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Fünf auf einmal

»Die Handlungen eines Furchtsamen, wie die eines Genies, liegen außerhalb aller Berechnungen.«

Heinrich Heine: Französische Zustände

Fünf Stufen – dann ist Schluss, dann muss sich Michael Tönnies setzen. Seine Lunge fühlt sich an, als würde sie gleich rausfliegen. Erschöpft schaut er über seine linke Schulter hinauf zum Mount Everest. Dreizehn Stufen sind es bis zum Gipfel. Michael Tönnies ist 1,86 Meter groß. Wenn er vor der Treppe steht, reicht ihm die dritte Stufe bis zum Knie und die fünfte bis zur Hüfte. Heute ist ein guter Tag, denn meistens schafft er nur drei.

Er muss hinauf, jeden Tag, denn dort oben wohnt er, wie ein Eremit auf einem Berg. Mount Everest – so nennt er die Treppe zwischen dem Erdgeschoss und ersten Stock im Haus seiner Eltern, weil es jeden Tag für ihn eine Qual ist hinaufzusteigen, so als müsse er täglich auf den höchsten Berg der Welt klettern – ohne Sauerstoffgerät. Er ist wieder da, wo er als Kind schon war. Ein Mann von Anfang 50, auf dem Weg in sein Kinderzimmer. Dort oben wohnt er seit einigen Jahren, seitdem alles den Bach runtergegangen ist – die Karriere, die Kneipe, die Ehe, die Gesundheit, alles. Wie lange das her ist, weiß er nicht. Er zählt die Jahre nicht mehr und denkt auch nicht daran, wie es vorher war.

Das Einzige, an das er denken kann, ist das Atmen. Einfach atmen, das ist für ihn das Schwierigste. Er atmet flach, das Ausatmen fällt ihm besonders schwer, die Luft will nicht aus seiner Lunge heraus. Michael Tönnies hat ein Lungenemphysem, eine chronische Erweiterung der Lunge. Die Veranlagung für diese Krankheit steckt schon in seinen Genen, doch er hat alles dafür getan, um sie ausbrechen zu lassen.

Morgens und nach dem Essen ist das Treppensteigen am schwierigsten, dann schafft er nur drei Stufen auf einmal. Bis er oben angelangt sein wird, muss er mindestens zweimal anhalten und sich hinsetzen. Die fünf Schritte am Anfang der Treppe sind das Äußerste dessen, was sein Körper noch leisten kann, bis ihm die Luft wegbleibt und ihn seine Lunge in die Knie zwingt.

Es gab mal eine Zeit, als die fünf in anderer Form sein Leben geprägt hat. Fünf Tore in einem Spiel schießen nur ganz wenige Fußballer. Und wenn überhaupt, dann passiert so etwas nur einmal im Leben. Michael Tönnies ist es zweimal gelungen, zum ersten Mal im Dezember 1977, damals war er Jugendnationalspieler. In seinem ersten Länderspiel für die deutsche U18-Auswahl schoss er beim 8:0 gegen Dänemark fünf Tore, drei davon in zehn Minuten. Seine Mitspieler haben ihm auf die Schulter geklopft und sein Trainer hat durch die Kabine geschrien, der Tönnies, das ist ein Genie. Eine große Karriere haben sie ihm damals vorausgesagt.

Das zweite Mal war im August 1991. Für den MSV Duisburg schoss er beim 6:2 gegen den Karlsruher SC fünf Tore, drei davon in etwas mehr als fünf Minuten. Bis heute traf in der Bundesliga niemand schneller hintereinander als er. Ob er so etwas schon einmal geschafft habe, wurde er danach gefragt. »Nein«, hat er geantwortet, »bis jetzt einmalig.«

Das erste Mal hatte er vergessen.

Beinahe 5.000 Tage liegen zwischen diesen beiden Spielen, aber keine große Karriere. Der Dezember 1977 war ein Versprechen auf eine Zukunft, die es nie gegeben hat. Der August 1991 war ein später Höhepunkt einer Karriere voller Umwege, und eine Ahnung von dem, was hätte sein können, wenn – ja, wenn Michael Tönnies nicht der gewesen wäre, der er nun mal eben war. Ein Spieler. Einer, der sich das Leben gern so leicht wie möglich gemacht hat. Bis ihm irgendwann das Leichteste auf der Welt, das Atmen, so unendlich schwergefallen ist.

Mehr als fünf Minuten sitzt er nun schon auf der Treppe. So lange hat er früher für drei Tore gebraucht. An seine Tore – sowohl die im Dezember 1977 als auch die im August 1991 – denkt er schon lange nicht mehr. Dafür bleibt keine Zeit. Das Atmen ist anstrengend genug. Bei jedem Atemzug horcht er in sich hinein, er will wissen, wie seine Lunge reagiert – gelingt das nächste Atemholen noch oder bleibt ihm die Luft weg? Wie ein aufgeblasener Ballon fühlt sich seine Lunge an, und es ist, als ob ihm nur ein Strohhalm zum Atmen geblieben ist.

Michael Tönnies rafft sich wieder auf, setzt den linken Fuß auf die nächste Stufe und zieht den rechten nach. Ein Fuß vor, der andere nach – er nimmt die Stufen wie ein Kleinkind, das noch nicht gelernt hat, Treppen zu steigen. Aber anders geht es nicht mehr. So wie er sich von Atemzug zu Atemzug wagt, so tastet er sich auch die Treppe hinauf. Nach drei Stufen ist wieder Schluss.

Sein Bruder Dirk kommt in den Flur und schaut, ob er noch auf der Treppe sitzt. Ab und zu wirft jemand aus seiner Familie einen Blick auf die Treppe, ob er noch dasitzt oder ob ihm vielleicht etwas passiert ist. Wenn Dirk an Michael denkt, sieht er ihn auf der Treppe sitzend.

Eine Welt von 22 Schritten

Zwanzig Minuten dauert es, bis er oben ist, manchmal auch länger. Vor den letzten beiden Stufen hat er noch mal einige Minuten verschnaufen müssen. Jetzt schleppt er sich in sein Reich, seine beiden Zimmer, die zusammen kleiner sind als der Fünfmeterraum auf einem Fußballfeld. Im hinteren Zimmer steht sein Bett. Im vorderen stehen ein Fernseher, ein Tisch, davor zwei Sessel.

Er sackt in den nächsten Sessel und schaltet den Fernseher ein. Der Hundeprofi erklärt einer Frau im rosafarbenen Trainingsanzug, warum ihr Dackel nicht knurren darf, wenn sie sich aufs Sofa setzen will. Vor Hunden hat er panische Angst. Wenn er irgendwo hinkommt, wo Hunde sind, merken sie sofort, dass er sich vor ihnen fürchtet, und drehen völlig durch. Deshalb schaut er diese Sendung. Er hofft, dass er dadurch lernen kann, wie Hunde ticken. Früher hat er selber welche gehabt, erst einen Mischling und dann einen Bobtail. Den Bobtail wollte seine Frau haben. »Der Karl-Heinz Riedle hat auch so einen«, hat sie gesagt. Der Karl-Heinz Riedle hat wahrscheinlich auch keine Angst vor Hunden, hat er gedacht, aber der Bobtail war wirklich lieb. Joy hieß er. Als Michael Tönnies’ Frau sich von ihm getrennt hat und mit den beiden Söhnen abgehauen ist, haben sie den Hund weggegeben. Das hat er nicht verkraftet und ist gestorben. Kurz darauf ist er zurück zu seinen Eltern gezogen.

Nebenan liegt das Schlafzimmer seiner Eltern. Wenn er nachts wach wird, weil er keine Luft mehr bekommt, ruft er seine Mutter, und wenn die Luft dazu nicht mehr reicht, haut er mit dem Handballen gegen die Wand. Dann kommt sie herüber und setzt sich zu ihm auf die Bettkante. Sie redet ruhig mit ihm, versucht, ihm Mut zu machen, aber oft macht sie ihn nur wütend.

»Überleg dir das doch noch mal mit der Operation«, sagt sie leise zu ihm. »Der Roland Kaiser hat das auch geschafft, und jetzt singt er wieder.«

Das hat Michael gerade noch gefehlt, er bäumt sich auf, poltert los: »Ich möchte in meinem Beisein den Namen Roland Kaiser nie wieder hören, verstanden?«

Wenn er wütend wird, dann kann er noch richtig losbrüllen, dazu reicht die Kraft noch. Aber für diesen einen Ausbruch – das weiß er schon in dem Moment – lässt ihn seine Lunge wieder tagelang büßen.

Der Hundeprofi verabschiedet sich von der Frau im rosafarbenen Trainingsanzug, der Dackel liegt in einer Ecke und schaut aufs Sofa. Wieder einmal hat der Hundeprofi eine Hundebesitzerin glücklich gemacht und ihr gezeigt, wie sie ihr verzogenes Tier in den Griff bekommt. Michael Tönnies schaltet den Fernseher aus. Für heute hat er genug gegen seine Ängste getan. Er glaubt, dass er sich mit dieser Sendung selbst therapieren könnte, aber eigentlich versucht er sich nur abzulenken. Von der Angst zu ersticken. Manchmal geht es ihm stundenlang gut, doch in der nächsten Sekunde kann der Atem aussetzen, und er kriegt keine Luft mehr. Bei jedem Einatmen, bei jedem Ausatmen bangt er. Einatmen, ausatmen – so vergehen ganze Tage. Langsam drückt er sich aus dem Sessel hoch und schleicht zum Fenster. Ihm kommt das alles wie im Zeitraffer vor: hell, dunkel, hell, dunkel – Frühling, Sommer, Herbst, Winter – jetzt ist gerade wieder Winter. Nackt stehen die Bäume da; durch die kahlen Äste hindurch kann er bis hinüber zur Anlage sehen. So haben seine Schwester und er das verwilderte Gelände auf der anderen Straßenseite genannt, als sie noch Kinder waren. Wo mittlerweile ein Fahrradweg entlangführt, waren damals Schienen, über die die Kohlenzüge von den Zechen zu den Kokereien rollten. Während seine Schwester im Unterholz Buden baute, spielte er mit den Jungs aus der Nachbarschaft Fußball, überall traten sie gegen den Ball, auf der Wiese, auf der Straße. Damals konnten sie noch auf der Straße Fußball spielen, nur alle paar Stunden kam ein Auto vorbei, wenn überhaupt. Und dann war das schon eine kleine Sensation, für die es sich lohnte, das Spiel kurz zu unterbrechen.

Sein Blick streunt die Straße entlang – heute könnte er dort nicht mehr spielen, selbst wenn er es wollte. Am Straßenrand parken Autos. Kein Kind spielt mehr dort, und auch die Anlage wuchert verlassen vor sich hin – nur ein paar Eichhörnchen jagen über den Rasen, die Bäume hinauf, und lassen ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

Als Kind war das seine Welt. Sie reichte von der Anlage bis zum Käfig, einem kleinen Ascheplatz, ein paar Minuten zu Fuß die Straße rauf. Jetzt bemisst sich seine Welt nur noch aus Atemzügen und Schritten. 22 Schritte braucht er vom Bett bis zum Klo. 13 Stufen sind es nach unten, wo sich das Familienleben abspielt. Aufs Klo geht er erst, wenn der Druck auf seiner Blase größer wird als die Enge in seiner Lunge. Nach unten geht er immer seltener, und schon bald wird er gar nicht mehr hinuntersteigen. Die Atemzüge werden immer kürzer.

Als er noch ein Bundesligaspieler war, hat man über ihn geunkt, er habe einen Bewegungsradius wie ein Bierdeckel. Aber das hat schon lange keiner mehr über Michael Tönnies gesagt.

Auf der Kippe

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