Читать книгу Alltagsattraktionen - Jan Lipowski - Страница 12
Eiland
ОглавлениеVerspätet kamen wir nach dem sommerlichen Dauerstau quer durch Rügen am Hafen an, wo wir bei strömenden Regen die letzte Fähre erreichten, um von einer Insel zur nächsten überzusetzen. Auf dem Schiff nisteten Schwalben, welche ihre Lehmnester an die Stahlträger des Oberdecks geklebt hatten. Schnell gelang es den kleinen Vagabunden mit ihren Flugkünsten unsere Mienen aufzuhellen. Ich rätselte, ob diese Vögel nun einen festen Wohnsitz hatten oder nicht – als dat söte Länneken, wie die Einheimischen liebevoll zu ihrer Insel sagen, vor uns aus dem Nebel tauchte. Hiddensee!
Eine Woche auf diesem Eiland ist erholsam wie zwei Wochen Urlaub anderswo. So gesehen hatten wir zwei geruhsame Wochen vor uns, tatsächlich aber acht Tage Ferien unterm Reetdach. Solcherart Dach hatte auf Usedom meine Liebste bereits von ihrer Spinnenphobie geheilt. Doch unser diesjähriges Feriendomizil sollte dies noch weit in den Schatten stellen…
Die Insel empfing uns freundlich und, da hier keine privaten PKW erlaubt sind, mit bester Luft – unser Quartier jedoch mit üblem Geruch. Wir schoben dies zunächst auf das noch regennasse, dick bemooste Reetdach. Irgendwie haben wir oft das „Glück“, in besonders schönen Orten recht schäbige Quartiere abzubekommen. Mit Duftkerzen und Raumspray wird es sich schon aushalten lassen. Hauptsache, das Wetter spielt mit! – Tatsächlich brach die Abendsonne durch die Wolken und auch die folgenden Tage zog das Wetter alle Register eines schönen Sommers. Stets konnten wir unter freiem Himmel vor dem Haus frühstücken, umrahmt von weißem Mauerwerk, einer Reihe Sonnenblumen, einem Wacholderbusch und einer mit Grasnelken geschmückten Wiese. Danach spazierten wir meist zum Strand, wo wir uns in der Sonne aalten, im Schatten unseres Windschutzes gute Bücher lasen und hin und wieder in der Ostsee schwammen. Dem Badespaß setzte die nach drei Tagen auftretende Strömung ein jähes Ende. Klares, aber 10 °C kaltes Wasser, welches weder zu unserem Temperaturempfinden noch zur beinahe dreimal wärmeren Luft passte.
Ab dem späten Nachmittag gaben wir dann das am Quartier gesparte Geld für leckeres Essen und Kultur aus. Ausgiebig genossen wir Sanddorn- und Edelfischspezialitäten. Und, um nicht außer Form zu geraten, umrahmten wir unsere Schlemmerphasen mit ausgedehnten Strand- und Heidewanderungen sowie kleineren Radtouren, denn große ließ das Eiland nicht zu. Dabei präsentierte sich die Insel als sehr abwechslungsreich: ausgedehnte Wiesen, kleine Waldgebiete, feinste Sandstrände, Schwemmland, Dünen, Heidelandschaften und die imposante Steilküste.
Kulturell starteten wir mit dem Besuch des Gerhart-Hauptmann-Hauses in Kloster. Hier fanden gerade die Studiofilmtage statt und spätabends liefen Stummfilme. Wir sahen Chaplins Klassiker »Modern Times«, der mit einem 16-mm-Bauer-Professionell Filmprojektor unter freiem Himmel gezeigt wurde. Ambiente, Film und Rotwein harmonierten. Als die Filmrolle gewechselt wurde, konnten wir deutlich die Milchstraße über uns erkennen. Um Mitternacht radelten wir mit surrenden Dynamos auf dem Plattenweg durch die Heide zurück. Grillen zirpten auf einer höheren Frequenz und ein orangefarbener Mond leuchtete knapp über dem Bodden.
In den Folgetagen besuchten wir Kunstausstellungen, die kleine Inselbibliothek, wo Vater bald Aquarelle zeigt, das Zeltkino, sämtliche Häfen der Insel – drei an der Zahl – und natürlich den vom Wetterbericht bestens bekannten Leuchtturm auf dem Dornbusch, der, wie sich am Jahresende herausstellen sollte, 2004 mit genau zweitausendvier Sonnenstunden der sonnigste Ort Deutschlands war.
Beim Abendspaziergang zur »Heiderose« kam uns ein älteres Pärchen mit tief gebräunten Gesichtern und weißem Haar entgegen – vor dreißig Jahren war dies bei den beiden sicher farblich umgekehrt. Auf dem Rückweg trieben plötzlich dichte Nebelschwaden über die Heidelandschaft. Trotzdem wurden wir von gierigen Mückenschwärmen gefunden, die ebenfalls über die Heide zogen. Unter leichtem Blutverlust gelangen mir einige Fotos vom Schauspiel der Nebelbänke.
Wir genossen Tage voller Entspannung und Beschaulichkeit. Idylle, Ruhe und beste Luft umgaben uns – von unserem Zimmer einmal abgesehen. Morgens krähte es überall im Dorf – besonders laut der Hahn gegenüber unserem Quartier. Durch das stets sperrangelweit offen stehende Fenster hörten wir Pferdefuhrwerke und Fahrräder auf dem Sandweg knirschen und abends späte Heimkehrer. Auch Gesprächsfetzen drangen dann herauf. »Der Vorteil solcher Gläser ist doch, dass man nicht bis zum Eichstrich…« »Ja, ja – aber so war das doch schon zu Ostzeiten…« »Othello-Keks mit viel Butter und dann noch einen Keks obendrauf!« »… nein, morgen mal wieder ein Frühstücksei…«, hörte ich als Letztes bevor ich einschlief.
Und am nächsten Tag fand ich vor unserem Haus ein Ei. Tatsächlich! Ein makellos weißes Hühnerei, das auf der Wiese direkt neben dem Weg lag. Die dicken Hennen scharrten abseits. Freudig hob ich es auf.
Ich: »Oh, guck mal, ein Ei. Das kochen wir uns.«
Die Liebste: »Nein, lass das liegen. Das kann man nicht so einfach mitnehmen und essen.«
I.: »Wieso? – Das kochen wir uns morgen zum Frühstück.«
D. L.: »Nee.«
I.: »Heute Morgen wolltest du sogar den Hahn in den Topf stecken!«
D. L.: »Komm, das frühe Herumgekrähe hat dich doch auch gestört!«
I.: »Ja, dann nehmen wir das Ei eben als … Wiedergutmachung mit.«
D. L.: »Der Hahn wird es ja wohl kaum gelegt haben!«
I.: »Mag sein … aber so ein frisches Ei haben wir noch nie gehabt! Ist vielleicht eine Viertelstunde alt, quasi noch legewarm.«
D. L.: »Ha – es lag doch in der Sonne! Außerdem ist das noch viel zu frisch, so schnell darf man das gar nicht essen.«
I.: »Wie? Zu frisch? Das versteh’ ich jetzt echt nicht.«
D. L.: »Na ja, eben zu frisch. Habe ich mal gelesen.«
I.: »So was habe ich noch nicht mal gehört. Willst du es nun morgen zum Frühstück?«
D. L.: »Nein.«
I.: »Warum nicht?«
D. L.: »Da kommt ein Küken raus.«
I.: »Morgen noch nicht.«
D. L. »Iiiih, bist du eklig!«
I.: »Hmm. Aber überleg doch mal: ein makelloses und kostenloses Hühnerei zum Frühstück! Und morgen ist es auch nicht mehr ganz so frisch.«
D. L.: »Nein!«
I.: »Aber du hast doch sonst immer Appetit auf ein Frühstücksei?«
D. L.: »Ja. Sonst.«
I.: »Ja?«
D. L.: »Ja, aber nur auf ein richtiges, eins mit Stempel und so… Und wer weiß wie l-a-a-n-g-e-e dieses Ei hier schon so herumliegt!«
I.: »!?«
Ich habe nicht mehr herausbekommen, was an frischen Eiern nicht stimmen sollte, außer dass sie nicht schon ewig in der Sonne gelegen haben konnten. Aber es war mir nun auch irgendwie suspekt und ich legte das Ei wieder ins Gras zurück. Es hatte also doch einen entscheidenden Makel: Es lag einfach so auf der Wiese herum.
Erst am letzten Urlaubsmorgen wünschte sich die Liebste wieder ein Frühstücksei. Im Gras lag natürlich keins und sonntags hatte der Dorfladen zu. Aber immerhin erfuhr ich vom Nachbarn, der leider keine Eier übrig hatte, weil seine Hühner neuerdings kaum noch legten (zumindest fand er kaum noch Eier im Stall), dass bis vor kurzem ein Marder unter dem Dach unseres Quartiers sein Unwesen getrieben hatte. Vor etwa drei Wochen wurde das Loch entdeckt und sogleich zugemauert.
Vielleicht hätte man den Marder vorher herauslassen sollen…? Oder wenigstens die Eier entfernen, von denen er scheinbar eine ganze Anzahl unter dem Dach gehortet hatte…? – Von wegen faulendes Reetdach!