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3. Der Tod in China
ОглавлениеZhang Guo Fen stammte aus einer der reichsten Familien Sichuans und war das siebte von elf Kindern. Sie hatte die Mittelschule besucht, was für Mädchen ihrer Generation selten war, und ihre Schönheit wurde in ganz Chengdu gepriesen. Es gab viele Gründe, warum sie als eine der besten Partien der Stadt gehandelt wurde.
Im Sommer 1937, eine Woche vor dem Angriff der Japaner auf China, verheiratete ihr Vater sie mit Wang Zhi, dem politisch ambitionierten Sohn einer Kaufmannsfamilie. Obwohl die Ehe arrangiert war, verlief sie glücklich. Wang Zhi, der westlich orientiert war und sich ausnahmslos im Anzug und mit seiner legendären Melone auf dem Kopf in der Öffentlichkeit sehen ließ, liebte seine Frau aufrichtig. Sie lebten in einer großen Villa im Westen der Stadt und bekamen drei Kinder, alles Mädchen. Die Jüngste nannten sie Xiu Zhen. Sie war der Liebling ihres Vaters und durfte als Einzige manchmal seinen Hut aufsetzen. Xiu Zhen war ein fröhliches Kind mit schneeweißer Haut, das seine Eltern fast vergessen ließ, dass sie keinen Sohn hatten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brach in China der offene Bürgerkrieg aus, und Zhi nutzte die turbulenten Zeiten, um eine rasante Karriere innerhalb der Chinesischen Nationalpartei Guomindang zu machen. Der schlanke Mann mit dem absonderlichen Hut war bald eine bekannte Persönlichkeit in der Provinzhauptstadt.
Nach mehreren Jahren erbitterten Kampfs war die Niederlage der Guomindang unabwendbar. Guo Fen schlug vor, mit den abziehenden Truppen nach Taiwan zu fliehen, doch ihr Mann weigerte sich, den Besitz der Familie zurückzulassen. Er rechnete zwar mit Repressalien, vertraute aber darauf, dass er sich mit den siegreichen Kommunisten würde arrangieren können. Ein fataler Irrtum.
Am frühen Morgen des Weihnachtstages 1949 besetzten Maos Truppen Chengdu. Zhi zog einen grauen Anzug an, nahm seinen Hut und setzte sich ins Wohnzimmer, um sein Schicksal zu erwarten. Es war bedrückend still im Haus. Die Dienerschaft hatte sich im Laufe der Nacht in alle Winde zerstreut, nachdem das Gerücht vom bevorstehenden Einmarsch der Kommunisten die Runde gemacht hatte.
Guo Fen kam und servierte ihm Tee. Eine nach der anderen folgten ihre Töchter und setzten sich zu ihnen an den Tisch. Xiu Zhen war noch zu jung, um die Hintergründe zu begreifen, dennoch spürte sie das Bedrohliche der Situation. Sie war ängstlich und still. Als ihr Vater sie auf seinen Schoß zog, weinte sie leise in sich hinein und war nicht zu trösten.
Kurz vor Mittag kamen die Soldaten ins Haus. Ihr Anführer war ein junger Mann mit kaum verständlichem Shanghaier Akzent. Er strahlte die Selbstgerechtigkeit eines Fanatikers aus, und Guo Fen ahnte Böses, als er sich zu Zhis Familie setzte. Während der Mann aus Shanghai schweigend mit Zhis Melone spielte, durchsuchten seine Leute das Haus. Sie waren diszipliniert und rührten weder Geld noch Schmuck an. Als sie dem Anführer meldeten, dass sich keine weiteren Personen im Haus befänden, befahl er seinen Männern, Guo Fen und die Kinder in einem Raum im Obergeschoss einzusperren.
Danach befragte er Zhi ausführlich zu seiner Person und seiner Tätigkeit für die Guomindang. Als Letztes wollte er wissen, ob Zhi seine Mithilfe bei der Unterdrückung und Ausbeutung des chinesischen Volkes bereue. Zhi antwortete, dass es nichts zu bereuen gäbe, weil seine Arbeit stets dem Wohl des Volkes gewidmet gewesen sei. Der Shanghaier lief vor Wut rot an und verkündete, dass Zhi im Namen des chinesischen Volkes zum Tode verurteilt sei.
Zhi bereute zutiefst, dass er nicht auf Guo Fen gehört hatte und mit seiner Familie nach Taiwan geflohen war, doch für Reue war es zu spät. Mit bleichem Gesicht fragte er, was mit seiner Frau und den Kindern geschehen werde. Der Mann teilte ihm mit, dass sein Haus und Vermögen beschlagnahmt seien, seiner Familie jedoch keine weiteren Konsequenzen drohten.
Ein Soldat fesselte Zhi die Hände auf dem Rücken und führte ihn in den Hof. Ihm wurde nicht erlaubt, sich von seinen Angehörigen zu verabschieden. Als das Erschießungskommando sich bereitmachte, trat der Mann aus Shanghai zu Zhi und setzte ihm die Melone auf den Kopf. Über das höhnische Gelächter der Soldaten hinweg hörte Zhi eine hohe Kinderstimme. Auf dem Balkon des Hauses stand ein kleines Mädchen in einem bunten Kleid, die Haare zu zwei seitlich vom Kopf abstehenden Zöpfen geflochten. Das Letzte, was Wang Zhi in seinem Leben sah, waren die angstvoll aufgerissenen Augen seiner Lieblingstochter. Dann trafen ihn die Schüsse, einer davon mitten ins Gesicht. Der Hut wurde ihm vom Kopf gerissen, und sein lebloser Körper schlug auf das graue Pflaster des Hofs.
Die folgenden Jahre brachten große Armut. Guo Fen unterrichtete Chinesisch an einer Grundschule, aber das geringe Gehalt reichte kaum aus, sie alle am Leben zu halten. Erst als die älteste Tochter nach Beijing ging, um dort zu arbeiten, entspannte sich die Lage der Familie ein wenig.
Dann kam die große Hungersnot, die mehr als dreißig Millionen Menschen das Leben kostete. Im Winter des Jahres 1961 erkrankte Guo Fens mittlere Tochter an einer Lungenentzündung. Ihr vom Hunger geschwächter Körper hatte keine Widerstandskraft, sie starb innerhalb weniger Tage.
Von da an konzentrierte Guo Fen ihre Liebe auf Xiu Zhen, die ihr Sorgen bereitete, auch als die Zeiten endlich besser wurden. Aus dem vergnügten Mädchen war eine verschlossene, melancholische Jugendliche geworden, Nacht für Nacht von Alpträumen geplagt, in denen ihr Vater sie mit seinem zertrümmerten Gesicht anstarrte. Sie wünschte sich, dass er mit ihr sprechen würde, doch er blieb stumm.
Mit zwanzig teilte Xiu Zhen sich ein winziges Zimmer mit ihrer Mutter und studierte an der Sichuan-Universität Literatur, mit wenig Begeisterung und gemieden von ihren Mitstudenten, die ihre kühle Ernsthaftigkeit für Hochmut hielten. Sie litt nicht darunter, denn sie blieb gern für sich allein und hatte kein Bedürfnis nach Freundschaften, bis ein folgenschweres Ereignis sie aus ihrer Isolation riss: An einem sonnigen Tag im Frühherbst rempelte sie auf dem Campus versehentlich einen Studenten an, der sich an Ort und Stelle in ihre traurigen Augen verliebte.
Lin Zhi Yuan war einige Jahre älter als sie, extrem schüchtern und dennoch wild entschlossen, sie für sich zu gewinnen. Zwei Wochen lang folgte der schlanke Mann mit der runden Brille ihr wie ein stummer Schatten, bis er sich endlich traute, Xiu Zhen anzusprechen. Sein scheues Lächeln gefiel ihr, die klugen Worte und seine angenehme Stimme machte sie neugierig genug, um ihn vorsichtig zu ermutigen, und so begann Zhi Yuan auf eine altmodische, unbeholfene Weise um sie zu werben. Er brauchte Hartnäckigkeit und viel Wärme, bis das Eis um ihr Herz endlich schmolz, doch zum Frühlingsbeginn hatte er sein Ziel erreicht und Xiu Zhen war zum ersten Mal verliebt.
Mit der Liebe schwappte das Glück wie eine mächtige Woge in Xiu Zhens Leben und spülte ihre Sorgen fort. Sogar die Träume von ihrem Vater wurden selten, wenn sie auch niemals ganz aufhörten. Als Zhi Yuan im Herbst fragte, ob sie ihn heiraten wollte, zögerte sie keine Sekunde, denn sie wusste, dass sie den Mann fürs Leben gefunden hatte. Es kam sogar noch besser: Zhi Yuans älterer Bruder hatte sich illegal nach Hongkong abgesetzt, und sie konnten mit viel Glück seine Wohnung übernehmen - ein unerhörter Luxus für ein junges Paar. Xiu Zhen war bodenlos glücklich. Dann begann die Kulturevolution.
Nach Abschluss seines Studiums bekam Zhi Yuan eine Stelle als Geschichtslehrer an der Universität; eine schwierige Position in diesen wirren Zeiten, denn was er in der einen Woche lehren musste, konnte in der nächsten bereits als Verbreitung reaktionären Gedankenguts ausgelegt werden.
Eines Tages stürmte ein aufgeheizter Mob ihre Wohnung und zwang Zhi Yuan mit Schlägen und Misshandlungen zu unsinnigen Geständnissen. Xiu Zhen flehte ihn an, die Demütigungen um ihretwillen hinzunehmen, denn sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, nach ihrem Vater auch den Ehemann wegen seiner Unbeugsamkeit zu verlieren.
Im Dezember 1969 verschärfte sich die Lage noch: Es sprach sich herum, dass Zhi Yuans Bruder nach Hongkong geflohen war, und nun befürchtete er, dass dieses schwere Verbrechen auch einen Schatten auf ihn werfen könnte. Im gleichen Monat stellte Xiu Zhen fest, dass sie schwanger war. Obwohl sie ihre Freude gern mit ihrem Mann geteilt hätte, beschloss sie, die Neuigkeit vorerst für sich zu behalten, bis die Situation sich beruhigt hatte.
Wenige Wochen später wurde Zhi Yuan in die Universität vorgeladen. Xiu Zhen wartete bis zum Abend auf seine Rückkehr, dann hielt sie die Ungewissheit nicht länger aus und machte sich bei strömendem Regen auf den Weg. Als sie den vertrauten Campus erreichte, blieb sie ratlos stehen. Wieder und wieder rief sie Zhi Yuans Namen, bis schließlich ein Kollege ihres Mannes aus einem der Gebäude auf sie zukam. Er flüsterte ihr etwas zu, dann drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten davon.
Ihre Beine versagten, sie sackte zu Boden. Der kalte Regen durchtränkte Xiu Zhen, während sie zusammengekrümmt in einer Pfütze lag und alle verbliebenen Tränen unaufhaltsam aus ihr herausflossen. Zhi Yuan war tot.
Nach offizieller Version hatte er einen Herzinfarkt erlitten; trotzdem verweigerten die Behörden Xiu Zhen die Erlaubnis, den Leichnam zu sehen. Da sie den eigensinnigen Charakter ihres Mannes kannte, blieb sie den Rest ihres Lebens davon überzeugt, dass man ihn während des Verhörs totgeschlagen hatte.
Xiu Zhen zog zurück in das kleine, feuchte Zimmer ihrer Mutter. Ihre Schwangerschaft verheimlichte sie so lange wie möglich, weil sie befürchtete, dass man sie zu einer Abtreibung zwingen könnte. Im Juli brachte sie ein Mädchen zur Welt, das sie Xue Lian nannte.
„In China haben Vornamen eine Bedeutung. Oft verraten sie, was Eltern sich für ihre Kinder wünschen.“
Xue Lian hob ihren Kopf von Pauls Brust und sah ihn an.
„Erinnerst du dich noch an unser Gespräch über die Schönheit weißer Blüten? Ich habe damals eine Blume erwähnt.“
„Schneelotus.“
„Genau. Er hat eine besondere Bedeutung für mich, weil es mein Name ist: Xue Lian bedeutet übersetzt Schneelotus. Es ist eine einsame Pflanze, die unter härtesten Bedingungen erblüht, weit oben in den Bergen von Tibet, inmitten von Eis und Schnee. Sie ist sehr selten und schwer zu finden. Schneelotus ist stark, zäh und schön. Im alten China glaubte man, dass man damit Vergiftungen heilen konnte.“
Ab 1976 wurde das Leben in China erträglicher. Xiu Zhen setzte die Rehabilitation ihres Mannes durch und begann, als Mittelschullehrerin zu arbeiten. Die ,Zehn Schlimmen Jahre‘ lagen hinter den Chinesen wie ein Alptraum, aus dem sie endlich erwacht waren, dennoch wurde Xiu Zhen nicht glücklich. Sie litt unter Depressionen, und nur die Liebe zu ihrer Tochter hielt sie aufrecht.
Als Xue Lian älter wurde, stellte sie Fragen über ihren Vater und Großvater, aber sie erhielt nur ausweichende Antworten. Ihre Mutter weigerte sich, jemals mit ihr über Politik zu sprechen. An ihrem fünfzehnten Geburtstag schenkte Xiu Zhen ihrer Tochter ein altes Foto, und ihr geheimnisvoller Vater bekam endlich ein Gesicht.
Xue Lian beendete die Schule mit hervorragenden Noten und nahm im Herbst 1988 ein Englischstudium an der Beijing-Universität auf. In der Hauptstadt begann für sie ein neues, aufregendes Leben. Sie freundete sich mit einem Mädchen namens Liu Chen an, das auch aus Sichuan stammte und mit ihr und vier anderen ein Zimmer im Wohnheim teilte. Über Chen lernte sie eine Gruppe älterer Studenten kennen, deren Wortführer ein intelligenter junger Mann mit breitem Kreuz und neugierigen Augen war. Viele der Studentinnen himmelten Li Jun an, aber Chen verriet Xue Lian, dass er keine Freundin hatte und sein Ruf als Frauenheld unbegründet war.
An einem klaren Herbsttag radelte sie mit einer Gruppe Studenten zum Sommerpalast, um ein letztes Picknick zu veranstalten, bevor der Winter hereinbrach. Sie setzten sich ans Ufer des Sees, tranken Tee, aßen kalte Nudeln und genossen die Aussicht, bis von Nordwesten ein eisiger Wind aufkam, der das Laub von den Bäumen fegte und in Böen durch den Park trieb.
Als Xue Lian ihre Decke einrollte, um wie alle anderen aufzubrechen, kam Li Jun zu ihr herüber und fragte, ob sie noch einen Spaziergang mit ihm machen wollte. Sie bekam vor Aufregung kein Wort heraus, denn Li Jun hatte sie bisher nie beachtet. Sie konnte nicht ahnen, dass er nachts nicht mehr schlief, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. In seinem Mundwinkel hing ein Zahnstocher, was Xue Lian ausgesprochen lässig fand, obwohl er nur darauf herumkaute, um seine Nervosität zu überspielen. Es hatte Wochen gedauert, bis er endlich den Mut fand, das schöne Mädchen aus Chengdu anzusprechen.
Xue Lian war noch nie mit einem Mann allein gewesen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Li Jun ging es nicht anders, und um seine Verlegenheit zu verbergen, sprach er von Politik, während sie am Seeufer entlanggingen. Xue Lian begriff nicht viel von seiner Analyse der chinesischen Gesellschaft, aber sie hörte ihm interessiert zu. Als sie eine kleine bucklige Brücke überquerten, zerwühlte ein starker Windstoß ihre Haare, und Li Jun brach seinen Vortrag mitten im Satz ab. Er nahm den Zahnstocher aus dem Mund und ließ ihn fallen, bevor er ihr zaghaft eine Strähne aus dem Gesicht strich. Xue Lian stand unbeweglich da, und es gefiel ihr, wie seine Fingerspitzen ihre Wange berührten. Es hätte ihr auch gefallen, wenn er sie geküsst hätte, aber das tat er nicht.
Nach dem Picknick im Sommerpalast sahen sie sich fast jeden Tag. Li Jun war so aufmerksam und sensibel, wie sie es sich von einem Mann nur wünschen konnte: Er nahm sie ernst und gab ihr das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein.
In ihren Schlafräumen oder auf dem belebten Campus hatten sie nicht die Möglichkeit, ungestört zusammen zu sein. Ihr einziger Ausweg waren lange Spaziergänge im eiskalten nordchinesischen Winter. An einem verschneiten Abend im Dezember legte Li Jun im Schatten eines Baums endlich seine Arme um sie. Obwohl sein Kuss unbeholfen war, genoss sie ihn.
Von nun an waren Li Jun und sie eins der Paare, die sich heimlich in einsamen Parks und an dunklen Straßenecken küssten und sich ewige Liebe schworen. Eines Tages legte Li Jun dabei seine Hand auf ihre Brust, und ein warmes Ziehen ging durch ihren Unterleib. Er nahm seinen Mut zusammen und gestand ihr, dass er mit ihr schlafen wolle.
„Das war eine unerhörte Sache“, erklärte Xue Lian. „Ich war achtzehn Jahre alt und kannte ihn gerade ein paar Monate. Völlig undenkbar.“
Sie schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an diesen längst vergangenen Tag im weit entfernten China. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Natürlich habe ich die Empörte gespielt. Li Jun konnte mir nicht mehr in die Augen sehen, und wir sprachen kein einziges Wort, als wir zur Uni zurückfuhren.“
„Hat er dich später noch einmal darauf angesprochen?“, fragte Paul.
„Nein. Er hat sich nicht einmal mehr getraut, mich anzufassen. Es lag bei mir.“
Paul sah sie an und versuchte sich Xue Lian als achtzehnjähriges Mädchen vorzustellen. Es war nicht einfach.
„Selbst wenn wir gewollt hätten, wo hätten wir es machen sollen? In unseren Zimmern schliefen wir zu sechst, und einfach in ein Hotelzimmer zu gehen, war damals nicht möglich.“
„Ihr habt es trotzdem getan?“
„Es reizte mich. Ich war schrecklich verliebt und wollte es ausprobieren. Kurz vor dem Ende des Semesters habe ich Li Jun gefragt, ob er die ersten Tage der Neujahrsferien noch mit mir in der Uni bleiben wolle, statt sofort nach Hause zu fahren. Dann seien die Zimmer leer und wir hätten unsere Ruhe. Er fiel aus allen Wolken, aber überreden musste ich ihn nicht. Ich schrieb meiner Mutter, dass ich zwei Tage später kommen würde, und dachte mir eine absurde Geschichte als Begründung aus.
Als es soweit war und die Studenten in Scharen die Uni verließen, sind Li Jun und ich wie Diebe durch die stillen Gänge geschlichen und haben versucht, nicht aufzufallen. Ich kann nicht sagen, ob ich mehr Angst vor dem ersten Mal hatte oder vor der Gefahr, dabei erwischt zu werden und von der Uni zu fliegen.
Dann war es soweit: Li Jun und ich standen uns in meinem Zimmer gegenüber und waren vor Aufregung wie gelähmt. Ich schloss die Tür ab, und wir zogen uns aus. Statt uns anzusehen, als wir zum ersten Mal nackt voreinander standen, schlüpften wir unverzüglich unter die Decke. Wir waren beide nervös und wussten nicht genau, was wir tun sollten. Ich fand es schön, in seinen Armen zu liegen und mich an ihn zu schmiegen, aber als es richtig losging, war es auch schon vorbei. Er kam schneller, als ich den Schreck überwinden konnte, dass es weh tat. Am nächsten Tag haben wir es noch zweimal gemacht, doch es war nicht wesentlich besser. Trotzdem war ich nicht enttäuscht. Li Jun gab sich Mühe und war sehr lieb zu mir. Außerdem habe ich mich danach wie eine richtige Frau gefühlt.“
Nach dem Ende der Semesterferien und ihrer Rückkehr aus Chengdu entwickelten sich die Dinge in rasender Geschwindigkeit. Die Beijing-Universität war immer eine Brutstätte politischer Ideen gewesen, und auch in diesem Frühling stellten sich ihre Studenten an die Spitze der Bewegung, die das Land verändern wollte.
Mitte April begannen die Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Xue Lian war vom ersten Tag an dabei und verbrachte mehr Zeit auf dem Tiananmen als in der Universität. Wenn sie später an diese Wochen zurückdachte, kamen sie ihr unwirklich vor wie ein Fiebertraum.
Die Zahl der Menschen auf dem Platz schwoll mit jedem Tag an, Arbeiter und Angestellte kamen hinzu. Als der anfängliche Schwung verloren ging, begannen mehrere hundert Studenten einen Hungerstreik, und Li Jun war einer von ihnen. Für Xue Lian war er ein Held, sie liebte ihn mehr als je zuvor.
Gorbatschow kam auf Staatsbesuch, und mit einem Mal waren überall Kameras, die den Demonstranten Gelegenheit zur Selbstdarstellung boten. Eine Aufnahme ging um die Welt, auf der einer der Hungerstreikenden und seine ausnehmend schöne Freundin zwei Finger zum Siegeszeichen erhoben hatten.
„Willst du das Foto sehen?“, fragte Xue Lian.
„Hast du es hier?“
„Selbstverständlich.“
Sie ging ins Wohnzimmer und kramte in einer Kommode. Als sie wiederkam, hielt sie einen gerahmten Zeitungsausschnitt in der Hand, den sie Paul reichte. Das Mädchen auf dem Bild hatte halblange Haare, war sehr jung und tatsächlich ausnehmend schön.
„Das bist du!“
„Ja.“
„Dann ist der junge Mann neben dir Li Jun?“
Sie nickte, und Paul musterte ihn genauer. Er trug ein weißes Band mit roten Zeichen um die Stirn und wirkte müde. Sein Gesicht war eckig, mit kräftigem Kiefer und einer breiten Nase, die Augen strahlten grenzenlosen Optimismus aus.
„Er sieht gut aus.“
„Ja“, bestätigte sie. „Er sah sehr gut aus.“
„Warum hängst du es nicht auf?“
„Weil es Dinge gibt, die man nicht konservieren kann. Ich habe dieses Foto seit Ewigkeiten nicht angesehen.“
„Es würde dich täglich an ihn erinnern“, beharrte er.
„Eben. Li Jun hat seinen Platz in meinem Herzen, und damit ist es genug. Mit manchen Dingen muss man abschließen, damit das Leben weitergehen kann.“
Als die Regierung das Kriegsrecht ausrief, wuchs die Anspannung unter den Studenten. In der Nacht des vorletzten Maitags errichteten sie eine zehn Meter hohe Skulptur auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Sie nannten sie die ,Göttin der Demokratie‘, tatsächlich war es eine chinesische Version der Freiheitsstatue. Xue Lian hatte eine beklemmende Vorahnung, als sie beim Aufbau zusah: Sie fürchtete, dass die Studenten für diese Provokation teuer würden bezahlen müssen, aber als die nächsten Tage ruhig blieben, verlor sich ihre Angst in der allgemeinen Euphorie.
„Dann kam der 4. Juni. Wir hatten bereits den ganzen Tag auf dem Platz verbracht. Als es hieß, dass die Armee von Westen in die Stadt einmarschierte, gingen wir ihr entgegen, um beim Bau von Barrikaden zu helfen. Als wir auf Soldaten trafen, wollten wir mit ihnen reden, aber sie schossen Tränengas und Gummigeschosse, bis wir uns zurückzogen. Wir sammelten uns ein Stück weiter hinten, und bildeten eine Menschenmauer. Diesmal schossen sie scharf auf uns. Auf ihr eigenes Volk.“
Xue Lian unterbrach ihre Erzählung und schloss die Augen. Paul streichelte über ihr Haar und bat sie, sich Zeit zu lassen.
„Neben mir brachen Menschen zusammen. Alle schrien durcheinander, es gab Tote und Verletzte. Wir rannten zur Muxudibrücke, um uns zu neu zu formieren. Ich hatte schreckliche Angst und weinte, aber es waren Tränen der Wut. Sie schossen auf mich, meine Freunde und alles, woran wir glaubten.
Viele Menschen starben, als sie die Brücke räumten. Ich wollte nur noch weg, ganz weit weg. Dann stand plötzlich Li Jun neben mir und nahm meine Hand. Er hatte mich in dem Chaos wiedergefunden und ließ meine Hand nicht mehr los, bis zum Ende.“
Xue Lian starrte an die Decke. Die Erinnerung war auch nach zehn Jahren so deutlich, dass sie alles vor sich sah.
„Neben uns wurde ein Soldat von einem Ziegelstein getroffen. Er dachte, dass Li Jun den Stein geworfen hatte, legte sein Gewehr an und schoss auf ihn.“
„Er hat auf ihn geschossen?“, fragte Paul entsetzt.
„Ja. Li Jun ließ meine Hand los und stürzte auf die Straße. Ich warf mich neben ihn und sah die Angst in seinen Augen: Angst um mich und Angst vor dem Sterben. Lauf weg, sagte er, und aus seinem Mund lief Blut. Dann war er tot.“
Xue Lians Selbstbeherrschung war erschreckend. Ihre Stimme war leise und angespannt, doch sie weinte keine Träne.
„Jemand schrie mich an. Als ich hochsah, stand der Soldat über mir. Er hielt mir den Gewehrlauf vor das Gesicht. Ich verfluchte ihn und hoffte, er würde abdrücken. Stattdessen trat er mich mit seinen Stiefeln. Als ich mich erheben wollte, trat er noch einmal zu. Ich kroch auf allen vieren davon. In einem Hauseingang stand eine Frau, sie nahm mich mit in ihre Wohnung. Sie dachte, ich sei verletzt, weil ich über und über mit Li Juns Blut beschmiert war.
Die Frau versteckte mich, weil es hieß, dass die Soldaten flüchtende Demonstranten erschossen. Li Juns Leiche habe ich nicht mehr gesehen.
Xue Lian erwachte am späten Vormittag des 4. Juni, und sofort kamen die Bilder der vergangenen Nacht zurück, die Schreie der Verletzten und Sterbenden. Sie musste wissen, wie es in der Stadt aussah und verabschiedete sich voller Dankbarkeit von ihrer Retterin.
Obwohl viele Menschen auf den Straßen waren, lag eine gespenstische Stille über der Stadt. Die Stille eines Friedhofs, dachte Xue Lian. Niemand in Beijing schien zu sprechen, weil es nichts mehr zu sagen gab. Der Traum von Demokratie und einem Neuen China war ausgeträumt.
Xue Lian irrte wie in Trance durch die Stadt, eine dämpfende Watteschicht hatte sich zwischen sie und die Realität geschoben. Erst als es am späten Nachmittag zu regnen anfing, machte sie sich müde und abgestumpft auf den langen Weg zum Campus der Beijing-Universität.
Keiner ihrer Freunde war dort, als sie in den Schlafraum kam. Xue Lian legte sich auf ihr Bett und wartete apathisch darauf, dass jemand erschien und sie verhaftete. Sie fürchtete sich nicht. Ihre Gedanken waren bei Li Jun, und Li Jun war tot.
Niemand kam, um sie zu verhaften. Sie war eine Mitläuferin gewesen, und da Millionen an den Protesten teilgenommen hatten, konnte die Regierung nicht alle inhaftieren. Xue Lian musste selbst entscheiden, was als Nächstes geschehen sollte. Als die Enge des Raumes sie am nächsten Morgen zu ersticken drohte, stieg sie auf ihr Fahrrad und fuhr zum Sommerpalast.
Gegen Mittag zerriss endlich der Schleier, der sich nach Li Juns Tod über sie gelegt hatte. Sie war auf dem Weg zum Tiananmen, als ihr auf der Straße des Ewigen Friedens eine Kolonne schwerer Kampfpanzer entgegenkam, deren Rumpeln den Boden unter ihren Füßen vibrieren ließ. Plötzlich sprang ein junger Mann auf die Fahrbahn und blockierte den Weg. Der Unbekannte wirkte winzig vor den riesigen Kampfmaschinen. Der Kommandant des ersten Panzers versuchte ihn zu umfahren, aber der Mann folgte den Bewegungen des Fahrzeugs mit entschlossenen Schritten. Die Motoren der Panzer erstarben, und eine bedrohliche Stille senkte sich über die breite Straße.
Xue Lian blieb fast das Herz stehen, als der Mann über die Kette auf den ersten Panzer kletterte. Ein Schuss krachte, aber er rührte sich nicht, bis er nach einer Weile wieder herunterstieg. Der Panzerkommandant ließ den Motor wieder an, doch als der Mann sein lebensgefährliches Spiel fortsetzen wollte, liefen einige Männer auf die Straße und zerrten den Unbekannten beiseite. Dann erst setzten die Panzer ihren Weg fort.
Xue Lian war unbändig stolz: Die heldenhafte, wenn auch sinnlose Tat eines namenlosen Mannes hatte dem Widerstand ihres Volkes ein Gesicht gegeben. Seine Kühnheit würde sich als Symbol für den Mut und die Unbeugsamkeit der Chinesen in die Erinnerung der Welt eingraben. Vielleicht waren die Opfer und das vergossene Blut nicht umsonst gewesen.
Nach einigen Tagen gelang es Xue Lian, auf dem Schwarzmarkt eine Bahnfahrkarte nach Chengdu zu ergattern, und sie verließ Beijing für immer. Am Abend des nächsten Tages war sie zu Hause. Als sie die Wohnungstür öffnete, saßen ihre Mutter und Großmutter beim Abendessen. Xiu Zhen erschrak, als ihre Tochter so unerwartet erschien.
„Was ist passiert?“, rief sie.
„Wisst ihr es denn nicht?“
Die Frauen hörten entgeistert zu, als Xue Lian in stockenden Worten von den Ereignissen in Beijing berichtete. Sie hatten keine Vorstellung vom Ausmaß der Tragödie gehabt. Im Fernsehen und in den Zeitungen war von einer gewaltlosen Räumung des Tiananmen die Rede gewesen.
In der Nacht lag Xue Lian neben ihrer Mutter im Bett und erzählte von ihrer Liebe zu Li Jun und seinem Tod. Sie erwartete Vorwürfe, aber Xiu Zhen nahm ihre weinende Tochter bloß fest in die Arme, als wäre sie wieder ihr kleines Mädchen.
Am nächsten Morgen saßen sie zusammen am Frühstückstisch und tranken Tee. Xue Lians Großmutter war zum Einkaufen auf den Markt gegangen. Xiu Zhen strich ihrer Tochter über das Haar und sah sie ernsthaft an.
„Ich habe dir vieles zu erzählen“, sagte sie. „Von deinem Vater, und auch von meinem. Davon, was dieses Land unserer Familie angetan hat.“
Dann erzählte sie ihrer Tochter die Geschichte ihres Lebens. Sie ließ nichts aus.
„Warum hast du nicht früher mit mir darüber gesprochen?“, fragte Xue Lian, als ihre Mutter geendet hatte.
„Weil ich dich nicht damit belasten wollte. Ich hatte gehofft, dass die bösen Zeiten hinter uns liegen und du eine bessere Zukunft haben wirst. Aber jetzt wiederholt sich alles, und das Unheil kommt auch über meine Lian Lian.“
Sie trank einen Schluck Tee, bevor sie weitersprach.
„Solange diese Verbrecher unser Land regieren, wird es für unsere Familie kein Glück und keinen Frieden geben. Du wirst China verlassen.“
„Was?“, rief Xue Lian.
„Du musst aus diesem Land fortgehen, in dem du niemals sicher sein wirst.“
„Nein, Mama“, protestierte sie. „Ich kann dich nicht allein lassen!“
„Sie haben mein Leben zerstört und auch das deiner Großmutter. Ich werde nicht zulassen, dass mit dir das Gleiche geschieht. Du wirst tun, was ich sage.“
Sie nahm Xue Lians Hände und sah ihr in die Augen.
„Versprich mir, dass du China verlassen und niemals zurückkehren wirst.“
Xue Lian fügte sich. Die Trauer um Li Jun hatte sie ausgehöhlt. Sie besaß keine Kraft mehr, sich den Plänen ihrer Mutter zu widersetzen.
Es war zu dieser Zeit fast unmöglich, aus China auszureisen, aber Xiu Zhen verfügte über eine Trumpfkarte: den Bruder ihres Manns in Hongkong. Lin Jian Guo war leitender Angestellter einer Im- und Exportfirma mit ausgezeichneten Kontakten nach Beijing. Sie schrieb ihrem Schwager einen Brief und flehte ihn im Namen seines toten Bruders an, Xue Lian zu helfen. Jian Guo war überrascht von ihrer Bitte, versprach jedoch, sein Bestes zu tun. Er kontaktierte seine Geschäftspartner in Beijing und gab ihnen zu verstehen, dass er kinderlos sei und deshalb die Tochter seines verstorbenen Bruders zu sich nehmen wolle. Zwei Monate später erhielt Jian Guo Bescheid, dass man Xue Lian überprüft habe und eine Ausreise möglich sei. An einem verregneten Tag im Frühwinter erhielt Xue Lian ihre Papiere und die Genehmigung, nach Hongkong auszureisen.
Am Abend vor ihrer Abreise wusste Xue Lian nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Ihre Großmutter hatte zur Feier des Tages ihr Lieblingsgericht Jiaozi zubereitet, aber sie hatte keinen Appetit und bekam kaum eine der leckeren Teigtaschen hinunter. Später, als ihre Großmutter längst im Bett lag und sie den Abwasch erledigt hatte, setzte ihre Mutter sich zu ihr an den Küchentisch.
„Es gibt ein paar Dinge, die ich dir sagen möchte. Hör mir bitte gut zu“, begann Xiu Zhen und legte eine Pause ein, bevor sie eindringlich weitersprach. „Ehre mich und deine Großmutter, indem du ein gutes und glückliches Leben führst. Beweise, dass ich den richtigen Namen für dich gewählt habe. Sei hart und stark, lass dich niemals unterkriegen. Es ist richtig, dass du um Li Jun trauerst, aber irgendwann musst du ihn loslassen. Du musst stärker sein als jeder Verlust. Du bist jung, und dein Leben liegt noch vor dir. Für mich war es anders, weil ich Zhi Yuans Kind in mir trug. Kinder sind das Wichtigste im Leben.“
Xue Lian dachte lange über die Worte ihrer Mutter nach, als sie ein letztes Mal im Bett neben ihr lag und keinen Schlaf fand.
Als sie sich am nächsten Tag auf dem weiten Bahnhofsvorplatz gegenüberstanden, war Xue Lians Kehle so eng, dass sie kaum Luft bekam.
„Ab jetzt musst du deinen Weg allein gehen“, sagte Xiu Zhen. „Du bist der Sonnenschein in meinem Leben und wirst es immer sein. Ganz gleich, wo du bist und was du tust: Ich werde dich lieben und bei dir sein. Denk daran, wenn du dich einsam fühlst. Du wirst niemals allein sein.“
Zwei winzige Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie sich von ihrer Tochter verabschiedete. Es war das erste Mal, dass Xue Lian ihre Mutter weinen sah. Xiu Zhen drehte sich um und ging mit hängenden Schultern davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Xue Lian ahnte, dass sie ihre Mutter nicht wiedersehen würde.
Der Zug fuhr in die Hunghom-Station in Kowloon ein. Xue Lian ergriff die beiden Taschen mit ihrer gesamten Habe und stieg hinab auf den Bahnsteig, an dessen Ende ein chinesisches Paar stand und eine Tafel mit ihrem Namen in die Höhe hielt. Xue Lian nahm ihren Mut zusammen und trat auf sie zu. Beide umarmten sie zur Begrüßung, und die Herzlichkeit ihrer Verwandten nahm eine schwere Last von ihr.
Sie fuhren mit dem Auto hinüber nach Hongkong Island und parkten vor einem der vielen Wolkenkratzer. Die hochmodern eingerichtete Wohnung, in der Xue Lian in Zukunft mit ihrem Onkel und ihrer Tante leben würde, befand sich im sechsundzwanzigsten Stock und bot eine weite Aussicht über den Hafen. Sie bekam ein Zimmer für sich allein, das erste Mal in ihrem Leben, noch dazu mit eigenem Fernseher und einer Stereoanlage. Es war Xue Lians Ankunft im Wunderland.