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»Wie frei willst Du sein?«

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[Howard Carpendale]

In Anbetracht des Bußgangs, der mir bevorstand, hatte ich es unterlassen, mir einen Rausch anzutrinken. Die Vorstellung, Julia mit einem mittelschweren Kater gegenüberzutreten, war nicht gerade stimulierend gewesen. Zwei Bier mit Jan, zwei weitere in meinem Zimmer, dann hatte ich brav das Licht gelöscht. Das Ergebnis dieser klugen, dieser zumindest theoretisch klugen Maßnahme: ein halbgarer Promille-Level, der mich nicht schlafen ließ. Stunde um Stunde wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, während meine Gedanken mal zu den Ereignissen des vergangenen Abends wanderten, mal Sätze formulierten, die Julia milde zu stimmen vermochten, mal die Antwort auf die Frage abwogen, ob ich nicht vielleicht doch noch ein Bier …

Es musste fünf oder sechs geworden sein, bevor sich die Notbeleuchtung in meinem Kopf endlich abgeschaltet hatte.

Entsprechend spät war es, als ich erwachte. Längst war die Phase des Tages angebrochen, in der man sich in einer anständigen deutschen Firma mit Mahlzeit zu begrüßen pflegt. Rasch befriedigte ich mein Verlangen nach Nikotin, dann zog ich mich an. Die Idee, mir eine weitere Kippe und damit eine Gnadenfrist zu genehmigen, verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Der Wunsch, die lästige Angelegenheit hinter mich zu bringen, war stärker. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und trat hinaus auf den Flur.

Der Rest der Wohnung empfing mich mit einer ungewohnten Stille – weder war Musik zu hören, noch Stimmengewirr, noch das enervierende Geräusch unserer für gewöhnlich in der Heavy Rotation vor sich hin rumpelnden und pfeifenden Vorkriegswaschmaschine. Offenbar war der Rest der Rasselbande ausgeflogen. Einem ersten Moment der Erleichterung folgte die Erkenntnis, dass ich die Ungewissheit und dieses flaue Gefühl, das eben jener Ungewissheit wie ein liebeskranker Sonderschüler hinterherdackelte, nun noch länger, ja, möglicherweise stundenlang mit mir herumzutragen hatte.

Als ich auf dem Weg zum Bad an Julias Zimmer vorbeikam, meinte ich hinter ihrer Tür allerdings ein Geräusch zu vernehmen. Ich presste mein Ohr ans Holz, und tatsächlich: Da war ein leises Klirren, so, als würde jemand mit Gläsern hantieren. Sie war also doch zu Hause! Das flaue Gefühl gewann an Größe. Nun gab es keinen Aufschub mehr. Oder vielleicht doch? War es nicht wesentlich cleverer, eine unverfängliche Gesprächssituation herbeizuführen? Sich beispielsweise in die Küche zu setzen und dort auf Julia zu warten? Ich könnte Brötchen holen und Kaffee kochen … Ohnehin hatte ich mich zuallererst einmal in einen halbwegs präsentablen Zustand zu versetzen, mir also wenigstens eine Berberdusche angedeihen zu lassen.

Ich hatte meinen Gehwerkzeugen gerade den Befehl erteilt, wieder Fahrt aufzunehmen, als in erschreckend geringer Entfernung plötzlich Julias Stimme erklang.

»Warte, ich hol ’ne neue«, sagte sie.

Dann wurde auch schon die Tür aufgerissen, und ich hatte alle Mühe, den entscheidenden Schritt zur Seite zu machen, um nicht umgerannt zu werden. Julia, die sich gezwungen sah, ihrerseits auszuweichen, stieß einen ärgerlichen Laut aus und blieb abrupt stehen. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte, die nichts Gutes verhieß.

»Ich wollte gerade zu dir«, sagte ich schnell, bevor ihr noch der Gedanke kam, ich könne an der Pforte zu ihrem Privatgemach gelauscht haben. Verdammt, ich hatte mir noch nicht mal die Zähne geputzt!

»Ja?«

»Ich wollte … also wegen gestern …«, setzte ich an, verlor den Faden aber gleich wieder, als mir Julias Aufzug bewusst wurde.

Sie trug nichts als Slip und T-Shirt und hielt eine leere Sektflasche in der Linken. Und dann gab sie, während ich dieses Bild noch einzuordnen versuchte, plötzlich den Blick auf ihr Bett frei. Und in diesem Bett saß, den freien Oberkörper an die Wand gelehnt, ein Sektglas in der Hand … Lasse!

Aber das konnte nicht sein. Lasse stand doch auf Männer. Zumindest hatte Jan das erwähnt. Und der kannte Lasse schließlich schon länger. Oder war Lasse vielleicht bi?

»Ja?«, sagte Julia wieder.

Ich war nicht der Lage, meine Verwirrung zu verbergen: »Sollte Lasse nicht im Krankenhaus sein?«

»Ah, du wolltest mit mir über die nachlassende Arbeitsmoral im Gesundheitswesen sprechen«, gab Julia belustigt zurück. Und dann etwas weniger sarkastisch: »Lasse macht blau.«

Der Simulant prostete mir fröhlich zu: »Gastritis.«

»Ach so … ja, das ist natürlich, äh …« Ich wandte mich wieder an Julia: »Eigentlich wollte ich mich bei dir wegen gestern Abend entschuldigen. Ich habe mich da irgendwie in Rage geredet. Warum, kann ich gar nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Nie wieder. Versprochen!«

»Deine Versprechungen kannst du dir erst mal sonst wohin schieben«, entgegnete Julia, sah dabei aber längst nicht so verstimmt aus, wie es ihre Worte hätten vermuten lassen. »Es geht doch hier einzig und allein um die Frage, ob du hinter dem stehst, was wir wollen. Falls ja, müssen wir über gestern Abend kein Wort mehr verlieren. Falls nein, sollten wir besser getrennte Wege geh’n. Denn eins brauchen wir ganz bestimmt nicht, und das ist Unentschlossenheit.« Damit ließ sie mich stehen, um endlich die leere Flasche gegen eine volle auszutauschen, die sie dann gleich gemeinsam mit Lasse …

»Hey, ich bin entschlossen!«, rief ich ihr hinterher, während ich wie ein Drogenopfer auf ihre sich wiegenden Hinterbacken starrte. Und dann, mehr zu mir selbst: »Ich bin fest entschlossen.«

Nachdem Julia in der Küche verschwunden war, begab ich mich ins Bad, klappte die Klobrille hoch und entleerte meine Blase im Stehen – ein Vergnügen, das ich mir schon lange nicht mehr gegönnt hatte.

Als ich danach erneut an Julias Zimmer vorbeikam, war die Tür wieder verschlossen. Von drinnen waren Musik und unangenehm vertrauliches Gekicher zu hören. Ich zog mir die Jacke an und schlüpfte in meine Adidas Allround. Ich brauchte frische Luft.

Ich besorgte mir beim Bäcker einen Kaffee, ließ mich auf einer der Bänke nieder, die den – heute wohltuend unbelebten – Kinderspielplatz säumten, und überdachte meine Lage: Jan hatte ich, was die Teilnehmerliste für den großen Hahnenkampf betraf, natürlich von Anfang an auf dem Zettel gehabt. Schließlich war er aus demselben Grund in die WG gezogen wie ich. Auch Kleingeld war zweifelsohne in Julia vernarrt. Allerdings gestand ich ihm aufgrund seines Äußeren eher geringe Chancen auf den Turniersieg zu. Er war nicht nur mit einer Figur gestraft, die sich zuallererst durch einen gewaltigen Schmerbauch auszeichnete, der von den Stelzen eines Bulimikers getragen wurde, sondern auch derart schlampig gekleidet, dass er Julias Anforderungsprofil unmöglich entsprechen konnte. Was nützt das teuerste Mob-Action-Jöppchen, wenn es wie ein blutverkrusteter Leichensack am Leib hängt?! Demgemäß war ich bisher von einem lockeren Dreikampf ausgegangen, der sich eher früher als später zum Duell verschlanken würde. Dass nun Lasse die Schar der Anwärter verstärkte, ja, offenbar schon einen Vorrundenentscheid gewonnen hatte, versetzte mich in nicht geringe Aufregung.

Aber Halt! Nur ruhig. Vielleicht pflegten Julia und Lasse ja nur eine ganz eigene Form der Freundschaft, eine, die ein gewisses Maß an körperlicher Nähe nicht ausschloss. Und wenn nicht? Wenn nicht? Nun, wenn da doch mehr stattfand, würde ich mich eben doppelt ins Zeug legen müssen.

Keineswegs entspannt ob dieser Aussicht, erhob ich mich und begann ziellos durch die Straßen zu streifen. Immer wieder schob sich dabei die Szene aus dem Flur hinter meine Pupillen, und ich hörte mich selbst, wie ich Julia voller Pathos meine uneingeschränkte Loyalität versicherte. Was dieses Dilemma betraf, war die Lösung zum Glück eine leichtere. Zwar würde ich mich hüten, meine innersten Überzeugungen zu verraten. Und natürlich würde ich mich auch weiterhin an sämtlichen Diskussionsprozessen innerhalb unseres Quintetts beteiligen – wenn auch vielleicht etwas zurückhaltender. Zukünftige Aktionen allerdings sollten ab sofort meine vorbehaltlose Unterstützung genießen.

Für den Fall, dass sie meinen politischen Ansichten noch einmal zuwiderliefen, hatte ich mir in der zurückliegenden Nacht bereits einen simplen Kniff zurechtgelegt: Ab sofort würde ich alles, was wir taten, unter der Rubrik Freizeit und Abenteuer verbuchen. In der genormten Gesellschaft stellte ja schon das kleinste Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung einen Akt der – wenn auch temporären – Freiheit dar, den es unabhängig vom sonstigen Nutzen zu feiern galt. Außerdem war das Leben kurz und die Liebe gewiss wichtiger als sture Prinzipienreiterei.

Unterdessen hatten mich meine Schritte in die Nähe der Morbus Hansen geführt. Und obwohl ich nun wirklich jeden Grund gehabt hätte, mein Heil im Vergessen zu suchen, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, kurz am Tatort vorbeizuschlendern. Vielleicht hatte ja ein übereifriger Hausmeister meinem jämmerlichen »Graffito« schon den Garaus gemacht.

Leider war dem nicht so. Zwar waren die Scheiben bereits notdürftig mit Klebeband stabilisiert worden. Die fünf zusammenhängenden Lettern, die mein ganz persönliches Versagen dokumentierten, leuchteten allerdings nach wie vor in einem grellen Rot, das an die Wangen eines Harlekins erinnerte. Verpi verkündeten sie dem aufmerksamen Flaneur – was ja nichts anderes heißen konnte als Verpickelte Teenager mit sexuellen Problemen haben versucht, dieses Geschäft mit einer ihrer albernen Parolen zu verunstalten, mussten sich am Ende aber dem eigenen Analphabetismus geschlagen geben.

Ich wäre dem Schandmal am liebsten selber zuleibe gerückt, zur Not mit den Fingernägeln. Da mir das aus naheliegenden Gründen versagt war, meldete sich der für Frustbewältigung zuständige Teil meines Gehirns mit einem anderen Vorschlag. Er forderte jählings Bier ein. Und damit lag er – wie so häufig – goldrichtig: Ein kleiner Tröster aus der Flasche war nun wahrlich das Mindeste, was ich mir gönnen durfte.

Am Ende der Straße gab es einen Imbiss namens Astrids Aalverwandtschaften. Und den steuerte ich jetzt an. Da konnte ich die Freuden, die ein kaltes Holsten zu bereiten vermochte, gleich noch mit den Wonnen einer Portion Fischfrikadellen multiplizieren.

Ich war derart auf die schnelle Befriedigung meiner oralen Sehnsüchte fixiert, dass ich der restlichen Gästeschar erst Beachtung schenkte, nachdem ich dem sympathischen Muttchen mit der vorbildlich besudelten Kittelschürze, das ja nur Astrid selbst sein konnte, euphorisch meine Bestellung ins Ohr trompetet hatte. Viel los war ohnehin nicht: Ein Pärchen in den Fünfzigern, das sich schweigend eine Portion Labskaus teilte, und ein junger, leicht heruntergelebter Bursche, der mich anstarrte, als hätte er den Leibhaftigen persönlich vor sich, während er gleichzeitig versuchte, einen sogenannten Riesenknacker in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen … Kleingeld! Was machte der denn hier?

Nun, das war ja allzu offensichtlich. Ich schob mich an den Stehtisch, an dem er lehnte, und schenkte ihm ein breites Lächeln.

»Na, schmeckt’s?«

»Ich war schnorren«, kam es ohne direkten Bezug zu meiner Frage aus Kleingelds Mundhöhle zurück, in der hektisch letzte Schweinefleischbrocken zermalmt wurden.

Eine Aussage, die vielleicht darauf hinweisen wollte, dass das ketzerische Tun, dessen Zeuge ich hier wurde, seinen Ursprung in der harten Fron des Geldverdienens hatte. Mir war das herzlich egal. Hauptsache, der Sünder fühlte sich ertappt, ergab sich doch dadurch die für mich strategisch günstige Gelegenheit, ihm einen Beweis meines Großmuts zu liefern.

»Keine Sorge«, sagte ich also, »du kannst dein Stück Aas ruhig wieder aus der Tasche holen. Ich bin ja auch nicht nur wegen der Beilagen hier.«

Das schien den Verängstigten ein wenig zu beruhigen. Er brachte den phosphathaltigen Prengel wieder zum Vorschein, zögerte aber noch, hineinzubeißen.

Ich nahm einen Schluck Bier und schielte zum Tresen, um zu sehen, was meine Bestellung machte. Dann sagte ich: »Ich wollte mich übrigens bei dir entschuldigen. Ich hätte mich gestern Abend auf keinen Fall dermaßen hinreißen lassen sollen. Aber in der politischen Auseinandersetzung verliere ich manchmal jedes Maß, weißt du.«

Kleingeld nahm den Themenwechsel mit sichtbarer Erleichterung auf.

»Kein Ding«, sagte er, während er sich mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand ein Stückchen Pelle aus dem Oberkiefer zog, das er nach einem kurzen prüfenden Blick wieder zwischen den Lippen verschwinden ließ. »Und vielleicht hast du mit dem, was du gesagt hast, gar nicht mal so Unrecht.«

»Lass uns einfach nicht mehr davon sprechen, zumindest nicht beim Essen.«

Kleingeld nickte bedächtig und sah sich endlich in der Lage, seine Mahlzeit fortzusetzen.

Nachdem ich mir zwischenzeitlich meine Frikadellen an den Tisch geholt hatte, herrschte eine geradezu vertraute Stimmung.

»Julia war gestern echt sauer auf dich«, bemerkte Kleingeld.

»Ist mir nicht entgangen.«

»Sie hat schon darüber nachgedacht, dich rauszuschmeißen.«

»Und? Was hältst du davon?«

»Also was mich betrifft, kannst du bleiben.«

Als wir den Laden verließen, brachte Kleingeld eine Dose Pfefferminzpastillen zum Vorschein.

»Hier, für den Atem.«

Ich griff dankbar zu.

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