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Die kapitalistische Bestie hält auch für dich einen Fangarm bereit

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Keine Frage, daß Melzer und ich, selbst mit unserer vergleichsweise zivilen Garderobe, in der Schule alsbald für Aufsehen sorgten.

Ob er seit neustem mit zwei Fingern in der Steckdose schliefe, wurde mein Banknachbar angesichts seiner mit Zuckerwasser präparierten Mähne gefragt. (Nur um hier für Klarheit zu sorgen: An die Frisur von beispielsweise Sid Vicious reichte er bei weitem nicht heran. Dafür war sein Haar einfach zu lang. Vielmehr fiel das, was er allmorgendlich vor Unterrichtsbeginn in der Schultoilette mühsam in Form brachte, im Lauf der nächsten Stunden nach und nach zusammen, bis sein Schopf schließlich einem Weizenfeld glich, das zu lange im Regen gestanden hatte – was dann allerdings um so wüster aussah.)

Auch unsere Badges riefen nicht selten Mißfallen hervor, besonders die selbstgefertigten. Ich erinnere mich an ellenlange Diskussionen mit einem Werte-und-Normen-Referendar (einem dieser unangenehm aufgeschlossenen Berufsjugendlichen, die zwanghaft geduzt werden wollen) über die Notwendigkeit, die Aussage »Fick den Papst, dann hilft dir Gott« am Revers zu tragen.

Aber es gab auch Lob, und zwar von gänzlich unerwarteter Seite. Herr von Stülten, seines Zeichens Geschichtslehrer und bekennender NPD-Anhänger, zeigte sich sichtlich angetan von unserem neuen Schuhwerk.

»Na, meine Herren, da sind wir für den nächsten Blitzkrieg ja bestens vorbereitet«, verkündete er mit Blick auf unsere Armeestiefel.

Den größten Anklang fand unser Bewußtseinswandel naturgemäß bei denen, die schon immer ein Faible für normverletzendes Verhalten an den Tag gelegt hatten. Also bei Typen, die mit ihren Eddings riesige obszöne Zeichnungen an die Innenwände der WCs malten, während des Unterrichts heimlich Bier tranken und dem Hausmeister so oft als möglich gegen die Scheiben seiner kleinen Verkaufsbude rotzten.

Hier stießen Melzer und ich auf echtes Interesse, und nachdem wir ein paar unserer Tonträger die Runde hatten machen lassen, waren wir bald nicht mehr die einzigen am ehrbaren Michail-Bakunin-Gymnasium, die die Bezeichnung Punkrocker für sich in Anspruch nehmen durften.

Achmed Vornefett zum Beispiel, dessen Eltern geschieden waren und der deshalb ohne die väterliche Knute aufwuchs, kam eines Tages mit einer karierten Bondagehose zum Unterricht, die mir vor Neid fast den Talg aus den Mitessern trieb. Mann, zu blöd, daß meine Eltern nicht geschieden waren.

Ein weiterer Parteibuchanwärter war Uwe Properski, ein übergewichtiges Milchgesicht aus dem Jahrgang unter uns. Streng behütet von einem Despoten aus der Gebrauchtwagenbranche, sah er sich zwar außerstande, modisch für Furore zu sorgen, dafür erlaubte ihm aber ein überaus fürstliches Taschengeld den Ankauf jeder von uns begehrten Schallplatte.

Melzer und ich schleppten die beiden mit zum Lesepavillon, was den Vorteil besaß, daß wir unsere Außenseiterexistenz hinfort als Kleeblatt fristen konnten.

Als sich die Nachricht verbreitete, die U.K. Subs würden in die Stadt kommen, stand schnell fest, daß wir das Konzert besuchen mußten. Heiland Sack, die U.K. Subs, Londoner Punkrockheroen der ersten Stunde – schon damals Legende – in unserer provinziellen Gemeinde …

Stellte sich nur die Frage, wie ich meinen Eltern die notwendige Ausgangsgenehmigung abhandeln konnte. Ein kümmerliches Mal hatte ich bisher eine Tanzkapelle live sehen dürfen, nämlich die Teens in der Stadthalle, und das auch nur, weil die Mutter von Astrid Möllering sich bereit erklärt hatte, als Aufsichtsperson zu fungieren.

Ob Frau Möllering sich auch für die Subs zur Verfügung stellen würde, war fraglich. Ich allerdings mußte auf Nummer Sicher gehen, sprich: mich der Lüge bedienen. Ich erfand einen Theaterabend in der Schule, an dem neben unserer eigenen auch mehrere auswärtige Schauspielgruppen teilnehmen würden. Das rechtfertigte nicht nur stundenlangen Freigang, sondern brachte mir auch einen Zehner ein, mit dem ich den vermeintlichen Eintritt und eventuelle Getränke bezahlen sollte.

Properski, der dieselbe Masche versuchte, hatte weniger Glück. Sein Vater benötigte ihn für dringende Ausbauarbeiten am heimischen Partykeller.

Wir anderen trafen uns bei Vornefett, da es nur hier möglich war, die an unserer Aufmachung unverzichtbaren Änderungen vorzunehmen.

Melzer und ich schlüpften in die aus dem Haus geschmuggelten Kleidungsstücke. Dann ging es mit Kernseife und zwei Dosen Haarspray an das Aufstellen der Haare (ein Vorgang, der damals, wenn ich mich recht erinnere, »Spiken« genannt wurde).

Nachdem wir uns so dem gängigen Bild des Bürgerschrecks aufs Beste genähert hatten – zumindest im Rahmen unserer Möglichkeiten –, brachen wir auf. (An Achmed Vornefett, der die Seitenwände seines Schädels zur Feier des Tages kurzerhand von ihrem Bewuchs befreit hatte und der damit zumindest über den Ansatz eines Irokesenschnitts verfügte, reichten wir natürlich nicht heran.) Vornefetts Mutter, die wie gewohnt vor der Glotze dahinsiechte, würdigte unseren Abgang mit einem großen Schluck aus der Sherry-Karaffe.

Ihr Stammhalter bevorzugte nicht minder gehaltvolles Labsal. Im Bus Richtung Nordstadt zog er eine Flasche Berentzen Apfel aus dem Innenleben seiner Jacke.

»Hab’ ich bei meiner Alten im Wäscheschrank gefunden«, prahlte er, während er seine Beute in die Höhe hielt.

Beschämt dachte ich an die Handvoll nimm2 und die Tafel Zartbitterschokolade, die mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte.

Während wir dem ungewohnten Getränk reihum zu Leibe rückten, wobei wir es mit allen Mitteln vermieden, dem tödlichen Brennen in unseren Kehlen irgendeine Regung folgen zu lassen, die eventuell als unmännlich auszulegen gewesen wäre, füllte sich das Nahverkehrsmittel nach und nach mit Menschen, die unübersehbar demselben Ziel entgegenstrebten wie wir. Lederjackenträger um Lederjackenträger enterte den Bus, und so dauerte es gerade mal zwei Haltestellen, bis selbst die Stehplätze knapp wurden.

»Beim Prostatakrebs des Kanzlers, wo kommen die bloß alle her?« fragte Melzer angesichts der zerlumpten Gestalten, die nicht selten mit ganzen Paletten voller Dosenbier bewaffnet waren.

»Sicher vom Dorf«, beschied ihm Vornefett, nachdem er einmal mehr den Berentzen auf den Parcours geschickt hatte.

Warum dann plötzlich, begleitet von der Parole »Wer nicht mitspringt, ist ein Nazi!«, alles zu hüpfen begann, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich konnte von meinem Platz aus einfach nicht genug erkennen. Auf jeden Fall sprangen mit einem Mal gut fünfzig Personen wild auf und ab – ein Manöver, das den Bus, der gerade eine Rotphase abzuwarten hatte, mächtig ins Schaukeln brachte. Verständlich, daß sich der Fahrer davon nur mäßig begeistert zeigte. Über Lautsprecher forderte er seine Fahrgäste auf, das kindische Tun sofort zu unterlassen.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Kaum daß die gestrenge Stimme des Fuhrknechts verklungen war, ging eine erste Scheibe zu Bruch. Weitere folgten im Sekundentakt, und so war – nicht zuletzt dank der über den gesamten Innenraum verteilten Nothämmer – bald der halbe Bus entglast.

Melzer, Vornefett und ich, die wir das Treiben zu Beginn eher abwartend beobachtet hatten, auch wenn wir uns damit zweifellos dem Verdacht einer faschistoiden Gesinnung aussetzten, sahen unsere privilegierten Plätze mit einem Mal durch herumfliegende Glaspartikel bedroht. Beinahe zeitgleich erhoben wir uns, während sich ein gedrungener Skinhead, der scheinbar keinen Hammer abbekommen hatte, an uns vorbeizwängte, um die Scheibe neben unserer Sitzbank mit einer Flasche Nörten-Hardenberg anzugehen.

»Besser kann das Konzert nachher auch nicht werden!« brüllte mir Vornefett noch ins Ohr.

Dann hagelte es plötzlich echte Scherben. Ein Ungemach, das unseren Fluchtinstinkt vollends zu wecken vermochte. Aber an Flucht war nicht zu denken, da wir von einer undurchdringlichen Wand entfesselter Leiber umgeben waren. Uns blieb nichts anderes, als, so gut es ging, in Deckung zu gehen.

Die Lage entspannte sich erst, als der Fahrer, der die Lautsprecheranlage nach wie vor wacker besetzt hielt, das baldige Nahen der Sicherheitsorgane ankündigte. Schlagartig machte sich ein Großteil seiner Kundschaft durch die neu geschaffenen Ausstiegsluken davon, und auch wir wagten sobald als möglich den Sprung aufs Straßenpflaster.

»Einwandfreies Programm«, befand Vornefett.

Melzer pflichtete ihm bei.

»In der Schule glaubt uns das kein Mensch«, sagte er, während er sich ein Stück Glas aus der Kopfhaut zog.

»Auf die Pißnelken in der Schule ist geschissen«, entgegnete Vornefett und hatte schon wieder den Berentzen geöffnet.

Nachdem wir jeder einen Schluck genommen hatten, hieß es ausschreiten, um den losen Pulk derjenigen einzuholen, denen das herannahende Sirenengeheul bereits Beine gemacht hatte.

Grölend und marodierend zog die Meute durch die Häuserschluchten, und wir waren ein Teil von ihr – ein erhebendes Gefühl, das durch den Apfelkorn noch verstärkt wurde. Nie zuvor war ich mir so bedeutend vorgekommen. Vor meinen Augen wälzte sich eine Kraft über den Asphalt, die in der Lage schien, alles Bestehende hinwegzufegen. Diese Jugendbewegung würde all ihre Vorgänger an Entschlossenheit weit übertreffen, dessen war ich mir sicher.

Kein Wunder, daß sich in mir ein vollkommen unbekannter Tatendrang regte, während sich zeitgleich eine angenehme Gleichgültigkeit in bezug auf gängige Verhaltensregeln einstellte. Daß Achmed Vornefett im Vorübergehen eine Mülltonne umtrat, erschütterte mich nur bedingt. Kurz wunderte ich mich darüber, daß niemand an ihn herantrat, um ihm Handschellen anzulegen. Dann ließ ich den Blick schweifen, um eine Mülltonne zu entdecken, die ich umtreten konnte. Leider hatten die vor uns Gehenden bereits sämtliche Hindernisse aus dem Weg geräumt. Dafür kam der Veranstaltungsort in Sicht, das Jugendzentrum B 52. Und hier bot sich dem euphorisierten Jungspund ein Bild, das ihn vollends aus der Fassung geraten ließ.

Ein Anblick wie beim Jahrestreffen der Freibeutergewerkschaften, ein Anblick, der jeden rechtschaffenen Bürger umgehend veranlaßt hätte, die Gestapo zu alarmieren. Aber rechtschaffene Bürger waren nicht zu sehen. Statt dessen beherrschten Horden von Punkrockern die Szenerie. Sie lagerten auf der Rasenfläche, die das Gebäude umgab, oder pendelten zwischen Jugendzentrum und einer nahegelegenen Tankstelle hin und her; augenscheinlich, um den Nachschub an Alkoholika zu gewährleisten. Die Gegend war mit Leergut übersät, als ob eine unsichtbare Macht den Inhalt Dutzender Altglascontainer vom Himmel hatte regnen lassen.

Meine Gefährten und ich hatten angehalten, um uns an dieser kolossalen Kulisse zu weiden. Nun ließ Vornefett ein letztes Mal die Flasche kreisen. Dann konnte das Behältnis dem Zuständigkeitsbereich der Stadtreinigung überantwortet werden.

»Sieht so aus, als hätten wir noch ’n bißchen Zeit«, sagte Melzer mit Blick auf die wartende Menge. Seine Wangen wiesen selbst im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung eine ungewohnte Rötung auf.

Seiner Bemerkung folgte die unausgesprochene Frage, was jetzt zu tun wäre.

Kurz war ich versucht, nimm2 anzubieten, konnte den Impuls aber gerade noch unterdrücken.

»Wir könnten ein paar Bier holen«, schlug Achmed Vornefett vor.

»Ich weiß nich’«, wandte ich ein. »Ich hab’ nur ’n Zehner dabei. Und wir müssen ja noch Eintritt zahlen.«

»Hey, das laß mal meine Sorge sein.« Bei diesen Worten nestelte Vornefett ein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche, dem er mit gönnerhafter Geste einen Hunderter entnahm.

Ein Blauer! Bei allen Heiligen! Ich hätte wetten können, daß er den ebenfalls bei seiner Mutter im Wäscheschrank gefunden hatte. Aber was scherte mich das?! In meinem Gehirnkasten sorgte der Berentzen für Aufruhr, da war es doch nur begrüßenswert, wenn ein fürsorglicher Gönner ein Getränk ins Spiel brachte, das für seine beruhigende Wirkung bekannt war.

Wir besorgten uns an der Tanke je drei Dosen Wolters Pilsener. Dann mischten wir uns trinkend und rauchend unters Volk, um die gesamte Bandbreite an aufwendig verzierten Lederjacken aus der Nähe zu betrachten und die in allen Farben schimmernden Hahnenkämme zu goutieren, die nicht selten eine Höhe von zwanzig bis dreißig Zentimetern aufwiesen.

Allen dreien war uns bewußt, daß hier ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung stattfand. Himmel, all diese Halbgötter um uns herum – von den Göttinnen gar nicht zu reden. Die Hundehalsbänder, die Nasenringe, diese intensiv geschminkten Augen, das alles barg eine Arroganz in sich, wie ich sie in dieser Dichte nie zuvor erlebt hatte. Ich verliebte mich alle dreißig Sekunden neu und beneidete all jene, die alt genug waren, ihr Äußeres und damit ihre Würde frei von elterlichen Zwängen zu gestalten. Gleichzeitig fühlte ich mich seltsam ergriffen. Denn, hey, wir waren dabei, waren sozusagen im Schatten der Unsterblichkeit positioniert.

Daß wir wegen eines Konzerts hierhergekommen waren, hatte ich komplett vergessen, und meinen Begleitern schien es nicht anders zu gehen. Wir befanden uns, auch ohne musikalische Beschallung, bereits auf dem Gipfel der Seligkeit. Unser eigentliches Vorhaben kam uns erst wieder in den Sinn, als sich die Gesprächsfetzen zweier vorbeitorkelnder Wahlberechtigter in unsere Gehörgänge schoben.

»Sieben Mark woll’n die haben, die verdammten Kommerzschweine«, lamentierte ein übergewichtiger Bouncer, dessen Jacke mit den silberglänzenden Kappen von Einwegfeuerzeugen geschmückt war.

»Sieben Mark?!« ereiferte sich sein nicht minder adipöser Begleiter, wobei er es nicht versäumte, Melzer kraft seiner Kilos aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Dafür hol’ ich mir lieber noch ’ne Flasche Küstennebel

Ohne Zweifel wurden hier die Eintrittspreise diskutiert.

Nun erschienen mir persönlich sieben Mark nicht wirklich überzogen; erst recht nicht für eine Band von der Insel. Immerhin kostete damals eine Langspielplatte schon an die zwanzig Mark. Aber diesen Gedanken getraute ich mich nicht zu äußern, da ich das Gehörte augenblicklich als unverbrüchlichen Glaubenssatz begriff.

Melzer zeigte sich in dieser Hinsicht weit weniger empfindlich.

»Scheint so, als ob der Einlaß schon begonnen hätte«, verkündete er vorlaut, während er sich zwei Zentiliter Bier von der Hose wischte.

»Na, dann mal los«, befahl Achmed Vornefett.

Anscheinend fühlte sich keiner meiner Freunde bemüßigt, den »Kommerzschweinen« die kalte Schulter zu zeigen. Das taten dafür andere. Vor dem Eingang, der von Mitgliedern des örtlichen Rockerclubs MC Bluterguß kontrolliert wurde, hatte sich eine aufgebrachte Menge positioniert, die die Preispolitik der Veranstalter einer lautstarken Kritik unterzog.

Die sonnenbrillenbewehrten Biker hatten sich einiges anzuhören; ebenso die wenigen, die sich dem Volkszorn widersetzten und wagemutig Einlaß begehrten. Es sah nicht nach offener Rebellion aus. Dafür wirkten die Kuttenträger, die sich vorausschauenderweise mit Fahrradketten bewaffnet hatten, dann doch zu disziplinierend. Aber aus den hinteren Reihen flogen bereits erste Flaschen gegen das verputzte Gemäuer, und so verlangsamten wir unsere Schritte, um in nichts verwickelt zu werden, was den Abend vorzeitig hätte beenden können.

»Ja also, das sieht, äh … na ja«, sagte Melzer mit ängstlichem Gesichtsausdruck.

Ein Befund, der mir stimmig erschien. Mit Sicherheit war es ratsam, erst einmal abzuwarten, welchen Lauf die Dinge nehmen würden.

Ich schickte mich an, einen entsprechenden Vorschlag zu formulieren. Aber Achmed Vornefett kam mir zuvor.

»Scheiße, ich bin doch nich’ hierhergekommen, um mir die Bierbäuche alternder Motorradfahrer anzugucken. Ich will die Band seh’n«, sagte er. Und dann drängte er (War es der Apfelkorn? War es das Bier? War es jugendliche Unbekümmertheit?) unvermittelt nach vorn und begann sich mit dem Ausruf »Platz da, wir sind vom Roten Kreuz!« einen Weg durch die Menge zu bahnen.

In seinem Kielwasser wurden auch Melzer und ich durch den Volkszorn gespült, der uns wundersamerweise unversehrt passieren ließ, wenn er sich die ein oder andere Schmähung auch nicht versagen mochte.

»Geht kacken, ihr Hippievotzen!« brüllte jemand.

Andere Stimmen forderten uns auf, umgehend in den Kindergarten oder zu Muttis großen Pfirsichen zurückzukehren. Aber da waren wir schon an der Kasse und schoben unser Silbergeld über den Tisch. Kein Problem also, einen »Stinkefinger« zu riskieren, wenn auch zur Sicherheit in Hüfthöhe.

Der vor der Tür herrschenden Verweigerungsstimmung zum Trotz war der an einen Luftschutzbunker erinnernde Innenraum bestens gefüllt. Und vielleicht war in diesem Umstand ja die eigentliche Ursache für die »hohen« Eintrittspreise zu suchen. Hätten nämlich auch noch diejenigen Einlaß gefunden, die draußen ihren Unmut kundtaten, wäre es ganz sicher zu Szenen gekommen, wie sie sich alle Jahre wieder in südamerikanischen Fußballstadien abspielen. So aber war gerade noch genug Platz, um eine Kippe zum Mund zu führen, ohne dem Vordermann Brandwunden zuzufügen, und auch das Biertrinken ging einigermaßen gelenk von der Hand. Vornefett hatte das mittlerweile unverzichtbare Getränk, das wohlweislich in Plastikbechern verkauft wurde, ungefragt herbeigeschafft, kaum daß wir den Saal betreten hatten.

Während wir den Gerstensaft in unsere Kehlen überführten und an den Benson & Hedges zogen, die Melzer feilgeboten hatte (wobei wir uns bemühten, wie alte Konzerthasen auszusehen, die schon so manchen Hörsturz hinter sich gebracht hatten), erschien die Vorband auf der Bühne. Eine Combo aus heimischen Gefilden namens Annual Error, von der ich nur noch den Frontmann erinnere, einen skelettierten Skinhead mit der Zahnsubstanz eines Bethelsüchtigen.

Es gab eine kurze Ansage, irgendwas, das so klang wie »Fickt euch, ihr verfickten Fickvotzen!«. Dann brach ein Soundgewitter aus den Boxen, wie ich es bis dahin noch nicht gehört hatte.

Umgehend geriet die Menge in Bewegung, und so hatte sich das mit dem entspannten Biertrinken erst mal erledigt. Hastig kippten wir das, was in unseren Bechern noch verblieben war, hinunter. Dann versuchten wir unseren Standort, so gut es ging, gegen die wogende Masse zu verteidigen.

»Scheiße Mann, da prügeln sich welche!« schrie Vornefett plötzlich und wies mit dem Finger vor die Bühne, wo sich ein vergleichsweise leerer Raum gebildet hatte, in dem eine Handvoll Menschen tatsächlich miteinander zu raufen schien.

»Quatsch!« schrie ich zurück. »Das ist bloß Pogo!«

»Wer?« Vornefett sah mich verwirrt an.

»Pogo. Ein Tanz

Eine echte Bondagehose und einen Beinah-Iro, aber keinerlei Ahnung von den kulturellen Gepflogenheiten. Fast hätte ich mich ins Getümmel gestürzt, um dem Ignoranten meine Überlegenheit auch in der Praxis unter Beweis zu stellen, als zwei Reihen vor uns eine echte Schlägerei ausbrach. Wenn ich das richtig zu deuten verstand, war einem alkoholisierten Mitbürger im Getümmel die Billiglederjacke zerrissen worden, und nun erhielt der Verursacher dieses Sakrilegs seine verdiente Strafe in Form einer kostenlosen Nasenkorrektur.

Vornefett, der das Geschehen gebannt verfolgte, stieß mich an.

»Geiler Tanz, dieser Pogo!« schrie er.

Aber da waren die beiden Kontrahenten schon dabei, sich ebenso bierselig wie blutend zu verbrüdern.

Die Band, die sich von dem kurzen Zwischenfall nicht weiter hatte beeindrucken lassen, war unterdessen dazu übergegangen, ihren zweiten Song zu präsentieren. In meinen Ohren unterschied er sich von seinem Vorgänger nur minimal. Aber das hielt das Auditorium nicht davon ab, seine Aktivität noch zu steigern. Bald drohten die ersten Ellenbogen ihren Weg in unsere Gesichter zu finden, und so hielten wir es für geboten, uns ans Ende des Raums zurückzuziehen.

Das hatte gleich zwei Vorteile. Erstens war hier der Großteil der weiblichen Zuhörerschaft versammelt, zweitens lag die improvisierte Theke in Reichweite. Klar, daß Vornefett umgehend neue Erfrischungen organisierte. Ebenso klar, daß er, als auch die zur Neige gegangen waren, noch einmal loszog.

Wir hatten also auch auf den hinteren Rängen ein vergnügliches Auskommen, zumal alles, was wir wahrnahmen, neu und aufregend war. Dumm nur, daß ich irgendwann so ein unangenehmes Kitzeln im Rachen verspürte.

Gerade noch hatte ich eine Sexgöttin zu meiner Linken auf die Laufmaschen in ihrer Netzstrumpfhose hinweisen wollen, als mit einem Mal mein Mageninhalt ans Tageslicht drängte. Ich konnte mich noch abwenden, dann schossen der Apfelkorn, das Bier und die Königsberger Klopse, die es zum Abendbrot gegeben hatte, auch schon mit Hochdruck ins Freie.

»Ey, kannst du nicht aufpassen, du Penner?!« schrie die Sexgöttin und kippte mir irgendwas Flüssiges in den Nacken.

Gut möglich, daß ein paar Spritzer Halbverdautes ihr gegenüber aufdringlich geworden waren. Überprüfen konnte ich das nicht. Ich hatte genug mit diesem Schwindel zu schaffen, der seit kurzem meine Denkzentrale bewohnte. Da war wohl bei der körpereigenen Verarbeitung der Alkoholika irgend etwas schiefgelaufen. Die Erinnerung an ebendiese Alkoholika genügte, um dem Brechreiz ein beeindruckendes Comeback zu ermöglichen.

Melzer, der mich fürsorglich bei den Schultern gepackt hielt, schlug vor, mich an die frische Luft zu begleiten. Vornefett bot an, mir ein neues Bier zu besorgen. Ich hielt mich an Melzer. Und siehe da: Kaum daß wir das schlecht belüftete Bunkerimitat verlassen hatten, begann ich mich auch schon besser zu fühlen. Demgemäß schien es nicht länger nötig, die selbstlose Hilfe meines getreuen Banknachbarn in Anspruch zu nehmen. Ich wandte mich um, um ihn mit den Worten »Geh ruhig wieder rein, Alter« zurück zum Konzert zu schicken. Aber Melzer war nicht mehr hinter mir. Ich entdeckte ihn fünf Meter entfernt, vornüber an eine Mauer gelehnt, wo er anscheinend innegehalten hatte, um seine Schuhe mit einer Flüssigkeit zu imprägnieren, die, da sie aus seinem Mund herausgesprudelt kam, unschwer als das zu identifizieren war, was Bukowski oft genug mit dem unschönen Ausdruck »Kotter« betitelt hat.

Nur verständlich, daß auch ich mich noch einmal erleichtern mußte. Als ich mich wieder in der Gewalt hatte, war die Rolle der barmherzigen Schwester auf mich übergegangen.

»Geht’s wieder?« fragte ich, Melzer nun meinerseits bei den Schultern haltend.

»Ja, ja«, stöhnte der und zwang sich ein grimmiges Lächeln ins gebleichte Gesicht. Er sah aus wie ein Ku-Klux-Klan-Anhänger, dessen Kapuze vorm Überziehen zum Abwischen des eigenen Darmausgangs benutzt worden war.

»Tja, woll’n wir dann … woll’n wir wieder rein?« fragte ich, wobei ich zugegebenermaßen auf Melzers Schwäche, also auf eine negative Antwort spekulierte.

Mein Banknachbar tat mir diesen Gefallen nur bedingt.

»Nee, ich glaub’, ich atme noch ’n bißchen durch. Aber geh du nur. Ich komm’ schon klar.«

»Auf gar keinen Fall«, protestierte ich. »Ich lass’ doch ’nen Kumpel nich’ im Stich.«

»Tja, dann.« Melzer warf mir einen bekümmerten Blick zu.

Gerade drangen die ersten Akkorde von »Warhead« nach draußen. Es war an mir, den Dingen die notwendige Richtung zu geben.

»Vielleicht sollten wir einfach …«

»Ja?«

»Ach, vergiß es.«

»Nee, sag ruhig.«

»Na, vielleicht sollten wir Richtung Heimat, also … abhau’n

Melzers Ja klang so erleichtert, als ob man ihm gerade die Entlassung aus der Sicherheitsverwahrung angeboten hätte.

»Aber bitte nicht mit dem Bus«, fügte er hinzu.

Natürlich nicht mit dem Bus. Völlig unmöglich, jetzt mit dem Bus zu fahren. Das unerträgliche Geschaukel, das ewige Stoppen und Anfahren – das war vielleicht etwas für altgediente Seebären, aber nichts für sensible Patienten wie uns. Also zu Fuß.

Wir riskierten ein paar vorsichtige Schritte und kamen tatsächlich vorwärts. Immerhin …

Dennoch war der Unterschied frappant. Hatten wir uns auf dem Hinweg noch gefühlt wie plündernde Wikinger in den rauchenden Trümmern eines irischen Klosters, glichen wir nun eher Wikingern mit frischen Kriegsverletzungen, die von gut organisierten irischen Mönchen gehörig ins Knie gefickt worden waren.

Müßig zu erwähnen, daß wir des öfteren einen Boxenstopp einlegen mußten, um schadstoffverseuchten Bonsaihecken mit dem wenigen, was unsere Mägen noch hergaben, die Lebensdauer zu verkürzen.

Als wir schließlich die Stelle erreichten, an der sich unsere Wege trennen würden, hatten wir nur noch die Kraft für eine knappe Verabschiedung.

»Geiler Abend«, röchelte Melzer.

»Aber hallo«, röchelte ich.

Dann schlurfte jeder in seine Richtung davon.

Zum Glück hatte ich es ab da nicht mehr weit. Ein paar Minuten noch, dann würde ich selig ins Bett fallen. So dachte ich zumindest.

Doch zu Hause wartete weiterer Unbill auf mich. Noch während ich mit vor Schwäche zitternden Fingern versuchte, den Schlüssel ins Schloß zu stecken, ging wie von Geisterhand die Flurbeleuchtung an. Dann öffnete sich, nicht weniger magisch, die Tür, und ich hatte zwei empörte Gesichter vor mir, die ich ohne Schwierigkeiten den Angehörigen meiner Kleinfamilie zuzuordnen vermochte.

Mein Alter startete den Motor ohne Vorglühen.

»Junge, bist du wahnsinnig, deine Mutter und mich so in Sorge zu versetzen?! Wo hast du dich bloß rumgetrieben? Dieser Theaterabend muß doch schon vor Stunden zu Ende gegangen sein.«

Meine Mutter interessierte sich mehr für mein Äußeres. Angewidert starrte sie auf die liebevoll von eigener Hand gestalteten Lumpen, die ich bisher vor ihrem kritischen Auge hatte verbergen können und die nun zu allem Überfluß auch noch unverkennbare Spuren von Erbrochenem aufwiesen.

»Was hast du nur mit deinen Haaren gemacht? Und warum trägst du diese Verkleidung? Wo sind denn deine eigenen Sachen? Du siehst aus wie ein Obdachloser. Und getrunken hast du auch! Das riech’ ich doch.«

Ich hatte für all diese Vorwürfe natürlich keinerlei Erklärung parat. Also behalf ich mich mit der Wahrheit.

»Mir ist kotzelend«, stammelte ich. Dann torkelte ich in mein Zimmer, wo ich mich ermattet auf die Schlafstatt fallen ließ.

Dem Strafgericht war ich damit fürs erste entgangen. Auch wenn meine Mutter, während sie mir die Jeans auszog, naturgemäß noch ein wenig herumlamentierte und mein Alter, der mit einem Plastikeimer angerückt kam, es nicht versäumte darauf hinzuweisen, daß dieser Abend ein Nachspiel haben würde.

Aber irgendwann war auch das überstanden. Das Licht wurde gelöscht. Und ich hatte nur noch mit diesem Karussell zu kämpfen, das komischerweise immer dann an Fahrt gewann, wenn ich die Augen zu schließen versuchte. Tja, Charly Harper und Nicky Garrat hatte ich nun unwiederbringlich verpaßt. Egal. Echte Punkrocker standen ohnehin nicht auf Kommerzschweine.

Vorkriegsjugend

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