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»Samba si! Arbeit no!«

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[Roberto Blanco]

Noch am selben Abend sollte ich erfahren, warum Julia sich während des allerersten Gesprächs, das wir in diesem unserem Leben miteinander geführt hatten, so augenfällig für den Grad der meinem Leib innewohnenden Leistungsfähigkeit interessiert hatte.

Ich war gerade mit einer Packung Katenrauchschinken vom Billigdiscounter zurückgekehrt, die ich heimlich in meinem Zimmer zu verdrücken gedachte, als ich Kleingeld im Flur begegnete.

»Gut, dass ich dich sehe«, sagte er. »Wir zieh’n nachher was durch. Kurze Besprechung in der Küche gegen zehn. Du bist doch dabei, oder?«

Weil ich bei dem Begriff Durchziehen im ersten Moment an Rauschgift dachte und nicht recht verstand, warum vor dem gemeinsamen Genuss eines Pfeifchens noch eine Besprechung abgehalten werden musste, schwieg ich irritiert.

Kleingeld schien das als Missfallensbekundung zu deuten.

»Keine Sorge, ist nichts Großes. Nur ’n bisschen Sachbeschädigung«, erklärte er.

Nun verstand ich, was er meinte, und beeilte mich, meine Zustimmung zu bekunden. Denn gewiss würde auch Julia bei der Unterredung und der sich anschließenden Straftat zugegen sein.

»Wunderbar.« Kleingeld wollte schon an mir vorbei, hielt dann aber noch einmal inne: »Was hast’n da in der Tüte?«

»Backpflaumen und Sojakeimlinge«, log ich.

»Ja … dann mal guten Hunger, ne.« Er sah mich gleichermaßen bewundernd wie angeekelt an.

»Haben alle ihre Handys aus?«, fragte Julia, nachdem ich neben Jan am Küchentisch Platz genommen hatte. Julia und Kleingeld saßen uns gegenüber.

Ich zog mein Telefon aus der Hosentasche und schaltete es pflichtschuldig aus. Um von meiner Nachlässigkeit abzulenken, erkundigte ich mich nach Lasse.

»Der hat Frühschicht«, sagte Kleingeld und griff nach einer halbvollen Flasche Club-Mate.

Lasse, soviel hatte ich bereits mitbekommen, arbeitete als Krankenpfleger und musste nicht selten schon um fünf Uhr morgens aus dem Haus. Kleingeld lebte offiziell von der Fürsorge, in erster Linie aber von seinem gottgegebenen Talent, Menschen auf der Straße anzuschnorren. Julia und Jan, die beide studierten, bezogen Bafög und jobbten nebenbei.

»Also gut«, begann Julia den offiziellen Teil des Abends, »heute nehmen wir uns diese Edelboutique in der Morbus Hansen vor. Kleingeld macht die Tür, Jan und ich kümmern uns um die Schaufenster. Und du«, sie sah mich eindringlich an, »schnappst dir ’ne Sprühdose und übernimmst die Öffentlichkeitsarbeit. Jemand ’ne Frage dazu?«

Wie Kleingeld und Jan hätte auch ich jetzt gern den Kopf geschüttelt. Aber das konnte ich nicht, denn ich hatte eine Frage, und zwar eine essentielle. Also hob ich die Hand und sagte: »Ja, ich.«

Julia wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und fixierte mich erneut mit ihren Huskyaugen.

Das Anliegen, das ich vorbringen wollte, war mir unangenehm genug. Nun hatte ich zusätzlich noch damit zu kämpfen, mich nicht in diesem Blick zu verlieren. Aber natürlich verlor ich mich. Und zwar dergestalt, dass ich, hätte man mich zwischen siebzigtausend entfesselte Fußballanhänger gesteckt und mir ein Mikrofon in die Hand gedrückt, ohne zu zögern um Julias Hand angehalten hätte. Stattdessen hörte ich mich nach einer endlos erscheinenden Pause Folgendes stammeln: »Also … ich würde gern wissen, was ich da … äh, was ich schreiben … also da hinsprühen soll … an diese Boutique.«

Julia prustete los. Und auch die anderen konnten sich ein spöttisches Kichern nicht verkneifen.

Kleingeld war der Erste, der sich wieder in der Gewalt hatte.

»Na, was schon?! Irgendwas, das den Arschlöchern zeigt, was wir von ihnen halten, natürlich.«

»Ich hatte nur überlegt, ob ich vielleicht irgendwas Spezielles …«, versuchte ich, meine Würde wenigstens im Ansatz wieder herzustellen.

Niemand reagierte darauf.

Vielmehr sagte Julia: »Schön, dann ist das auch geklärt. Also weiter: Um Viertel nach eins geht’s los. Wir brechen jeweils zu zweit auf und treffen exakt um ein Uhr dreißig am Laden aufeinander. Jan und ich dreh’n dann noch ’ne kleine Extrarunde und stoßen drei bis vier Minuten später wieder zu euch. Euer Part sollte bis dahin erledigt sein. Hab ich irgendwas vergessen?«

Ich sah auf die Tischplatte wie früher im Mathematikunterricht, wenn nach Freiwilligen zum Vorrechnen an der Tafel gesucht wurde. Jan war weniger mundfaul.

»Vielleicht sagst du noch kurz was zur Dauer der Aktion«, streberte er.

»Ah, klar, das ist wichtig.« Julia belohnte ihn mit einem anerkennenden Blick. »Egal, wie’s läuft, spätestens, wenn die Steine geflogen sind, hau’n wir ab. Natürlich wieder in verschiedene Richtungen. Und jeder checkt bitte noch mal, ob ihm nicht ’n Zivi oder sonst wer an den Hacken hängt, bevor er hier aufschlägt.« Ein letzter Blick in die Runde, dann das Schlusswort: »Okay, um eins seh’n wir uns wieder hier in der Küche. Ich leg mich bis dahin noch ’n bisschen ab.«

»Gute Idee«, ließ sich Kleingeld vernehmen, griff sich seine Mate-Flasche und folgte ihr in den Flur.

Ich erhob mich ebenfalls, allerdings nur um den Kühlschrank zu öffnen.

»Auch ’n Bier?«, fragte ich Jan über die Schulter.

»Alkohol ist vor Aktionen eigentlich nicht so gern gesehen.«

»Alter, ein Bier!« Ich griff mir zwei Flaschen und begab mich zurück an den Tisch.

Nachdem wir uns zugeprostet hatten, tauchte Ulrike plötzlich neben mir auf und legte mir seinen schweren Kopf auf die Oberschenkel.

Während ich ihm mit der Linken unkonzentriert durchs Fell fuhr, wurde mir plötzlich etwas bewusst, das mir schon wesentlich früher hätte auffallen müssen: Es hatte, was die Aufgabenverteilung betraf, keinerlei Diskussionsprozess gegeben. Zumindest keinen, in den ich mit einbezogen worden war. Die aus diesem Fakt gefolgerte Einschätzung meinen Status betreffend, also die Erkenntnis, dass ich hier offenbar weniger galt als der Rest, ließ Zorn in mir aufsteigen, der sich – gepaart mit der Erinnerung an das Schamgefühl, das das Gelächter der anderen mir beschert hatte – in einer Frage Bahn brach, die im Ton vielleicht ein wenig scharf daherkam.

»Sag mal, läuft das eigentlich immer so bei euch?«

»Was denn?« Jan sah von der halbfertigen Selbstgedrehten auf, die er zwischen den Fingern hielt. Er wirkte aufrichtig irritiert.

»Na, dass ihr festlegt, wer wann welche Aufgabe zu übernehmen hat, ohne dass das vorher auch nur im Ansatz gemeinschaftlich besprochen wird.«

»Ach, das meinst du.« Jan gab sich Feuer und sog genüsslich den Rauch ein. Dann sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen: »Da fühlt sich wohl jemand in seinem Ego angegriffen, was?«

Ich wollte schon protestieren, aber er schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Entspann dich wieder, Sportsfreund. Wir hatten das schon länger geplant. Und zwar mit Lasse. Wenn die Hotten im Krankenhaus nicht seinen Dienstplan geändert hätten, wärst du gar nicht gefragt worden. Hat dir das keiner erzählt?«

»Nein«, sagte ich, keineswegs versöhnt angesichts der Tatsache, als Reservespieler aufs Feld geschickt zu werden.

»Hey, es wäre einfach müßig gewesen, das alles noch mal lang und breit auseinanderzudividieren. Außerdem …« Jan zögerte.

»Na, was?«

»Außerdem wollte … wollten wir erst mal seh’n, wie du dich anstellst.«

Einen Moment lang glaubte ich, aus der Wirklichkeit katapultiert worden zu sein. Da saß mir also mein bester Freund gegenüber und erklärte mir in aller Seelenruhe, dass er mal sehen wolle, wie ich mich anstellte. Na gut, dann stellte ich mich eben an. Und zwar gleich.

»Sag mal, dir hat wohl der letzte Vegi-Burger das Stammhirn zerfressen!«, schrie ich. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon?! Dreizehn Jahre? Vierzehn? Und da willst du überprüfen, ob ich mich für so ’ne Lachnummer eigne?«

Jan zuckte entschuldigend mit den Achseln.

»Komm, Mann, ich weiß, dass auf dich Verlass ist. Aber die anderen kennen dich gerade mal ’n paar Tage. Ist doch normal, dass sie dich erst mal auschecken wollen.«

Ich war noch immer derart aufgebracht, dass ich dieses durchaus nachvollziehbare Argument um ein Haar überhört hätte. Mir lag schon der Satz auf der Zunge, dass die drei angehenden Aushilfsterroristen ihren mittelmäßigen Schülerstreich doch am besten ohne mich verüben sollten. Aber dann tauchte für den Bruchteil einer Sekunde Julia mit einem schweren Pflasterstein in der Hand vor meinem inneren Auge auf, und ich besann mich wieder.

»Na gut, da mag was dran sein«, lenkte ich ein. »Aber das hättest du vielleicht besser für dich behalten.«

»Tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht.«

»Schon gut.« Ich wechselte das Thema: »Sag mal, du bist doch nicht wirklich Veganer geworden, oder?«

»Na ja«, sagte Jan, »Ich versuch’s.« Und dann nach einer kurzen Pause: »Klappt aber meistens nur an ungeraden Tagen, die mit einem Vokal beginnen.«

»Da bin ich ja beruhigt. Ich hab auch so alle paar Stunden meine Schwächephasen.«

Wir sahen uns verschwörerisch an, dann brachen wir in befreiendes Gelächter aus. Das übliche Verhalten von Schwächlingen, die ihre mangelnde Willensstärke hinter großkotzigem Gehabe zu verbergen suchen.

Schließlich drückte Jan seine Kippe aus und stemmte sich in die Höhe.

»Ich denke, ich entspann mich auch noch ’n bisschen.«

»Jesus, man könnte meinen, wir planen ’nen Anschlag auf die Innenbehörde.«

»Ein ausgeruhter Geist ist die vornehmste Waffe des Revolutionärs«, sagte Jan lachend. Dann war er verschwunden.

Ulrike folgte ihm, als ob er einen für das menschliche Ohr nicht vernehmbaren Pfiff gehört hätte.

Ich saß also allein in der Küche, trank weitere Biere und dachte über markige Zeilen nach, die den oder die Betreiber der Boutique das Fürchten lehren und mir im Kreise meiner neuen (und alten) Freunde Anerkennung und Beifall einzubringen vermochten. Den Zweiflern würde ich schon zeigen, was sie von meinen Qualitäten in Bezug auf klandestine Unternehmungen zu halten hatten!

Leider war ich bis viertel vor eins noch nicht so weit, wie ich gehofft hatte. Um genau zu sein, verfügte ich über ganze zwei Sätze, von denen der eine zusätzlich noch einer knackigen Beschimpfung bedurfte. Auf meinem virtuellen Notizblock stand zum einen die altbekannte Parole Kapitalismus tötet!, zum anderen der selbst erdachte Polenböller Verpisst euch nach Entenhausen, ihr …! Ohne Zweifel unbefriedigend, aber was sollte ich machen?! Inspiration lässt sich nun mal nicht erzwingen. Dafür hatte sich – dem Alkoholpegel sei Dank – meine innere Einstellung drastisch verbessert. Ich war bereit loszuschlagen. Der Rest konnte getrost der Spontanität des Augenblicks überlassen werden.

Voller Tatkraft räumte ich die leeren Flaschen unter die Spüle. Dann ging ich in mein Zimmer und stopfte mir den verbliebenen Schinken in den Mund.

Keine fünfzehn Minuten später stand ich wieder in der Küche; natürlich in einer Kluft, die unserem Vorhaben angemessen war: schwarze Turnschuhe, deren Logos ich mit Klebeband abgedeckt hatte; schwarze Baggy Pants, in der ein Paar Arbeitshandschuhe steckten; schwarze Jacke ohne Markenaufdruck; schwarzes Halstuch; schwarze Wollmütze. Genau die richtige Garderobe für einen nächtlichen Spaziergang.

Da ich als Erster erschienen war, drängte sich die Idee auf, meinen Enthusiasmus mit einem weiteren Bier zu füttern. Ich rang die Versuchung nieder, indem ich die Sprühdose, die ich drei Minuten zuvor aus meinen Beständen gefischt hatte, noch einmal prüfend in der Hand wog. Sie war schon benutzt worden, schien aber noch voll genug zu sein.

Als gleich darauf die anderen auftauchten, war ich froh, dem sirenengleichen Werben des Gerstensafts die Stirn geboten zu haben. Musste ja nicht sein, dass ich mir kurz vorm Aufbruch noch eine spitze Bemerkung einfing.

Julia und Kleingeld verglichen Armbanduhren, die ich noch nie an den beiden gesehen hatte. Dann sagte Julia an Kleingeld gewandt: »Okay, haut ihr schon mal ab. Jan und ich warten noch ’ne Minute. Seht zu, dass ihr nicht zu früh da seid. Sobald wir uns begegnet sind, legt ihr los.«

Kleingeld quittierte diese Sätze mit einem knappen Nicken, dann sah er mich an.

»Fertig?«

»Fertig«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, meinen alkoholgesättigten Atem nicht in seine Nase steigen zu lassen. Für eine Sekunde fühlte ich mich, als ob wir eine x-beliebige amerikanische Krimiserie nachspielen würden – Fertig, Sergeant? Fertig! Gleich würden wir dieser Bande abgebrühter Crackdealer gepflegt die Tür eintreten. Ich hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.

Während Kleingeld den Reißverschluss seiner Jacke hochzog und sich die Mütze aufsetzte, musterte ich meine Mitstreiter. Sie sahen aus wie ich selbst: gut verpackt in sportliche, schwarze Klamotten, die kaum etwas von ihrer Identität preisgaben. Beim jährlichen Maskenball des Polizeisportvereins hätten sie uns sicher zu unserer gelungenen Kostümwahl gratuliert.

Kleingeld nahm einen letzten Schluck Mate. Dann zogen wir ab.

Da mein Begleiter einen Umweg wählte, war es uns möglich, ein zügiges, aber nicht zu hohes Tempo einzuschlagen. Auf Passanten mussten wir wie zwei Kino- oder Kneipengänger wirken, die nach der Spätvorstellung oder dem letzten maßvoll genossenen Glas Wein festen Schrittes ihrer Wohnstatt entgegenstrebten. Aber Passanten waren keine zu sehen. Für eine Montagnacht selbst in unserem als Amüsierviertel geltenden Bezirk nichts Ungewöhnliches, zumindest in den Seitenstraßen, durch die wir uns bewegten.

Nachdem wir seit dem Verlassen des Hauses geschwiegen hatten, unterbrach Kleingeld meinen Gedankenstrom urplötzlich mit einer Frage, deren Sinn ich nicht gleich verstand: »Und? Hast du dir was Hübsches einfallen lassen?«

»Bitte?«

»Weißt du schon, was du gleich sprühen wirst?«

»Ja, klar«, log ich mit vorgetäuschter Selbstsicherheit. Ich verspürte keinerlei Drang, mich über die dürftige Ausbeute meines bisherigen Denkprozesses zu verbreiten. Nicht, dass hier auf der Straße noch eine Diskussion losbrach. Oder noch schlimmer: Dass Kleingeld meinte, mir vorsagen zu müssen.

Zum Glück fragte er nicht weiter nach.

In meinem biergesättigten Köpfchen herrschte auch so genug Betrieb. Verpisst euch nach Entenhausen – das klang doch zünftig! Aber was konnte ich ans Ende stellen? Ihr Bastarde? Ihr Hurensöhne? Nein, deutlich zu sexistisch und außerdem vom Thema wegführend. Vielleicht ihr Krämerseelen? Ohne Zweifel ein klangvoller Ausdruck, aber schwang da nicht ein zu großer Happen verkürzte Kapitalismuskritik mit? Verdammt, roch nicht die ganze Aktion genau danach?! Egal, hier ging es ohnehin nicht um Politik. Hier ging es um Herzensbildung. Jedenfalls für mich. Julia sollte das gefallen, was da in ein paar Minuten wie ein böser Ausschlag von der Fassade abstrahlen würde, nicht mir. Ich entschied, das Ende einfach wegzulassen. Das sparte nebenbei noch Zeit. Und Zeit war schließlich ein nicht unbedeutender Faktor im Kampf gegen die Zeitverwertungsmaschinerie.

Nicht minder wichtig war selbstverständlich das Timing. Unseres schien heute zu stimmen. Denn als Kleingeld und ich in die Morbus Hansen-Straße einbogen, sahen wir unsere Hausgenossen schon auf uns zukommen. Beide trugen Sporttaschen, Julia die ihre leger über der Schulter, Jan die seine in der Rechten. Wir passierten uns keine zehn Meter vom Laden entfernt, natürlich ohne uns eines Blickes zu würdigen.

Kleingeld schlüpfte in seine Handschuhe und zog sich das Halstuch über die Nase, ich tat es ihm gleich, und dann standen wir auch schon vor den liebevoll dekorierten Schaufenstern des Markenanbieters. Freundlicherweise war zwischen der Eingangstür und der rechten der beiden verglasten Präsentationsflächen ein Streifen sauber verputztes Mauerwerk verblieben, dessen Breite für meine Zwecke völlig ausreichte – zumindest, wenn ich die Worte untereinander schrieb.

Ich zog die Sprühdose aus meiner Hosentasche, schüttelte sie kurz und machte mich an die Arbeit. Während ich der Weltöffentlichkeit die ersten drei Buchstaben überantwortete, sah ich Kleingeld aus den Augenwinkeln am Türschloss herumwerkeln. Ich nahm an, dass er irgendwas Metallisches in den Schließkanal schob (eine umgebogene Büroklammer oder ein Stück Draht beispielsweise), das er mit einer Zange gleich dergestalt abbrechen würde, dass nichts mehr aus dem Schloss herausragte, bevor er sein perfides Werk mit einer Ladung Sekundenkleber zum Abschluss brachte. Bei diesem Gedanken richtete ich meine Konzentration wieder auf meine eigene Aufgabe. Nichts war bei dem, was ich hier tat, schließlich schlimmer als das Produzieren von Rechtschreibfehlern. Noch mal schnell den Inhalt der Dose in Bewegung gebracht, schon ging es an die zweite Silbe. Ein hübsch geschwungenes p, gefolgt von einem munteren i – dann versiegte der Farbstrahl schlagartig.

Ich setzte ab, gab ein weiteres Mal den Barmixer und versuchte es erneut. Nichts! Also noch mal geschüttelt. Diesmal so heftig, dass mir das dadurch ausgelöste Klackern wie der Widerhall sich drehender Panzerketten in den Ohren dröhnte. Das Ergebnis blieb niederschmetternd. Da musste irgendwas mit der Düse sein. Sicher verstopft. Ich zog mir den rechten Handschuh von der Flosse und begann, mein Arbeitsgerät zu untersuchen. Kleingeld, dem meine Schwierigkeiten nicht entgangen waren, warf mir einen missbilligenden Blick zu. Ich zuckte in stummer Verzweiflung die Schultern. Was sollte ich machen? Zur nächsten Tag- und Nachttankstelle laufen und eine neue Dose erwerben?!

Unterdessen hatte ich einen größeren Klumpen getrockneten Lacks geortet und kratzte mit dem Zeigefingernagel an dem Plocken herum wie ein Grabräuber an der oxidierten Schicht eines metallenen Fundstücks. Es half nichts. Auch nachdem ich die Verunreinigung entfernt hatte, wollte das Behältnis seinen Inhalt nicht mehr preisgeben.

Kleingeld hatte seine Solidarmaßnahme für die regionalen Schlüsseldienste unterdessen zum Abschluss gebracht und nun ausreichend Muße, sich mit mir zu beschäftigen.

»Lass es sein!«, raunte er mir zu und griff mir an den Oberarm, um zu verhindern, dass ich die Dose erneut als ruhestörende Rassel einsetzte.

Ich wollte energisch protestieren, schließlich ging es in diesem Moment um nichts Geringeres als um meine Befähigung für weitere nächtliche Strafexpeditionen, aber dann vernahm ich hinter mir das Geräusch sich rasch nähernder Schritte und ich wusste, dass ich verloren hatte. Ich drehte mich um und sah Julia und Jan auf uns zukommen – beide hielten ihre Sporttasche nun in der Linken, während die Rechte fest um einen Pflasterstein geschlossen war. Noch bevor sie uns erreicht hatten, holten sie aus und ließen ihre Wurfgeschosse durch die Luft segeln. Ich vernahm dieses dumpfe Knirschen, das immer dann entsteht, wenn Glas nicht vollständig zersplittert, sondern nur eingedrückt wird, gefolgt vom Poltern der auf den Gehweg zurückschnellenden Steine. Dann verstärkte Kleingeld den Druck auf meinen Bizeps und gemahnte mich im Flüsterton, der mir nach dem gerade abgeebbten Lärm reichlich albern vorkam, dass wir jetzt abzuhauen hätten.

Ich riskierte einen letzten Blick, sah Jan mit beiden Händen eine halbe Gehwegplatte aus der inzwischen abgestellten Tasche heben, und nahm die Beine in die Hand.

Gemeinsam rannten Kleingeld und ich bis zur nächsten Straßenkreuzung, dann trennten wir uns. Ich überquerte die Fahrbahn, wobei ich vom Galopp in ein ruhiges Ausschreiten wechselte, während mein Begleiter nach links abbog.

Unter normalen Umständen wäre ich nach ein oder zwei Haken auf dem kürzesten Weg in unser trautes Heim zurückgekehrt. Angesichts des gerade erlebten Waterloos erfüllte mich dieser Gedanke jedoch mit Schaudern. Und so lief ich stattdessen an die zwanzig Minuten in die immergleiche Richtung. Um ein Haar hätte ich dabei vergessen, die Sprühdose zu entsorgen. Ich versenkte das hundertfach verfluchte Stück Hexenwerk im Müllcontainer einer Dönerbude.

Als ich schließlich umkehrte, tat ich das im Bewusstsein der absoluten Niederlage. Hohn und Spott würden noch das Geringste sein, was ich mir von den anderen würde anhören müssen. Vielleicht hatte ich ja Glück und sie waren schon zu Bett gegangen.

Eine närrische Hoffnung, wie ich nach meinem Eintreten in den Flur erkennen musste. Denn meine Mitstreiter schienen offenkundig auf mich zu warten. Sie saßen bei Kerzenlicht in der Küche und reagierten auf mein Erscheinen mit einer Mischung aus Erleichterung und angestauter Aggression.

»Na, endlich«, entfuhr es Jan, »wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

Kleingeld ergänzte diesen Befund mit den Worten: »Um genau zu sein, haben wir damit gerechnet, dass du eingefahren bist.«

Noch bevor ich ein Wort der Entschuldigung hervorbringen konnte, hatte sich Julia erhoben und vor mir aufgebaut.

»Gibt es irgendeine Erklärung dafür, dass du hier mit einer derartigen Verspätung antanzt?«, fragte sie, und dabei lag nichts in ihrem Blick, was auch nur ein Minimum an Trost versprach.

»Ich brauchte einfach ’ne Weile, um die Pleite mit dieser verkackten Dose zu verdauen«, sagte ich, was zwar der Wahrheit entsprach, aber in diesem Moment so kläglich klang wie die Ausrede eines Erstklässlers, der absichtlich auf dem Schulweg getrödelt hatte.

»Ach, weil also irgendwas nicht so läuft, wie du das gerne hättest, meinst du, du kannst mal eben komplett auf die Gruppe scheißen«, ätzte Julia.

Während mir die Empörung, die ihre Pupillen versprühten, einen Flammenteppich auf die Wangen legte, kristallisierten sich aus dem Gedankenbrei in meinem Kopf zwei Wünsche heraus – beide gleichermaßen dem Verlangen entsprungen, aus der defensiven Position, in der mich befand, zurück in die Vorwärtsbewegung zu kommen: Julia, ohne dass sie dabei ihre Vorhaltungen unterbrach, auf dem Küchentisch zu vögeln oder mir einen Schluck Bier die Kehle hinabrinnen zu lassen.

Da letzteres deutlich leichter zu haben war, schob ich mich an meiner Anklägerin vorbei und öffnete die Kühlschranktür.

»Ja, und jetzt natürlich erst mal schön einen saufen, auf den Erfolg«, höhnte Julia hinter meinem Rücken, noch bevor ich den Kronkorken von der Flasche hatte.

»Komm, entspann dich ’n bisschen«, intervenierte Jan. »Gegen ein Feierabendbier ist doch nun wirklich nichts einzuwenden.«

»Für mich ’ne Mate, bitte«, ließ sich Kleingeld vernehmen.

Ich erfüllte ihm sein Begehr.

Aber Julia war noch nicht fertig: »Von mir aus kann sich jeder ’n Trip einklinken und mit ’ner Flasche Wodka nachspülen. Aber erst, nachdem wir die Aktion besprochen haben. Und das gilt natürlich besonders dann, wenn einige Dinge grob schiefgelaufen sind.«

Das Zielfernrohr ihrer rechtschaffenen Verärgerung richtete sich erneut auf mich: »Hast du diese Sprühdose eigentlich mal auf ihre Funktionsfähigkeit geprüft, bevor du sie eingesteckt hast?«

»Ja, hab ich. Und sie hat ja auch funktioniert. Wenigstens am Anfang …«

»Aber daran, dir ’ne Ersatzdose mitzunehmen, hast du nicht zufällig gedacht, oder?!«

Ich blieb ihr die müßige Antwort schuldig und nahm stattdessen einen ausgiebigen Schluck Holsten Edel.

Das machte sie richtig wütend.

»Dir ist das alles scheißegal, ne?! Herrgott, wenn die Bullen nicht schon aus ihrem Misthaufen gekrochen wären, würde ich dich am liebsten noch mal losschicken, damit du diese Versagernummer zu Ende bringst.«

Jetzt war es an mir, einen aufgebrachten Ton anzuschlagen. Verehrung hin oder her, allein aus strategischen Gründen war ich gut beraten, mich nicht völlig zum Honk machen zu lassen. Angriffsmöglichkeiten boten sich reichlich. Ich wählte die erste, die mir durch den Kopf schoss.

»Klar, die Botschaft ist ja bei so ’nem krassen Kommandounternehmen auch immer das Allerwichtigste. Nicht, dass die werktätigen Massen am Ende den Tag noch ohne die weisen Worte der Revolution beginnen müssen. Vielleicht machst du dir besser mal klar, dass ich da sonst was an die Mauer hätte schreiben können. Der Sinn unserer Großtat hätte sich trotzdem nicht vermitteln lassen. Für die meisten Leute ist das nichts weiter als die Beschädigung fremden Eigentums. Und zwar aus reiner Zerstörungswut oder jugendlichem Leichtsinn, oder noch schlimmer: aus purem Neid. Selbst ich könnte nicht mal eben erklär’n, inwiefern zwei kaputte Scheiben und ein verklebtes Schloss in der Lage wären, dem System zu schaden.«

Verdammt, mit der letzten Bemerkung war ich deutlich zu weit gegangen. Um das zu erkennen, hätte es den vernichtenden Blick aus Julias Augen gar nicht gebraucht. Zum Glück kam ihr Kleingeld mit einer Antwort zuvor.

»Mann, auf das System ist geschissen. Erst mal müssen wir unsern Kiez sauber halten.«

Kiez? Hatte Kleingeld tatsächlich Kiez gesagt? Nach meinem Dafürhalten das Unwort des Jahrhunderts. Alle, die auch nur eine Tätowierung am Leib trugen oder sich ein Stück Metall ins Gesicht hatten schrauben lassen, wohnten plötzlich im oder noch schlimmer: auffem Kiez. Und wenn sie doch mal einen Stadtteil behausten, der sich dieser Zuschreibung erfolgreich erwehrte, dann wollten sie wenigstens in ihrer Freizeit durch oder über den Kiez ziehen und dabei Getränke konsumieren, denen die Werbeindustrie das Gütesiegel Schlüpferstürmer der Subkultur verliehen hatte – Astra beispielsweise oder Fritz-Kola oder Sterni. Und natürlich musste der Kiez stets verteidigt werden, gegen Schwaben oder Touris oder Investoren oder wen auch immer. Fehlte nur noch ein entsprechender Aufnäher, vielleicht mit dem Aufdruck Ich bin stolz, ein Kiezbewohner zu sein.

Bei einem derart schwachen Aufschlag war es ein Leichtes, den Ball knapp hinters Netz zurückzuspielen: »Ach, wir entscheiden jetzt also, wer sich hier ansiedeln darf und wer nicht?!«

»Nee, das vielleicht nicht … Aber wir sollten wenigstens dafür sorgen, dass sich die Scheiß-Yuppies hier nicht noch breiter machen, als sie’s ohnehin schon getan haben.« Kleingeld war wirklich ein Geschenk des Himmels.

»Na, klar, die Yuppies«, höhnte ich mit süßlicher Stimme. »Die sind natürlich an allem schuld.« Den Zusatz vielleicht sind sie sogar unser Unglück konnte ich mir gerade noch verkneifen. Stattdessen sagte ich: »Und wer legt das fest, wer Yuppie ist und wer nicht? Du? Oder ich? Oder das Komitee zur Reinhaltung des Stadtteils? Und wenn die so ’nen fiesen Yuppie ausgemacht haben, darf der das Viertel dann nicht mehr betreten? Oder nur noch tagsüber? Vielleicht mit Passierschein? Oder steckt man so einen nicht besser gleich ins Umerziehungslager beziehungsweise ins Latte-macchiato-Ghetto? Alter, es ist doch völlig aberwitzig zu glauben, das Glück dieses Planeten hinge vom Verschwinden einer bestimmten Bevölkerungsschicht ab, mal ganz davon abgesehen, dass die Gruppe, über die wir hier sprechen, noch nicht mal klar zu definieren ist.«

Kleingeld starrte mich über seine Mate-Flasche hinweg feindselig an, blieb aber, wie ich es erwartet hatte, vollkommen still.

Es war Jan, der die Antwort übernahm: »Es geht doch überhaupt nicht um Yuppies, oder wenn, dann nur vordergründig. Es geht darum, dass hier seit Jahren die Mieten explodier’n, dass alteingesessene Bewohner verdrängt und aus ihren sozialen Bindungen gerissen werden und dass wir dem irgendwas entgegensetzen müssen.«

Damit hatte er natürlich Recht. Trotzdem wollte oder konnte ich jetzt nicht einfach klein beigeben. Außerdem stellte sich immer noch die Frage, ob der Angriff auf ein Bekleidungsgeschäft tatsächlich ein probates Mittel war, um den Prozess, von dem Jan gesprochen hatte, aufzuhalten.

»Und du meinst, mit ein paar eingeschmissenen Schaufenstern lässt sich der Zuzug von unliebsamen Personengruppen stoppen?«

»Na, klar, das schreckt ab. Die Versicherungsprämien steigen und die Angst auch. Davon ab: Wir sind ja gar nicht gegen Veränderungen, auch nicht gegen den Zuzug von Reichen oder Yuppies oder wie auch immer du die Leute nennen willst, die sich hier ’ne Eigentumswohnung klarmachen. Nur: Die Mischung muss stimmen. Aber wieso erklär ich dir das eigentlich?! Du weißt das doch alles selbst.«

»Ja, klar«, gab ich zögerlich zu. »Und trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob unsere Methode die richtige ist. Das System als Ganzes ist der Fehler. Ist es da nicht kontraproduktiv, den Fokus auf seine einzelnen Teile zu legen?«

Die Replik kam augenblicklich. Und zwar von Julia: »Für jemanden, der vor zwei Tagen noch Ulrike Meinhof zitiert hat, hast du ’ne Menge gequirlter Scheiße im Kopf. Aber hey, sobald du herausgefunden hast, wie das System beseitigt werden kann, ohne seine Einzelteile anzugreifen, kannst du uns dazu ja mal ’n erhellendes Referat halten. Aber vielleicht übst du vorher noch ’n bisschen sprühen.«

Treffer! Versenkt! Ich sah hilfesuchend zu Jan, aber der ignorierte meinen Blick geflissentlich.

»Und damit weiterhin viel Spaß bei eurer Kaffeehaus-Revolution«, setzte Julia noch einen drauf, bevor sie sich abrupt umwandte und erhobenen Hauptes das Zimmer verließ.

Kleingeld folgte ihr, ohne Jan oder mich eines Grußworts für würdig zu befinden.

Ich trank in einem Zug mein restliches Bier aus, entnahm dem Kühlschrank zwei neue und ließ mich Jan gegenüber auf einen Stuhl fallen.

Nachdem wir beide eine Weile auf die Türöffnung gestarrt und schweigend an unseren Flaschen genuckelt hatten, durchbrach Jan die Stille schließlich mit genau der Frage, mit der zu rechnen gewesen war.

»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?« Sein Gesicht trug einen Ausdruck, wie er normalerweise Menschen zu eigen ist, die in Therapieeinrichtungen arbeiten.

»Keine Ahnung«, stöhnte ich leise, während ich mir eine Zigarette aus der Packung fingerte. »Ist wohl einfach nicht mein Tag heute. Dieser Anfängerfehler vorhin hat mich völlig aus der Spur gebracht.«

»Versteh ich ja. Aber das kann doch nicht der Grund dafür sein, hier mal eben den großen Rundumschlag zu führen.«

»Nein«, sagte ich, »das liegt wohl eher an was anderem.«

Jan hakte zum Glück nicht weiter nach, setzte allerdings ein wissendes Lächeln auf. Dann sagte er: »Du solltest morgen auf jeden Fall noch mal mit Julia sprechen. Und mit Kleingeld besser auch.«

Ja, das sollte ich wohl. Sonst hatte es sich bald erledigt mit aufregenden Begegnungen im Badezimmer.

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