. Er hatte Psychologie studiert, er hatte ein gutes Examen hingelegt, aber er hatte Arbeitsangebote abgelehnt und sich für dieses Heim entschieden. Erst hatte man ihn gar nicht einstellen wollen, denn er galt als überqualifiziert, er passte in keine Gehaltsgruppe und die Heimleitung hatte zunächst keine Ahnung, wie man einem so hochqualifizierten Menschen überhaupt begegnen sollte. Er hatte vor sechs Jahren angefangen, und nun war er da, geschätzt, geachtet und sogar geliebt. Man schätzte nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Bescheidenheit, seine Freundlichkeit und das unglaubliche Talent, den Kindern Fröhlichkeit zu geben.

Es war vielleicht vor zwei Jahren gewesen, da hatte er einen 13-jährigen Jungen aus dem Heim zu sich geholt, und das in Absprache mit der Heimleitung und dem Jugendamt. Der Junge war als sehr problematisch empfunden worden, der das geregelte Heimleben und die Ordnung ständig störte. Das machte er vielleicht nicht mit Absicht, aber "er war eben so", wie man sagte. Und so nahm Dr. Lediga den Jungen zu sich nach Hause. Dr. Lediga hatte eine kleine Vierzimmerwohnung, der Junge bekam dort sein eigenes Zimmer und lebte dort wie ein Sohn des Hauses beim Doktor.

Nun gab es im Heim einen weiteren Jungen, der zwar ganz nett aussah, der aber ebenfalls als problematisch galt, wie die Heimleiterin sagte. Dr. Lediga war zwar anderer Ansicht, denn der Junge war still, verträumt - aber vielleicht war es das, was die Heimleiterin als problematisch bezeichnete. Nach mehreren Diskussionen war Dr. Lediga bereit, auch diesen Jungen zu sich zu nehmen, aber dabei wollte er auch das Jugendamt dabei haben, mit dem unter anderem auch die Frage der Vormundschaft geklärt werden sollte. Dr. Lediga gab klar zu erkennen, dass er selbst nicht unbedingt eine Vormundschaft anstrebe, aber er wolle klare Verhältnisse haben.

Die Vorbereitungen und die administrativen Erfordernisse nahmen noch drei Monate in Anspruch, dann zog der Junge, ein Jens Hansen, acht Jahre alt, in die Wohnung von Dr. Markus Lediga. Der Junge war offensichtlich ganz froh, das Heim zu verlassen, denn dort hatte er sich nicht richtig froh gefühlt. Er hatte sich stets in eine andere Welt geflüchtet, die er sich in Gedanken aufgebaut hatte, und in der es die Unannehmlichkeiten, die in einem Heim immer vorkamen, nicht gab. Er mochte den Erzieher, der immer nett, freundlich und vor allem auch fröhlich war, und der seine Traumwelt zu verstehen schien.

Dieser dünne, kleine Junge war hellblond, gut gewachsen, hatte strahlend blaue Augen, die, wenn der Junge lachte, kaum zu sehen waren. Er hatte ein fast rundes Gesicht mit deutlichen Backenknochen, eine geragte Nase und einen sehr breiten Mund. Man sagte allgemein von ihm, dass er sehr groß werden würde. Bereits jetzt, mit seinen acht Jahren, war er groß. Er wirkte scheu, schloss sich den anderen Kindern nicht an und hielt sich gern in Verstecken auf. Nein, er war "komisch", so sagte eine der Erzieherinnen, ein schwieriger Junge. Man war allgemein froh, dass Dr. Lediga den Jungen zu sich nahm. Man hatte somit eine Sorge weniger.

*

Der Junge, Jens Hansen, merkte bereits in den ersten Tagen, dass Markus Lediga ein Doppelleben führte, und dass er zu Hause ein anderer Mensch war. Aber auch da war er ausgesprochen nett, niemals böse oder gar laut. Jens hatte in seinem Leben nicht viel Nettigkeit erfahren. Er kannte seine Eltern nicht, er kannte nur das Heim. Ja, die Leute waren nicht böse, das konnte man nicht sagen. Aber er war dort immer nur eine Nummer von vielen, es konnte nicht anders sein. Nun zeigte sich, dass er nicht eine Nummer war.

Dr. Lediga und Fritz Limmers, jetzt 15 Jahre alt, trainierten Jens zu einem "Loverboy" oder Sex-Boy. Sie taten es geschickt, fast liebevoll und spielerisch, und Jens machte mit, weil er das interessant fand, und weil er dabei die Liebkosungen erhielt, die bislang nicht da gewesen waren. Nicht alles war schön und interessant, wie Jens lernte, gewiss, aber es war immer auch aufregend.

Jens Hansen besuchte natürlich die Grundschule, er machte seine Aufgaben, und dann gab es Sport im Klub - darauf achtete Dr. Lediga. In der Schule fiel Jens nicht auf, denn er war sehr still, hatte keine Spielkameraden, und machte immer seine Hausaufgaben. Einer der Lehrer hatte einmal gesagt, dass Jens auffallend blass sei, aber die Kollegen meinten, dass Jens noch nie anders ausgesehen habe.

Und dann gab es "die Spiele" mit Fritz und Markus. Ganz zwanglos ging es da zu, immer mit Gelächter. Jens lernte, dass es keine Tabus gab, dass der Penis und der Podex "wichtige und anständige" Teile des Körpers waren, und Jens lernte, erst Fritz und Markus, dann auch fremden Leuten zu Diensten zu sein, weil es anscheinend Spaß machte und Freude brachte. Natürlich gab es ausgefallen Spiele, Spiele, die gelegentlich auch schmerzhaft waren.

Jens lernte noch eine ganze Menge mehr, vor allem lernte er, den Mund zu halten. Er lebte ja auch ganz gut. Er hatte neue Kleider, er lernte fremde Menschen kennen, und er lernte, ihnen gefällig zu sein. Es war entschieden besser als im Heim, entschied er. Seine Dienste als "Loverboy" machten ihn allerdings auch einsam. Außer Markus und Fritz gab es keinen Freund oder Kumpel, mit dem er offen reden konnte. Immer wieder hieß es: Mund halten, und das war es auch, was Jens tat. So kam es auch, dass sich Jens eine kleine Welt schuf, die seine Welt war, praktisch eine Parallelwelt, in der es Menschen gab, denen er vertrauen konnte, ohne ihnen gleich zu Diensten zu sein.

Eines Tages verschwand Fritz. Markus erzählte dem Jungen, dass Fritz jetzt bei einem reichen Mann aus Dubai lebe. Fritz sei dort sehr glücklich, denn der Mann sei ein guter Freund, ein ehrenwerter Mann. Markus beschrieb das neue Zuhause von Fritz so, als sei er dort gewesen, und als wisse er sehr genau, wie es im neuen Zuhause zuging. Jens fragte, ob er eines Tages auch nach Dubai gehen werde. Markus lachte, und er sagte, dass er das nicht wisse.

Jens begriff auch bald, dass Dr. Lediga die Kontakte über das Internet herstellte, und dass die "fremden Freunde" auch Geld bezahlten, zum Teil sehr viel Geld. Schließlich merkte Jens, dass die "fremden Freunde" von seinen Künsten, von seiner Art gefällig zu sein, auch ganz begeistert waren. Sie verlangten ihn immer wieder, und das gefiel Jens. Er klagte nicht, wenn es mal zu viel wurde, oder wenn es schmerzhaft zuging. Es kam sogar vor, dass er gefesselt wurde oder dass er geschlagen wurde. Aber die Wunden, so es denn welche gab, heilten, und Markus kümmerte sich dann liebevoll um den Jungen.

Die Freunde von Markus lebten nicht alle in Hamburg. Sie wohnten in Bremen, Düsseldorf, Amsterdam. Die Freunde holten den Jungen ab und brachten ihn wieder zurück, und dann wurde gezahlt. Einmal wollte einer der Freunde den Jungen bei sich behalten, und er bot dem Erzieher ein kleines Vermögen an. Aber Markus ließ sich darauf nicht ein, denn noch hatte er keinen Ersatz für Jens.

Wolf

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