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Dilettanten unterwegs nach nirgendwo

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Aus der Reihe »Mein größtes Waterloo«

Muttis Schuppen, Margarete Mitscherlichs Schalmeienorchester, Besoffen Zu Fuß und Smegma Für Alle – so hieß die Band in den Jahren 1985–87. Und nur deshalb hatten wir sie überhaupt gegründet – wir empfanden eine unendliche, beinah frühkindliche Freude daran, uns immer wieder neue Namen zu geben.

Zum Zeitpunkt des im folgenden geschilderten, für den Fortgang meines Daseins höchst schwerwiegenden Intermezzos hatten wir uns wieder einmal umbenannt und hießen nun Der Chef Hat Vier Eier.

Ein Instrument beherrschte keiner von uns, genauso wenig, wie irgendwer über Kenntnisse im Songschreiben verfügte. Aber selbst, wenn das der Fall gewesen wäre, so hätte wohl niemand Lust gehabt, den anderen die erdachte Akkordfolge näherzubringen. Wir hatten noch nicht mal Lust zum Üben.

Unser Repertoire bestand aus zwei geklauten Stücken von Slime und einer trashigen Version des Kufsteinlieds – eine Art Polka, zu der Achmed Vornefett, unser Frontmann, in kurzer Folge immer wieder die Zeilen »Ich bin ein Hengst. Ich brauch’ ’ne Kopfnuß.« ausstieß.

Kein Wunder, daß wir noch kein Konzert gegeben hatten. Aber Konzerte interessierten uns ohnehin nicht. Wir nutzten den Übungsraum ausschließlich zum Trinken und zum Herumexperimentieren mit weichen bis mittelharten Drogen. Wenn Frauen anwesend waren (was hin und wieder vorkam), rissen wir kurz unser Programm ab, nur um im Anschluß daran angeberische Diskussionen anzuzetteln, die uns einen zumindest semi professionellen Anstrich geben sollten.

»Alter, du mußt wirklich ’n bißchen aufs Tempo achten«, mahnte Properski, unser übergewichtiger Gitarrist, den wulstigen Finger anklagend auf Melzer, unseren Baßmann, gerichtet.

»Wenn du beim Spielen nicht ständig furzen würdest, hätte ich auch keine Probleme, den Takt zu halten«, entgegnete Melzer.

Properski konterte mit der ihm eigenen intellektuellen Überlegenheit: »Hätte mein Alter mich gegen die Eisenbahn gespritzt, hätt’ ich was von der Welt geseh’n.«

Es kam einfach gut, in einer Band zu sein.

Und natürlich hätte nichts, aber auch gar nichts dagegen gesprochen, den Status des fidelen Freizeitmusikanten noch eine Zeitlang aufrechtzuerhalten, wenn, ja wenn uns das Schicksal nicht doch einen Auftritt aufs Auge gedrückt hätte. Properski war bei einer seiner Sauftouren einem lokalen Konzertveranstalter begegnet und hatte – durch den Genuß codeinhaltiger Hustentropfen leichtsinnig geworden – große Töne gespuckt. Provoziert durch das ebenso überhebliche wie zweifelnde Gebaren des Kulturmoguls, hatte er am Ende gar behauptet, Der Chef Hat Vier Eier wären nichts anderes als Niedersachsens Antwort auf Black Flag, die kalifornische Hardcore-Legende. Und nun standen wir plötzlich auf einem Plakat, das die einschlägigen Treffpunkte der Stadt dekorierte. In kleiner Schrift zwar und relativ weit unten – aber dennoch unübersehbar: »Der Chef Hat Vier Eier – Deutschlands Antwort auf Black Flag, 26.05., 21 Uhr«.

Jesus, das waren keine vier Wochen mehr.

Natürlich nahmen wir uns vor, dem bandeigenen Uterus noch ein paar Songs abzuringen. Natürlich wollten wir üben, wie wir noch nie geübt hatten. Aber aus unerfindlichen Gründen kam ständig etwas dazwischen. Und am Tag der Entscheidung bestand unser Programm noch immer aus zwei geklauten Stücken von Slime und einer trashigen Version des Kufsteinlieds.

Eins stand fest: Nüchtern würde das zu erwartende Debakel nicht zu überleben sein. Und so überführten wir im Backstageraum zwei Paletten Dosenbier in unseren Blutkreislauf, während Achmed Vornefett uns noch einmal ins Gebet nahm.

»Männer!« sagte er mit getragener Stimme. »Männer, heute erwartet uns unser persönliches Tschernobyl. Machen wir das Beste daraus, versuchen wir, die Erinnerungslücken so groß wie möglich zu halten.« Dann verteilte er an jeden circa drei Gramm in Terpentin eingelegte Psilocybine.

Während ich die bittere Masse der Kraft meines Speichels überantwortete, betrachtete ich noch einmal meine Mitstreiter.

Rein optisch hatten wir uns nichts vorzuwerfen. Melzer trug ein T-Shirt trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Entjungfert durch Margot Honecker«. Achmed Vornefett hatte sich ein halbes Glas Griebenschmalz ins Haar geschmiert. Properski steckte in einer Hose, die so weit geschnitten war, daß man den Arschansatz (das sogenannte Maurerdekolleté) schon sehen konnte, bevor er überhaupt den Versuch einer Hocke unternahm. Ich selbst trug einen alten Lodenmantel meines Vaters, auf den ich mit weißer Airfix-Farbe das Vereinswappen von Traktor Tscheljabinsk gemalt hatte.

Wir waren ohne Zweifel Punkrock. Aber Punkrock war auch das Publikum. Mitbürger mit Vitamin- und Kalziummangel und Hang zu Gewalttätigkeiten; zu fünfundneunzig Prozent männlich, zu achtundneunzig Prozent alkoholisiert.

Gerade machte sich die Meute über vier Halbwüchsige her, die das schwere Los gezogen hatten, den Abend zu eröffnen. Sie nannten sich Zombies Mit Zahnbefall, spielten eine Art Dark Wave und waren hier unüberhörbar fehl am Platz. Begleitet vom Einschlaggewitter der Bierflaschen drangen laute »Aufhör’n! Aufhör’n!«-Rufe an unsere Ohren, und es fiel keinem von uns schwer, die Losung auf sich selbst zu beziehen.

»Scheiße, wir hätten Schnaps kaufen sollen«, stöhnte Properski, während er seine leere Dose gegen eine volle austauschte. »Besser noch Heroin.«

Dann brach der Gothicrock-Ersatz abrupt ab, die vier Juniorsatanisten strömten aufgelöst in den tröstenden Schutz der Backstagemüllhalde, und es war an uns, der reißenden Bestie namens Publikum ein Opfer zu bringen.

»Hey, viel Glück!« rief uns einer der »kariesgeplagten Untoten« hinterher, während er die Platzwunde auf seiner Stirn notdürftig mit einem Handtuch versorgte.

Und dann befanden wir uns auch schon inmitten des Scheiterhaufens, der da gemeinhin als Bühne bezeichnet wird.

»Wir heißen Der Chef Hat Vier Eier. Und wir sind gekommen, euch die Unschuld zurückzugeben!« brüllte Achmed Vornefett ins Mikrophon.

Dann brachten wir das Kufsteinlied, unseren größten, unseren ergreifendsten, ja unseren einzigen Hit.

Soweit ich das hinter den Sichtblenden meines Schlagzeugs beobachten konnte, hielten sich die Flaschenwürfe deutlich in Grenzen, und das war wohl mehr, als wir erwarten konnten. Leider spielten wir noch einen Song. Und leider begannen unterdessen die Pilze zu wirken.

Properski, der eben noch virtuos die Laute gezupft hatte, schmiß das Instrument plötzlich von sich und machte sich mit selig-süßem Gesichtsausdruck daran, seine Klamotten abzustreifen. Nicht auszuschließen, daß er ob des überraschend milden Empfangs seine Umgebung einfach vergessen hatte. Vielleicht wähnte er sich in der Umkleidekabine irgendeines Hallenbades oder auf der Drehscheibe einer Peepshow. Einer Peepshow der besonderen Art, wohlgemerkt! Denn Properski entsprach dem gängigen Schönheitsideal nur bedingt. Er verfügte über ganze Heerscharen von Wülsten und Fettringen – weiches, ausgesucht weißes Fleisch, das er seiner Umwelt nun mit einer Anmut präsentierte, die an kopulierende Orcas denken ließ.

Der Rest der Band schlug sich derweil tapfer mit Slimes »Polizei-SA-SS« herum. Aber was nützt das größte Engagement, wenn ein wichtiger Teil des Ensembles unvermittelt seine exhibitionistische Ader ausleben möchte.

Properski jedenfalls ließ in seinen Bemühungen nicht nach, und noch bevor der Song sein offizielles Ende gefunden hatte, schnupperte sein Fortpflanzungsorgan bereits die lang ersehnte Bühnenatmosphäre. Die Menge begrüßte diesen emanzipatorischen Akt mit lautem Gejohle und Zugaberufen.

Eigentlich hätten wir diesen Moment genießen müssen. Die Sympathien der Massen gehörten eindeutig »dem Chef, in dessen Besitz sich vier Eier befanden«, auch wenn im Scheinwerferlicht nur zwei Eier präsentiert wurden. Aber wir anderen hatten ja nicht minder von den Pilzen genascht, und nur so ist es wohl zu erklären, daß auch Melzer die Arbeit mit einem Mal einstellte und statt dessen unter Zuhilfenahme eines Zippos seinen rotgefärbten Irokesenschnitt in Brand setzte. Eine Aktion, die mich derart aus dem Takt brachte, daß ich mich ebenfalls genötigt sah, mein Tagwerk fürs erste zu beenden.

Einzig Achmed Vornefett, unser tapferer Shouter, ließ sich nicht beirren. Jeglicher Begleitung beraubt, begann er seine Botschaft unverdrossen a cappella zu verbreiten.

»Schmiert euch euer Hirn aufs Brot. Nutella ist braun. Marmelade ist rot«, wetterte er, die linke Hand zur Faust geballt, als wäre Günter Mittag persönlich in seine Seele gefahren.

Ein Text, der mir gänzlich unbekannt war. Ohne Zweifel eine Art früher Freestyle-Rap. Properski begleitete diesen Vortrag, indem er mit zwei Fingern arrhythmisch an seinem Glied zu zupfen begann.

Ich beobachtete dieses Szenario aus der sicheren Perspektive des Schlagwerkers, kam aber nicht dagegen an, daß plötzlich eine Vision von mir Besitz nahm, die uns alle als Jünger Otto Muehls begriff. Herrgott, dies war kein Punkkonzert, dies war eine Performance geistig zerrütteter Kunststudenten, die nichts weniger im Sinn hatten, als die Anwesenden vom zwangsläufigen Scheitern jedweden Forschrittsglaubens zu überzeugen. Auch ich mußte mittun. Auch ich mußte meinen Beitrag leisten.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich einen neuen Rhythmus vorgeben sollte. Irgend etwas Surrealistisches, irgend etwas, das die Thesen eines Georges Bataille vermitteln konnte. Da traf mein Blick auf diesen hünenhaften Skinhead, der sich anschickte, die Bühne zu entern – die Muskeln angespannt, die flache Stirn zornig in Falten gelegt, die Nüstern weit geöffnet. Ganz klar, von den Thesen eines Georges Bataille hatte dieser aufrechte Sportsfreund während seiner aktiven Zeit an der Sigrid-Löffler-Sonderschule für Lernschwache nicht viel vernommen. Er wirkte deutlich verbittert, sah auch nicht gut aus: Der schwielige Schädel und das weiße Fred Perry-Shirt waren unerklärlicherweise klatschnaß. Es hatte den Anschein, als ob er sich zwei Liter Apfelsaft über den Kastenkopf gegossen hätte.

Wie ich später erfuhr, hatte Properski, dem es nicht gelingen wollte, eine anständige Erektion zu erzeugen, dieses Unterfangen irgendwann eingestellt und statt dessen damit begonnen, die ersten Reihen mit dem biergeschwängerten Inhalt seiner sprichwörtlichen Elefantenblase einzudecken.

Die massige Fleischmütze wird wohl direkt unter der Bühne gestanden haben. Jetzt schwang sie sich also ins Rampenlicht, griff sich Properskis verwaisten Mikroständer und öffnete das plombenbeschwerte Maul, um einen markerschütternden Schrei zu formulieren: »Analverkehr! Für alle

Und das war der Moment, in dem ich nicht nur die Band verließ, sondern endgültig beschloß, mich der Poesie zuzuwenden.

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