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Prolog

Sein Spiel meines Lebens

»Drei Tore innerhalb von fünf Minuten, ein lupenreiner Hattrick! Wann hat’s das zum letzten Mal gegeben? Wir haben nachgefragt beim Sportinformationsdienst – die suchen immer noch.«

Ulli Potowski: Anpfiff – Die Fußballshow, 27. August 1991

Wenn ich an Duisburg denke, denke ich an Michael Tönnies und Giraffen. Mit fünf sah ich sie zum ersten Mal im Duisburger Zoo. Ich hatte sie für riesig gehalten, doch dann staunte ich, wie groß sie wirklich waren. Mit sieben sah ich ihn zum ersten Mal im Duisburger Wedaustadion. Ich hatte ihn für den besten Stürmer gehalten, doch dann staunte ich, wie gut er wirklich war. In Duisburg habe ich das Staunen entdeckt.

Als Michael Tönnies und ich uns zum ersten Mal gegenübersitzen, schaut er mich mit weit aufgerissenen Augen an – als sei er es, der nicht fassen kann, dass wir hier zusammensitzen. Er hat dieses kindliche Staunen in seinen Augen.

»Noch Kaffee?«, fragt er. Seine Stimme klingt belegt und irgendwie blechern. Sein Arm zittert, als er die Kaffeekanne anhebt.

An diesem Mittwochmittag im Sommer 2013 in Essen-Schonnebeck schließt sich also der Kreis. Hätte mir damals jemand vorausgesagt, dass ich mal mit dem Helden meiner Kindheit im Wohnzimmer seiner Eltern sitzen und Kaffee trinken würde, hätte ich mich wohl aufgeregt – wieso sollte ich jemals etwas anderes trinken als Fanta?!

Es war ein Dienstagabend im Sommer 1991, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe: Mein Vater fährt mit mir im Zug nach Duisburg. Sonst besuchen wir hier immer nur Verwandte von ihm. Sie kommen fast nie zu uns, sie sind alle schon alt. Ich glaube, in Duisburg leben nur alte Menschen. Aber heute Abend besuchen wir sie nicht, heute geht mein Vater zum ersten Mal mit mir zum MSV. Er kommt aus Meiderich, genau wie der MSV. Der MSV ist sein Lieblingsverein. Und der beste Spieler vom MSV ist Michael Tönnies. Ich habe gehört, dass er am liebsten Pommes isst, genau wie ich. Er trägt einen Schnurrbart und hinten die Haare etwas länger, damit sieht er aus wie die Männer vom Campingplatz bei meinen Großeltern.

Die Spieler vom MSV heißen »Zebras«, weil sie Trikots mit Streifen tragen. Das sind die schönsten Trikots der Bundesliga, sagt mein Vater. Auf die Trikots freue ich mich am meisten.

Michael Tönnies ist unterwegs auf der Autobahn 59, zusammen mit seinen Mannschaftskollegen Dirk Bremser und Patrick Notthoff. Richtung Wedaustadion. Notthoff und Bremser sind beste Freunde. Zwei, die nichts auseinanderbringen kann. Sie unterhalten sich über die Noten im kicker, während Michael Tönnies am Steuer sitzt und schweigt. Belangloses Zeug, denkt er. Noten interessieren ihn nicht, Zeitung liest er nur noch selten, denn so kriegt er es auch nicht mit, wenn die Journalisten ihn mit einer Karre Sand vergleichen. Langsam müsste er mal wieder treffen, alle warten auf sein zweites Tor. In den vergangenen drei Spielen hat er keins mehr geschossen.

Dirk Bremser wohnt in Bochum, Michael Tönnies in Essen. Anfangs haben sie sich in Gelsenkirchen-Heßler getroffen, und von da aus sind sie dann gemeinsam weiter nach Bottrop gefahren, um Patrick Notthoff abzuholen. Aber weil Michael Tönnies mit Bremser nicht so kann, treffen sie sich mittlerweile erst in Bottrop bei Notthoff. Von Bottrop nach Duisburg, da macht man eigentlich keine Fahrgemeinschaft, das sind nur drei Ausfahrten, zehn Minuten – eigentlich Blödsinn, hat sich Michael Tönnies am Anfang gedacht. Er wollte dazu aber nix sagen. Also beteiligt er sich weiterhin an der Fahrgemeinschaft und schweigt.

Die Flutlichtmasten. Das muss es sein, das Wedaustadion. Mein Vater und ich gehen über einen Parkplatz und hören in der Ferne ein Rauschen. Durch ein Gittertor und dann eine Treppe hinauf geht es auf die Haupttribüne. Mit jeder Stufe wird das Rauschen lauter. Oben angelangt schlägt es mir um die Ohren. Es sind die Fans vom MSV. Sie singen, schreien, ich kann sie nicht verstehen – nur dieses wilde Rauschen. Auf dem Rasen schlagen die Spieler Flanken, rennen hin und her oder schießen aufs Tor. Ich bin traurig, weil sie doch keine gestreiften Trikots anhaben, nur weiße T-Shirts mit einem bunten Muster auf der Brust. Und wo ist eigentlich Michael Tönnies? Da! Er schießt – Tor!

Rrrchd – Michael Tönnies liebt dieses Geräusch, wenn der Ball ins Tornetz prallt, er kennt es ganz genau, das gibt es nur einmal. Aus allen Geräuschen würde er es heraushören.

Heute bisse gut drauf, sagt er sich, als er vom Rasen zurück in die Kabine trabt. Noch mal umziehen, noch ein paar Worte vom Trainer. Aber der sagt eh nie viel.

Der Trainer vom MSV heißt Willibert Kremer. Als mein Vater in Meiderich zur Schule ging, hatte er bei ihm Sportunterricht, bei einem richtigen Bundesligatrainer. Meine Sportlehrerin macht sonst nur Mathe und Kunst.

Die Aufstellung ertönt, der Stadionsprecher liest über Lautsprecher die Vornamen der Spieler vor und die Fans schreien dann den Nachnamen. Die hören sich lustig an: NAIHÜSS! GIELCHEN! PUTZAMMZISS! Mein Vater hat mir erzählt, wenn der Willibert Kremer sich die Aufstellung überlegt, geht er im Duisburger Wald hinterm Zoo spazieren. Bestimmt weiß er das, weil Kremer mal sein Sportlehrer war.

»Nummer zeehn …« Der Stadionsprecher quakt wie eine Ente: »… Michaeel …«

»TÖNNJESS!«

Boah, war das laut!

In den Katakomben unter der Haupttribüne hört Michael Tönnies von all dem nichts. Und das ist auch besser so, denn er ist ohnehin schon nervös genug. Heute bisse gut drauf, sagt er in Gedanken zu sich selbst. Heute machse zwei.

Kurz bevor die Spieler rausgehen, zieht er sich noch einmal zurück, geht vorbei am Duschtrakt, wo sein Mitspieler Ewald Lienen auf einer Isomatte liegt. Lienen hat die Augen geschlossen. Autogenes Training, Atemübungen – so entspannt er sich vor dem Spiel.

Ach, der meditiert wieder, denkt sich Michael Tönnies im Vorbeigehen. Für ihn ist das nix, er geht lieber aufs Klo noch schnell eine Kippe rauchen. Nur ein paar Züge – das beruhigt ihn.

Dann pfeift der Schiri.

Michael Tönnies wirft die Zigarette ins Klo, zieht ab und geht zurück. Im Kabinengang warten schon seine Mitspieler, aufgereiht daneben die Gegner. Eisenstollen klicken unruhig auf dem Boden.

»Meine Herren«, sagt Hartmut Strampe, der Schiri. Er ist jünger als so mancher Duisburger Spieler hier im Gang; es ist sein erstes Spiel in der 1. Bundesliga. Dann laufen sie raus. Das Rauschen wird lauter. Michael Tönnies spürt es am ganzen Körper, als er über die Tartanbahn auf den Rasen läuft, mitten hinein.

Zum Glück haben sie doch noch die richtigen Trikots angezogen. Mehr habe ich mir gar nicht gewünscht. Wenn der MSV jetzt auch noch gewinnt …

Um 19:30 Uhr pfeift Schiedsrichter Hartmut Strampe an. Es ist der 27. August 1991. Sechster Spieltag. MSV Duisburg gegen den Karlsruher SC. In einer Viertelstunde wird Michael Tönnies unsterblich sein.

Es war sein größtes Spiel und das Spiel meines Lebens. Damals dachte ich, es ginge immer so weiter. Aber von da an ging es bergab. Mehr als zwei Jahrzehnte später frage ich ihn nun: »Wissen Sie eigentlich, was Sie damals angerichtet haben?« Er zieht die knöchrigen Schultern hoch, die viel zu breit wirken für seinen abgemagerten Körper. »Was will man da machen?«, antwortet er, »da läuft das Schicksal.« Und dann, fast entschuldigend, sagt er noch: »Ich hab’ mich in die Herzen der Fans geschossen.«

Er sagt es, als würde er sich dafür genieren, als zweifle er daran, ob er das wirklich verdient habe. Wie einer, der sich auf der Kirmes überreden lässt, ein Los zu kaufen, dann sogar gewinnt, aber am Ende nicht weiß, was er mit dem sperrigen Hauptgewinn anfangen soll. Mit den Toren vom 27. August 1991 scheint es wie mit seinen Schultern zu sein. Sie sind ihm zu groß geworden.

Damals im Sommer 2013 siezen wir uns noch, ich ahne nicht, dass aus diesem Gespräch mal ein Buch entstehen würde. Es soll eigentlich nur ein Randaspekt sein in einer Reportage über die Situation des MSV Duisburg, der in diesem Sommer 2013 vor dem Absturz in den Amateurfußball steht. Schon während unseres Gesprächs merke ich, dass diese Lebensgeschichte zu groß ist, um sie in ein paar Sätzen abzuhandeln.

Doch bis auf ein Online-Magazin interessiert sich niemand für die Geschichte des Michael Tönnies. Ich verstehe es nicht, denn ich hatte nie zuvor einen Menschen erlebt, der so schonungslos und offen über sich und sein Leben urteilt, ohne dabei jedoch verbittert zu klingen. Ein Mann, der dem Tod nach schwerer Krankheit entronnen war und sich dennoch die entwaffnende Unbedarftheit eines Kindes bewahrt hat. Mir ist sofort klar, dass diese Geschichte zu groß ist, um sie in irgendeiner Schublade verstauben zu lassen. Als ich ihn einige Wochen später anrufe und frage, ob er schon mal darüber nachgedacht habe, seine Biografie zu schreiben, sagt er: »Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemanden interessiert.«

Ich gebe ihm Bedenkzeit, und zum Glück dauert es nicht lange, bis er es sich anders überlegt. »Ich will das machen, solange ich noch ein bisschen berühmt bin«, sagt er. Mitte September 2013, knapp drei Monate nach unserem ersten Treffen, einigen wir uns darauf, dass ich die Geschichten seines Lebens aufschreibe. »Auf der Kippe.« Der Titel gefällt ihm auf Anhieb.

Kindheitshelden können zerbrechen, wenn man sie von dem Sockel herabsteigen lässt, auf den man sie einst gestellt hat. Weil der Mensch hinter dem Helden kaum mit dem Bild mithalten kann, das man sich von ihm gemacht hat. Weil der Mensch hinter dem Helden selten heldenhaft ist.

Die Giraffen sind nie wieder so groß gewesen wie beim ersten Mal. Und Michael Tönnies hat nie wieder so einen Tag erwischt wie damals im August 1991, als ich ihn zum ersten Mal sah.

Aber zum Staunen bringt er mich noch immer.

Jan Mohnhaupt, Berlin, im März 2015

Auf der Kippe

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