Читать книгу Auf der Kippe - Jan Mohnhaupt - Страница 9

Оглавление

Tief in Oberfranken

(1981 bis 1982)

»Wer als Meister ward geboren, der hat unter Meistern den schlimmsten Stand.«

Friedrich Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Rudi Assauer will einen Neuanfang beim FC Schalke starten, und dieser junge Mittelstürmer, der sich in drei Jahren nicht durchgesetzt hat, der wird sich auch im vierten Jahr nicht durchsetzen – den braucht er nicht mehr, der kann gehen. Aber Assauer drückt es etwas vorsichtiger aus:

»Wir legen dir keine Steine in den Weg«, sagt er zu Michael Tönnies.

Doch Michael versteht genau, was das heißt – er soll sich einen neuen Klub suchen. Er ist enttäuscht, er hatte gehofft, dass er in der zweiten Liga eine neue Chance bekommt. Aber Assauer hat ja recht, merkt er – er wird sich nicht mehr durchsetzen, das ist ihm nun im Frühjahr 1981 auch klar. Seit sieben Jahren ist er beim FC Schalke, seit drei Jahren ist er Profi, neun Spiele hat er in dieser Zeit bestritten. Er soll weg, er muss weg – und er will weg. Er hat genug, er will endlich spielen.

Sein Konkurrent Klaus Fischer hilft ihm bei der Suche nach einem neuen Verein und vermittelt ihm ein Probetraining beim FC Basel. Doch die Schweizer entscheiden sich für Harald Nickel von Borussia Mönchengladbach. Als beim FC Schalke am vorletzten Spieltag die letzte Hoffnung auf den Klassenerhalt stirbt, ist Michael Tönnies schon nicht mehr im Kader. Einen neuen Verein hat er immer noch nicht.

Irgendwann klingelt daheim in Essen das Telefon. Ein Spielervermittler erzählt ihm, dass er einen Verein für ihn habe, einen Zweitligisten aus dem Süden, mehr könne er ihm noch nicht sagen, sonst könnte der Deal platzen. Michael Tönnies hinterfragt das nicht, so läuft das eben. Einige Wochen später erfährt er, wo es hingehen soll. Die Spielvereinigung Bayreuth will ihn verpflichten. Die Oberfranken waren 1979 knapp am Aufstieg in die 1. Bundesliga gescheitert und hatten ein Jahr später den FC Bayern München mit 1:0 aus dem DFB-Pokal geworfen. Nun wollen sie ihn, fürs offensive Mittelfeld! Mit seinem Vater fährt er die 500 Kilometer weite Strecke zum Vertragsgespräch. Dort angekommen, bekommt seine Vorfreude bald den ersten Dämpfer. Trainer Norbert Wagner stellt sofort klar: »Offensives Mittelfeld spielst du bei mir nicht. Dafür haben wir andere, du bist Stürmer, du kommst vorne rein.« Michael Tönnies zweifelt, sagt aber dennoch zu und unterschreibt bei den Schwarz-Gelben einen Einjahresvertrag.

»So weit weg von zu Hause und schon zu Beginn gab es die erste Enttäuschung, als mir gesagt wurde, dass ich nicht im Mittelfeld spielen sollte. Da hatte ich eigentlich schon keinen Bock mehr. Aber nach drei Jahren auf der Ersatzbank wollte ich endlich spielen, irgendwo in der zweiten Liga, egal wo. ›Scheiß drauf‹, hab’ ich mir gesagt, ›du beißt auf die Zähne und empfiehlst dich weiter. Du machst das eine Jahr und dann bist du eh wieder weg.‹«

In Bayreuth trifft er auf zwei alte Bekannte, Wolfgang Reichel und Friedhelm Schütte, mit denen er bei Schalke 1976 deutscher A-Jugendmeister geworden ist. Bis er in seine eigene Wohnung ziehen kann, wohnt er in einem Hotel außerhalb der Stadt. Dort gefällt es ihm, das Zimmer ist schön, das Essen ist gut. Die ersten beiden Auswärtsspiele der Bayreuther führen ihn in Richtung Heimat. Gegen seinen Jugendverein Rot-Weiss Essen setzt es eine 0:3-Niederlage. »Ihr Saupreußen, ihr!«, ruft Bayreuths Präsident Hans Wölfel nach dem Spiel den Essenern hinterher. Michael Tönnies steht daneben und schaut ihn verwundert an. Wölfel erschreckt, als er ihn bemerkt. Er schaut ihn an, als sei es ihm peinlich, sagt aber nichts. Michael auch nicht.

Grüner Hügel? Grüner Rasen!

Zwei Wochen später geht es zum Auswärtsspiel nach Krefeld-Uerdingen. Seine Schwester, sein Schwager und sein Onkel sind gekommen, um ihn wenigstens kurz zu sehen. Seine Eltern und sein Bruder Dirk sind nicht da, sie sind zu der Zeit im Urlaub – in der Nähe von Bayreuth. Gegen Bayer Uerdingen verlieren sie 2:3. Michael sieht Gelb und wird ausgewechselt. Nach dem Spiel bleibt ihm etwas Zeit, um mit seiner Schwester zu reden. Ein kurzer Plausch über Alltägliches, vor allem über zu Hause. Dann muss er zum Mannschaftsbus und zurück nach Bayreuth. Michael Tönnies kommt es vor wie eine Fahrt in die falsche Richtung.

Das Hotelzimmer am Stadtrand ist auf Dauer zu teuer für den Verein, sodass dieser ihm eine Einzimmerwohnung bereitstellt, irgendwo hinterm Hauptbahnhof. »Neuer Weg« heißt das Stadtviertel, das den Bahnhof umgibt. Genau das sollte Bayreuth auch für ihn sein, ein neuer Weg nach oben. Stattdessen verfestigt sich bei ihm das Gefühl, dass dies der falsche ist. Die einzigen Möbel in seiner neuen Wohnung sind ein Kleiderschrank, ein Tisch mit grüner Marmorplatte und eine Couch mit rauen Polstern in Grau-Beige. Noch trostloser ist sein Alltag. Das Training beginnt erst am Nachmittag, weil einige seiner Mitspieler vormittags arbeiten. Also schläft er morgens aus, schaut Fernsehen und macht sich dann mit dem Auto auf den Weg – nur wohin? Er weiß nichts mit sich und seiner Zeit anzufangen. Grüner Hügel? Grüner Rasen! Das interessiert ihn.

»Die Langeweile war das Schlimmste. Ich bin nicht der Kulturfreak, der sich die Museen oder das Bayreuther Festspielhaus angeschaut hat. Ich bin nur ins Dorf rein, ab in die Spielhalle und habe die Zeit totgeschlagen.«

In der Nähe seiner Wohnung gibt es eine Spielhalle mit zwei Automaten, um die er mit den anderen Gästen konkurriert. Meistens kann er nur an einem Automaten spielen. Immerhin wird es dann nicht so teuer und er kann bis zu vier Stunden bleiben, ohne allzu viel Geld zu verlieren. Am liebsten spielt er natürlich an beiden gleichzeitig. Viel zu verlieren hat er sowieso nicht, denn er hat kaum etwas zum Verspielen.

Insgesamt verdient er 15.000 Mark in dieser Saison. Die Miete wird ihm vom Gehalt abgezogen. Knapp 800 Mark netto bleiben ihm im Monat. Und dann sind da noch seine Altlasten. Seine Wäsche kann er manchmal nicht von der Reinigung abholen, weil er die Rechnung nicht mehr bezahlen kann. Er telefoniert oft mit seiner Freundin Martina, die in Essen geblieben ist. Zwei- oder dreimal hat sie ihn anfangs in Bayreuth besucht, meistens haben sie sich dann gestritten. Irgendwann hat er eine Telefonrechnung von 500 Mark. Als er die nicht bezahlen kann, nimmt ihm die Post das Telefon weg.

»Nach ein, zwei Wochen war ich meistens schon pleite. Ich war einen anderen Lebensstil gewohnt. Ich habe mein Konto überzogen, denn das Gehalt kam unregelmäßig, selbst das wenige, was die bezahlt haben, kam noch unregelmäßig. Und den Schatzmeister konnte man nie erreichen. Ab und zu gab es mal einen Vorschuss von 250 Mark, aber dann war ich abends einmal aus und das Geld schon wieder weg. Das wenige, was ich hatte, habe ich auch noch verspielt.«

Wenn er hungrig wird, geht er zum Metzger. Mittagsangebot: kleines Schweinesteak mit Cocktailsauce und Brötchen, dazu eine Dose Cola – vier Mark 50. Nach dem Mittagessen fährt er weiter zum Café Funsch. Dort treffen sich einige Spieler immer ab 14 Uhr, nach der Arbeit. Kaffeetrinken und quatschen. Der Besitzer des Cafés bietet ihm sogar eine Stelle an, als »Einheizer« für die Mitarbeiter, weil die angeblich nicht genug Umsatz machen. Aber Michael Tönnies lehnt ab: »Anderen Leuten in den Arsch treten, das ist nix für mich«, sagt er.

Zum Quatschen ins Freudenhaus

In der Mannschaft fasst er nicht richtig Fuß. Die Spielvereinigung Bayreuth steht ab dem sechsten Spieltag durchgehend auf einem Abstiegsplatz. Lauffreudige Spieler sind nun gefragt, Kilometerfresser. Drei Trainer werden am Ende dieser Saison verschlissen sein. Im Sturm konkurriert er mit Uwe Sommerer, der in mehr als 200 Zweitligaspielen für Bayreuth 100-mal getroffen und auch das entscheidende 1:0 beim Pokalerfolg gegen Bayern München im Januar 1980 erzielt hat. Außerdem hat Sommerer in Kapitän Manfred Größler und Wolfgang Breuer mächtige Fürsprecher in der Mannschaft. Schnell findet sich Michael Tönnies auf der Ersatzbank wieder. Seine Mannschaftskollegen wie Friedhelm Schütte und Wolfgang Reichel sind mit ihren Familien nach Bayreuth gezogen, die abends zu Hause schon auf sie warten.

Auf Michael wartet nach dem Training nur die Langeweile. Er ist alleine, weiß nicht, wo er hinsoll. Er tut sich schwer, Anschluss zu finden. Mit der Mentalität kommt er nicht klar. Und dann dieser Dialekt. Oft versteht er nicht, was die Leute sagen. Ihm kommt es vor, als wollten sie nicht, dass er sie versteht. Nur mit Sugar versteht er sich. Sugar heißt eigentlich Andreas Hoffmann. Er ist auch 21 und Stürmer – genau wie Michael Tönnies, aber klein und kompakt, mit dunklen Locken. Sugar ist ein guter Tänzer, ein Frauentyp. Gemeinsam ziehen sie über die Dörfer, wie Michael es nennt, wenn sie durchs Bayreuther Nachtleben streunen. Hauptsache, unterwegs sein. Meistens gehen sie in eine der wenigen Diskotheken, meist ins »VIP«, manchmal auch in die »Galerie Marquis«, eine Nachtbar, in die sie nicht immer hereingelassen werden und wenn doch, dann müssen sie aufpassen, weil es sich schnell in der Stadt herumspricht.

Wolfgang Reichel, der ihn schon aus der Schalker A-Jugend kennt, merkt auch, dass Michael Tönnies zunehmend den Anschluss zur Mannschaft verliert. »Das hat den alten Spielern nicht gepasst, dass er und Sugar oft feiern gegangen sind«, erinnert sich der ehemalige Mitspieler. »Für die Alten sah das so aus: ›Wir haben keinen Erfolg und der geht auch noch aus.‹ Dadurch hat er die Akzeptanz bei denen verloren. Und Michael hat sich nicht dagegen gewehrt, sondern sich stattdessen immer mehr zurückgezogen. Auf manchen hat das arrogant gewirkt, aber das war Michael gar nicht.«

Unter der Woche, wenn die Diskotheken geschlossen und die Kneipen nur bis zehn Uhr am Abend geöffnet haben, ist es für Michael Tönnies am schlimmsten. Eines Nachts entdeckt er auf dem Heimweg einen Laden mit einer roten Laterne am Eingang. Von nun an verbringt er dort die Abende und Nächte.

»Die waren immer da, die hatten ja nachts durchgehend auf. Für mich ging es da nicht um Sex, das habe ich nicht gebraucht und Geld hatte ich eh kaum welches. Ab und zu, wenn ich Glück hatte, saß noch jemand mit an der Bar. Ansonsten habe ich die ganze Zeit mit den Nutten gequatscht – wenn die nicht gerade arbeiten mussten.«

Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auch zum Kilometerfresser zu werden – so oft es geht, fährt er nach Hause: Wenn er den nächsten Tag frei hat, steigt er abends nach dem Training in seinen alten weißen Opel Corsa und fährt nach Essen zu seinen Eltern. Manchmal auch samstags nach den Heimspielen. Es ist ihm egal, dass er am nächsten Morgen zum Training muss. Abpfiff ist gegen 17:15 Uhr, um 18 Uhr sitzt er geduscht im Auto. Er braucht vier bis fünf Stunden für die Fahrt, so dass er zwischen zehn und elf Uhr abends ankommt. Seine Eltern sind noch wach. Er wechselt ein paar Worte mit ihnen, trinkt ein Bier und legt sich dann im Wohnzimmer auf die Couch. In die Kneipe oder zu seiner Freundin geht er nicht – um vier Uhr muss er schon wieder losfahren, denn um zehn Uhr ist Training in Bayreuth. Bis zu dreimal in der Woche fährt er die 500 Kilometer weite Strecke – nur weg von dort. Ein dreiviertel Jahr geht das gut. Dann gibt der Corsa mit einem lauten Knall den Geist auf. Motorschaden. Zum Glück passierte es direkt vor dem Haus seiner Eltern.

»Ich geh da unten kaputt, ich werd da nur veräppelt«, klagt er seinem Jugendfreund Uli.

Er lässt den Motor reparieren und fährt zurück. In Bayreuth bemerkt niemand seine Heimfahrten, zumindest spricht ihn niemand darauf an.

Emma haut einen raus

Seine Stimmung hellt sich erst etwas auf, nachdem Norbert Wagner entlassen worden ist. Als neuen Trainer verpflichten die Bayreuther eine lebende Legende aus dem Ruhrgebiet, der Michael Tönnies schon als Kind auf dem Bolzplatz nachgeeifert hat: Lothar Emmerich. Der zweifache Bundesligatorschützenkönig gewann mit Borussia Dortmund 1966 den Europapokal der Pokalsieger und erreichte im selben Jahr mit der deutschen Nationalelf das WM-Finale gegen England. Doch berühmt geworden ist er für dieses eine Tor im Vorrundenspiel gegen Spanien: Aus spitzem Winkel, fast von der Torauslinie schoss er den Ball mit dem linken Fuß vorbei am verdutzten Torhüter in den hinteren oberen Winkel.

Nach Stationen in Belgien, Österreich und in der zweiten Liga hat Emmerich seine Karriere in unterklassigen süddeutschen Vereinen ausklingen lassen und sich als Spielertrainer versucht. Nun soll er die Bayreuther vor dem Abstieg retten.

»Emma« – wie er seit seiner Zeit beim BVB genannt wird – lebt vor allem von seinem Ruf als Stürmer. Auf Taktik und Training legt er kaum Wert, er vertraut auf seine Motivationskünste, gute Laune und seine Erfahrung als Spieler. Wenn es ihm draußen zu stark regnet, schaut er meist nur kurz aus der Kabine und sagt dann zu seinen Spielern: »Jungs, in einer halben Stunde treffen wir uns im Café.«

Mit Emmerich kommt er gut klar, den mag er. »Komm, Emma«, rufen einige Spieler, wenn sie keine Lust zum Trainieren haben, »hau noch mal einen raus!« Und Emma haut gerne noch mal einen raus; er legt sich den Ball zurecht – linker Strafraumrand, fast an der Torauslinie – und schießt ihn mit seiner linken Klebe in den Winkel – wie ’66. So schinden sie immer wieder ein paar Minuten. Den alteingesessenen Spielern missfällt das, und irgendwann erfahren die Herren vom Vorstand von Emmerichs laschem Training. Von nun an beobachten sie den Trainer und die Spieler auf dem Rasen. Emmerich stört das nicht. Er wartet ab, lässt so lange trainieren, bis das ominöse Auto vom Parkplatz wieder verschwunden ist.

»Genug für heute«, ruft er dann, »ab in die Kabine!«

Anfang Mai 1982 wird Emmerich entlassen, vier Spieltage vor Schluss steht die Spielvereinigung auf dem letzten Tabellenplatz. Bis Saisonende übernimmt der 37 Jahre alte Kapitän Manfred Größler als Spielertrainer, doch auch ihm gelingt es nicht, den Abstieg der Bayreuther noch zu verhindern. Nach acht Jahren geht es zurück in den Amateurfußball.

Michael Tönnies blüht in dieser Zeit endlich auf; in den letzten vier Spielen erzielt er drei seiner insgesamt fünf Saisontore. Jetzt kann er befreit aufspielen, denn er weiß, dass er bald weg kann von hier. Der neue Trainer Anton Rudinski versucht ihn mit einem neuen Vertrag zu halten, aber er hat sich längst entschieden. Vor dem letzten Saisonspiel gegen den SC Freiburg packt er alle seine Sachen ins Auto und fährt ein letztes Mal zum Städtischen Stadion.

»Wenn die mein Auto gesehen hätten, hätten die gewusst, was los ist, meine ganzen Restklamotten hatte ich in den Corsa gestopft. Ich habe das Spiel rumgebracht und bin abgehauen. Die haben mich nicht mehr wiedergesehen.«

Eigentlich steht ihm noch eine Jahresleistungsprämie von 11.000 Mark zu. So steht es in seinem Vertrag geschrieben, aber das Geld ist ihm am Ende egal.

Michael Tönnies will nur zurück nach Hause.

Auf der Kippe

Подняться наверх