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4. Zu neuen Ufern
ОглавлениеMit Jian Guos Hilfe fand Xue Lian schnell Arbeit bei einem international operierenden Kunst- und Antiquitätenhändler. Benny Cheung war ein Freund ihres Onkels und bereit, sie als Mädchen für alles einzustellen. Sie lernte viel, und die Arbeit machte ihr Spaß.
Knapp zwei Monate nach ihrer Ankunft in Hongkong erreichte sie ein Brief ihrer Großmutter aus Chengdu: Ihre Mutter war tot. Nach Xue Lians Abreise hatte ihre Depressionen sie wieder eingeholt. Als sie sicher sein konnte, dass es ihrer Tochter gut ging, war Xiu Zhen in einer sternenklaren Nacht auf das Gelände der Sichuan-Universität geschlichen und hatte sich am Ast eines alten Baums erhängt, nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie fast zwanzig Jahre zuvor vom Tod ihres Manns erfahren hatte.
Obwohl sie vor Trauer wie gelähmt war, erschien Xue Lian am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit. Es war ihre Pflicht, Xiu Zhens Traum zu erfüllen.
Bald darauf erfuhr sie, dass auch ihre Großmutter gestorben war. Der Tod ihrer Tochter hatte ihr jeden Lebenswillen geraubt. Nachdem sie den Brief an ihre Enkelin geschrieben hatte, legte sie sich ins Bett und stand nicht wieder auf.
Xue Lian war am Boden zerstört. Sie hatte alle Menschen verloren, die sie in China geliebt hatte: erst Li Jun, dann ihre Mutter und nun auch ihre Großmutter. Verzweiflung senkte sich wie ein schwarzes Tuch über sie und drohte sie zu ersticken. Ihre Tante kümmerte sich rührend um sie und bemühte sich, Xue Lians Lebensmut zu stärken. Sie half ihr zu erkennen, dass sie nicht für den Tod ihrer Mutter verantwortlich war, sondern im Gegenteil Xiu Zhens Dasein zwanzig Jahre lang einen Sinn gegeben hatte. Und wie schon nach Li Juns Tod gelang es Xue Lian, die Trauer in ihrem Inneren zu verschließen.
Sie stürzte sich in die Arbeit und begann in ihrer Freizeit Bücher über Kunst und Kunstgeschichte zu lesen, um ihre Kenntnisse zu verbessern. Ihr Eifer entging Benny nicht, und er sorgte dafür, dass sie mehr Verantwortung übernahm und Einblicke in die Geschäftsführung nehmen konnte. Wenn die Einsamkeit doch einmal über Xue Lian hereinbrach, dachte sie an die Worte ihrer Mutter und vertraute darauf, dass sie ihr beistand.
Langsam kehrte die Freude in ihr Leben zurück, und sie fand Freunde, mit denen sie sich in Hongkongs Nachtleben stürzte. Dabei lernte sie Ricky Woo kennen, mit dem sie sich auf ein flüchtiges Abenteuer einließ. Die Beziehung währte nicht einmal zwei Monate, dann trennte Xue Lian sich leichten Herzens wieder von ihm. Im Laufe der nächsten fünf Jahren gewöhnte sie sich daran, dass es keinen Mann in ihrem Leben gab. Unglücklich war sie deshalb nicht.
Im Sommer 1995 lud Benny Cheung sie eines Abends überraschend zum Essen ein. Ihr war nicht entgangen, dass ihr Boss sie auf der Arbeit genau im Auge behielt, und sie fragte sich, ob er Pläne für sie hatte. Sie kannte inzwischen das Geschäft und war längst nicht mehr das unbedarfte Mädchen, das er vor Jahren eingestellt hatte. Benny hatte sie häufig vor heikle Aufgaben gestellt, und Xue Lian hatte ihn nie enttäuscht. Er traute ihr viel zu, und was noch wichtiger war: er vertraute ihr.
In einem französischen Restaurant hoch über dem nächtlichen Hafen aßen sie Hummer und tranken Champagner. Nach dem Essen zündete Benny sich eine Zigarre an und fragte unumwunden, ob sie Interesse habe, in Malaysia eine Dependance seines Hauses aufzubauen.
Xue Lian war sprachlos. Bennys Vorschlag übertraf ihre Erwartungen bei weitem. Sie war gerade erst fünfundzwanzig geworden und außerdem eine Frau, was in der chinesischen Gesellschaft nicht die beste Voraussetzung für eine steile Karriere war. Ohne lange zu überlegen, sagte sie zu.
Bennys Angebot war ein Geschenk des Himmels. Xue Lian wollte nicht mehr in der Stadt sein, wenn die Engländer Hongkong in zwei Jahren an die Volksrepublik zurückgaben; ihr Hass auf Li Juns Mörder und ihre Angst vor ihnen waren zu groß.
Als der Herbst kam und die ersten Taifune über Hongkong hinwegfegten, brachten ihr Onkel und ihre Tante sie zum Flughafen. Es war es nicht leicht für Xue Lian, ihre einzigen noch lebenden Verwandten zu verlassen, aber hinter ihr lagen schmerzlichere Abschiede. Diesmal war es keine endgültige Trennung, denn Jian Guo und seine Frau konnten sie jederzeit in Malaysia besuchen kommen.
Xue Lian lebte sich schnell in Kuala Lumpur ein. Sowohl mit dem feuchtheißen Tropenklima als auch den Menschen, von denen neben Malaien und Indern viele chinesischer Abstammung waren, kam sie gut zurecht. Das Leben in Malaysia war bunter und vielfältiger, als sie es sich in China jemals hatte träumen lassen.
Die von Benny Cheung angemieteten Räume befanden sich im sogenannten Goldenen Dreieck, dem modernen Geschäftszentrum der malaysischen Hauptstadt. Aus dem Fenster ihres Büros konnte Xue Lian die Baustelle sehen, auf der die Malaysier die Petronas Towers errichteten, das höchste Gebäude der Welt. Mit dem gleichen Ehrgeiz wie deren Erbauer stürzte sie sich in ihre Aufgabe und störte sich nicht daran, jeden Tag bis zu achtzehn Stunden in ihrem Büro zu verbringen. Innerhalb eines Jahres war das Geschäft etabliert, und Benny geizte weder mit Lob noch mit finanzieller Anerkennung. Xue Lian war erfolgreich, aber ihre Mutter hatte sie gelehrt, dem Glück zu misstrauen.
Xue Lian machte eine Pause, und Paul nutzte ihr Schweigen, um in die Küche zu gehen und den Aschenbecher auszuleeren. Als er an der offenen Wohnzimmertür vorbeikam, fiel sein Blick auf das große Foto an der Wand: Der Mann vor den Panzern. Nun wusste Paul wieder, wo es aufgenommen worden war, und er verstand auch, warum Xue Lian es aufgehängt hatte.
„Willst du den Rest der Geschichte auch noch hören, oder bist du zu müde?“, fragte sie, als er zurück ins Schlafzimmer kam.
„Ich bin nicht müde.“
Sie war ruhiger, seit sie nicht mehr von China erzählte, anscheinend lag der fürchterlichste Teil der Geschichte hinter ihr. Paul bewunderte die Würde und Fassung, mit denen sie von den Härten ihres Lebens erzählte.
„Obwohl die Arbeit mir wenig Zeit ließ, lernte ich einen Mann kennen, einen chinesischen Malaysier. Es war keine Liebe, aber ich war allein in Kuala Lumpur, und wir verstanden uns gut. Nach einigen Wochen sind wir miteinander ins Bett gegangen. Es war nicht berauschend, aber er war der erste Mann, bei dem ich wenigstens gelegentlich einen Orgasmus hatte.“
Sie lächelte schief.
„Nach ein paar Monaten veränderte sich unsere Beziehung. Er bemühte sich weniger um mich, stattdessen führte er sich extrem eifersüchtig auf. Er wollte mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte, als wäre ich sein Eigentum. Das war das Ende, ich verließ ihn. Er rief mich noch oft an, häufig mitten in der Nacht, doch es war sinnlos. Eines Abends war ich mit einer Bekannten essen, als er im Restaurant auftauchte. Er kniete sich vor unserem Tisch auf den Boden und versprach, er wolle sich bessern, wenn ich ihm nur verzieh. Es war würdelos, und ich verachtete ihn dafür.“
Xue Lian schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran.
„Dann kam die Asienkrise. Natürlich traf sie auch Malaysias Wirtschaft. Für unsere Branche war es ein Desaster, denn wer kauft schon Kunst, wenn das Geld knapp ist? Benny beschloss, die Filiale in Kuala Lumpur zu schließen, und bat mich, nach Hongkong zurückzukehren. Das war genau das Letzte, was ich wollte. Ich rief ihn an, um ihm zu erklären, warum mich keine zehn Pferde zurückbringen würden. Er hatte Verständnis für mich, und am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als meine Kündigung zu akzeptieren.
Finanziell ging es mir zu diesem Zeitpunkt nicht schlecht, weil ich einiges gespart hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, mich mit einer kleinen Kunstgalerie selbständig zu machen. Obwohl ein solches Unterfangen nicht viel Kapital erfordern würde, war es mitten in einer Wirtschaftskrise ein Risiko. Ich beschloss, es dennoch zu versuchen, und machte mich auf die Suche nach geeigneten Räumen in einer guten Lage. In Penang wurde ich fündig. Du hast die Galerie gesehen: Sie ist zentral gelegen, groß genug, und die Miete ist akzeptabel. Um Geld zu sparen, habe ich alles eigenhändig renoviert und eingerichtet.
Der Anfang war schwer, nur mein Erspartes hat mich über Wasser gehalten. Dann lernte ich Tan Chee Wah kennen, der mir Mut machte und mich tatkräftig unterstützte. Dieser Bungalow zum Beispiel gehört ihm. Er hat ihn mir für eine lächerliche Miete überlassen. Er kaufte einige Bilder bei mir und vermittelte mir weitere Kunden, wodurch sich das Geschäft entwickelte. Es ist keine Goldgrube, aber ich komme durch.“
„Die Galerie ist schön, und du arbeitest hart.“
„Es fällt nichts vom Himmel. Jedenfalls kein Geld.“
„Ich hätte eine Idee, wie du deinen Bekanntheitsgrad und deine Einnahmen deutlich erhöhen könntest“, meinte Paul.
„Und die wäre?“
„Du könntest Paul Handewitt ausstellen.“
Sie sprang aus dem Bett und sah ihn entgeistert an.
„Machst du Witze?“
„Nein. Ich zeige dir, was ich an Bildern habe, und wenn du ein überzeugendes Konzept entwickelst, machen wir es. Beweise mir, dass du eine gute Galeristin bist.“
Pauls Ausstellung in Penang war eine Sensation. Als ihr Nachbeben in der Kunstwelt nach Wochen verebbte, beschloss Xue Lian, die Galerie für zehn Tage zu schließen und mit Paul an die Ostküste zu fahren. Sie sehnte sich nach Ruhe, außerdem fiel ihr Geburtstag in diese Zeit.
Am ersten Tag fuhren sie mit ihrem alten Proton Saga von Penang quer über die Malaiische Halbinsel nach Kota Bahru, wo sie sich auf dem Nachtmarkt die Mägen vollschlugen und früh schlafen gingen. Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen setzten sie sich wieder ins Auto und fuhren auf der gut ausgebauten Küstenstraße Richtung Süden, durch eine der beschaulichsten Regionen Malaysias, fernab vom Trubel Kuala Lumpurs oder Penangs. Sie durchquerten verschlafene Dörfer, kamen an windschiefen, in Palmenhainen versteckten Holzhäusern vorbei und genossen die gelegentlichen Ausblicke auf das Südchinesische Meer. Paul war oft hier gewesen und mochte die Gegend.
„Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht?“, wollte er wissen.
„Ich? Noch nie.“
„Noch nie?“, fragte er ungläubig.
„Nein, ehrlich nicht. Entweder hatte ich kein Geld oder keine Zeit dafür.“
Xue Lian trat aufs Gaspedal, um einen Lastwagen zu überholen. Der Fahrtwind blies durch das heruntergekurbelte Fenster und zerrte an ihren Haaren. Wie meistens saß sie am Steuer, denn Paul war ein miserabler Autofahrer, und sie starb fast vor Angst, wenn er fuhr. Aus dem Radio klang chinesische Popmusik, und als Xue Lian eines ihrer Lieblingslieder erkannte, drehte sie die Musik lauter und sang ausgelassen mit.
„Bist du glücklich?“, fragte Paul.
„Ja“, sagte sie und sah ihn an. „Das Leben war nie so schön wie in den letzten sechs Monaten.“
„Sind wir erst ein halbes Jahr zusammen? Es kommt mir viel länger vor.“
„Und das war erst der Anfang“, lachte Xue Lian.
Als sie Cherating erreichten, bogen sie von der Hauptstraße ab und durchquerten den größten Teil des Dorfs, bis Paul auf ein paar einfache Hütten wies, die unter Palmen standen.
„Das ist es“, sagte er.
Xue Lian stieg aus dem Wagen und sah sich skeptisch um.
„Ziemlich heruntergekommen, wenn du mich fragst“, stellte sie fest. „Weiter vorn habe ich bessere Unterkünfte gesehen.“
„Wart’s ab. Du wirst dich wundern, wie schön es hier ist.“
Sie war nicht überzeugt, als er das Gepäck aus dem Kofferraum nahm und sie ihm zu dem termitenzerfressenen, als Rezeption dienenden Verschlag folgte. Hinter dem Tresen stand ein etwa vierzigjähriger Malaie mit einem beeindruckenden Schnurrbart und addierte Rechnungen. Als er Paul kommen sah, breitete sich ein schiefes Lächeln in seinem Gesicht aus.
„Selamat Datang, Paul. Gut siehst du aus.“
„Der Schein trügt dich nicht, Mohd“, erwiderte er. „Das ist Julie.“
„Herzlich willkommen in Cherating“, sagte Mohd und schüttelte ihre Hand. „Ich gehe davon aus, dass ihr einen Bungalow mit Klimaanlage wollt? Keine der preisgünstigen Hütten, wie sonst?“
Das übereifrige Nicken seiner Freundin amüsierte Paul. Er hatte vorher angerufen, um eine Unterkunft zu reservieren, weil im Juli Hochsaison an der Ostküste war. Xue Lians Laune verbesserte sich schlagartig, als sie Mohd in einen gepflegten Garten mit zwei künstlich angelegten Teichen folgten, denn die dort stehenden Bungalows sahen anständig aus. Vor dem letzten, nicht weit vom Meer entfernt, setzte Mohd das Gepäck ab, dann schloss er die Tür auf. Das Zimmer war groß und sauber, in der Mitte stand ein breites Bett; außerdem gab es ein mit Marmor verkleidetes Badezimmer und eine überdachte Veranda mit Blick auf den Garten.
„Und? Ist diese bescheidene Unterkunft der Kaiserin von China genehm?“, fragte Paul.
„Es ist nicht gerade der Sommerpalast, aber die Kaiserin ist zufrieden“, antwortete sie würdevoll.
Xue Lian sah Mohd grinsen und wies mit dem Daumen auf Paul.
„Er hat sich auf eine Frau mit Ansprüchen eingelassen. Das hat er nun davon.“
„Du hörst es, Mohd“, sagte Paul. „Die Zeiten ändern sich.“
Xue Lian zog ihren roten Bikini an und cremte sich mit Sonnenschutz ein. Früher hätte sie sich niemals getraut, einen winzigen Fetzen wie diesen zu tragen, doch sie war im Umgang mit ihrem Körper entspannter geworden. Paul stand noch unter der Dusche, als sie auf die Veranda ging und es sich im Schatten auf einer Liege bequem machte. Xue Lian schloss die Augen und genoss die Ruhe um sie herum.
„Darf ich dich so malen?“
Sie schlug die Augen auf und sah Paul nur mit einem Sarong bekleidet auf dem Geländer der Veranda sitzen.
„Wie? Im Bikini?“
„Nein, nackt. In all deiner deine Ruhe und Gelassenheit“, erklärte er. „Durch dich möchte ich die Weiblichkeit an sich darstellen, in all ihrer Stärke.“
Xue Lian dachte über seine Worte nach.
„Habe ich das in mir? Und hast du so viel Liebe für mich, dass du es sehen und festhalten kannst?“
„Ich denke schon.“
Sie war sich nicht sicher, ob sie von ihm gemalt werden wollte, noch dazu nackt. Die ganze Welt kannte die Bilder von Paul Handewitt; andererseits war sie neugierig, was er in ihr sah und wie er ausdrücken würde.
„Versuche es“, entschied sie. „Aber nur unter einer Bedingung.“
„Welche?“
„Du darfst das Bild nicht verkaufen.“
„Ich werde es dir schenken.“
Sie schloss ihre Augen wieder, während Paul sie weiterhin betrachtete. Vor einem halben Jahr hätte seine Bewunderung sie verunsichert, aber davon war nichts geblieben.
„Wie sollen wir den ersten Urlaubstag deines Lebens ausklingen lassen?“, fragte er kurze Zeit später.
„Am Strand, mit einem kühlen Bier.“
Nach dem Sonnenuntergang kam eine Brise vom Meer und ließ das Laub der Kasuarinen hinter dem Strand rascheln. Xue Lian und Paul saßen in der Beach Bar, die Füße auf dem Tisch, und tranken eisgekühltes Tiger-Bier.
„Du hattest recht, es ist wie im Paradies hier“, sagte Xue Lian und sah den kilometerlangen, menschenleeren Strand hinunter. „Als ich noch in China war, hätte ich nie damit gerechnet, dass ich so einen Ort jemals mit meinen eigenen Augen sehen würde.“
„Hast du manchmal Heimweh?“
Sie trank einen Schluck Bier und nickte.
„Ich hasse vieles an China, aber gleichzeitig werde ich es immer lieben. Es ist das Land, in dem meine Eltern begraben liegen, in dem ich geboren bin und dessen Kultur mich geprägt hat. Es ist meine Heimat. Ich werde niemals eine andere haben.“
„Wirst du jemals zurückkehren? Zumindest für einen Besuch?“
„Niemals. Das habe ich meiner Mutter versprochen.“
Über dem Horizont blitzte es, das erste Zeichen eines aufkommenden Gewitters. Paul warf Xue Lian einen Blick zu. Er war froh, dass sie so klare Vorstellungen vom Leben hatte. Ganz im Gegensatz zu ihm.
„Sie wäre sehr zufrieden, wenn sie uns zusammen sehen könnte. Ihr war es wichtig, dass ich einen guten Mann finde.“
„Ich habe viele Fehler“, gab er zu bedenken.
Xue Lian lachte leise auf.
„Ich bin nicht blind und kenne deine Schwächen, aber du machst mich glücklich. Du bist ein Mann mit Humor und Gefühlen, mit dir kann ich offen und über alles reden. Vermutlich ahnst du überhaupt nicht, wie ignorant und langweilig die meisten Männer sind. Und trotzdem fühlen sie sich jeder Frau überlegen.“
Ein weiterer Blitz erleuchtete die Dunkelheit, und diesmal hörten sie auch ein weit entferntes Donnergrollen. Paul freute sich, denn er liebte Tropengewitter.
„Ich bin sehr zufrieden damit, wie die Ausstellung gelaufen ist“, meinte Xue Lian unvermittelt.
Paul nickte. „Sogar mein Agent Percy war zufrieden, obwohl er sich für meine Rückkehr in die Szene etwas Größeres, vorzugsweise in Europa, gewünscht hätte. Aber er hat deine Arbeit gelobt, und das will etwas heißen.“
„Die Ausstellung war fantastisch, aber das meinte ich nicht. Mir gefiel die Art, wie wir zusammengearbeitet haben. Du hast mich als gleichwertig akzeptiert und nie bevormundet, obwohl ich eine völlig unbekannte Galeristin abseits der Kunstzentren bin. Ich brauche diesen Respekt.“
Xue Lian trank einen Schluck aus ihrer Flasche und kniff die Augen zusammen.
„Ich bin so verdammt stolz“, gestand sie. „Das ist meine größte Schwäche. Im Schatten eines berühmten Malers zu leben ist nicht einfach für mich.“
Paul zuckte mit den Schultern.
„Mir ist vor allem wichtig, dass ich gut male. Anerkennung und Geld sind angenehm, aber sie sind nicht meine Motivation. Ruhm ist eine zweifelhafte Sache und erhebt mich nicht über andere Menschen. Schon gar nicht über dich. Du bist eine wundervolle Frau und eine erstklassige Galeristin.“
Sie lehnte sich zu ihm hinüber und bedankte sich für sein Kompliment mit einem langen Kuss. Mittendrin hörte sie ein Räuspern.
„Ich störe nur ungern, aber darf ich den Herrschaften noch ein Getränk bringen?“
Vor ihnen stand ein malaysischer Inder mit dunkler Haut und blitzenden Augen.
„McCoy!“, rief Paul. „Seit wann arbeitest du hier in der Beach Bar?“
„Seit zwei Monaten. Ich bin eben flexibel, Mat Salleh.“
Paul wandte sich an Xue Lian.
„Darf ich dir das größte Lästermaul der Ostküste vorstellen? McCoy ist eine meiner wenigen Bekanntschaften, für die ich mich aufrichtig schäme.“
„Glaub ihm kein Wort, er kennt keine Scham.“
McCoy schüttelte Pauls Hand, dann gab Xue Lian einen formvollendeten Handkuss.
„Ich verehre deine Schönheit und bemitleide dich für deinen schlechten Geschmack. Bisher hat Paul nur hässliche Engländerinnen abbekommen. Wie bist du bloß an ihn geraten?“
„Ich trage eine extrem starke Brille, aber er hat sie mir weggenommen. Ob es wohl daran liegt?“
„Dann müsste er dir auch das Hörgerät gestohlen haben, oder wie erträgst du sonst sein Geschwafel? Wollt ihr noch Bier?“
„Zwei Tiger, aber hurtig“, sagte Paul.
„Zu Ihren Diensten, Sahib.“
Der Inder brachte das Bier, ließ sie aber gleich wieder allein, weil sich eine alleinstehende Touristin an den Tresen gesetzt hatte. Angeblich brauchte sie seinen Trost.
„Was für ein Typ“, sagte Xue Lian. „Er ist zum Totlachen.“
„Ein echtes Original“, bestätigte Paul.
Die Luft kühlte sich schlagartig ab, als die ersten Tropfen auf das aus Palmwedeln geflochtene Dach fielen. Bald ging das Geräusch in ein heftiges Prasseln über. Zwei der am Strand lebenden Hunde kamen angelaufen und verkrochen sich in eine Ecke der Bar.
„Warst du schon mit anderen Frauen in Cherating?“, wollte Xue Lian wissen.
„Nein. Warum fragst du?“
„Aus purer Neugier. Ich bin nicht eifersüchtig auf das, was vorbei ist. Höchstens auf Giulia, aber das ist ein anderes Thema.“
Paul nahm einen Schluck von seinem Bier und sah geradeaus auf die über dem Meer niedergehenden Blitze. Er hatte Xue Lian gleich am Anfang von Giulia erzählt, die ganze Geschichte. Xue Lian wusste von Rom und der langen Reise durch Asien. Sie wusste auch von Giulias Tod und seiner Verantwortung dafür. Sie wusste alles, aber Paul sprach nicht gern über Giulia, nicht einmal mit Xue Lian.
„Denkst du noch oft an sie?“
„Ja“, gestand er. „Häufiger, als mir lieb ist.“
„Lass sie los. Ich will nicht schlecht über sie reden, aber sie ist tot. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe Li Jun verloren.“
Im nächsten Moment schlug ein Blitz mit abscheulichem Krachen in die Kasuarinen hinter ihnen und hinterließ ein heftiges Klingeln in ihren Ohren. Erschrocken klammerte sich Xue Lian an Paul, dem sich alle Nackenhaare aufgestellt hatten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er heiser.
Sie nickte und tastete nach ihrer Bierflasche. Erst als ihr Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, kehrten ihre Gedanken zu der toten Italienerin zurück.
„Du musst dich endlich mit Giulias Tod auseinandersetzen und versuchen ihn zu bewältigen.“
Er nickte verzagt. Trotz aller Nähe zu Xue Lian war Giulia immer noch da, der einzige Schatten auf ihrer Liebe. Xue Lian bot ihm alles, doch Giulias Geist hielt ihn davon ab, sich bedingungslos in sein Glück fallen zu lassen.
„Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber du solltest sie endlich loslassen“, beharrte Xue Lian. „Es ist deine eigene Schuld, dass Giulia dich verfolgt. Gib ihr Frieden, oder keiner von euch beiden wird jemals Ruhe finden.“
„Du hast bestimmt recht, aber es ist nicht so einfach.“
„Natürlich nicht, aber du musst es wenigstens versuchen. Wenn du meine Hilfe brauchst, bin ich immer für dich da. Du bist nicht mehr allein.“
Paul seufzte. Wenn es um Giulia ging, verzweifelte Xue Lian an ihm. Sie hatte ihm mehrfach ihre Unterstützung angeboten, aber er war einfach nicht in der Lage, sie anzunehmen. Xue Lian wiederum konnte nicht begreifen, dass er sich an Erinnerungen klammerte, die ihm nichts als Unglück und Kummer brachten. Ihr war anzusehen, wie sehr es sie schmerzte, ihn so hilflos und schwermütig zu erleben.
Xue Lians neunundzwanzigster Geburtstag war der letzte Tag vor ihrer Rückkehr nach Penang. Die Sonne stand schon tief, als sie an den Strand gingen und sich mit Blick aufs Meer im Schatten einer Kasuarine niederließen. Xue Lian band ihre Haare mit einem Gummi zusammen und setzte ihre Sonnenbrille auf.
„Mit Pferdeschwanz siehst du noch jünger aus“, bemerkte Paul. „Nicht annähernd wie neunundzwanzig.“
„Dann hast du wohl Glück gehabt“, erwiderte sie augenzwinkernd.
„Manchmal frage ich mich, ob ich nicht zu alt für dich bin. Fünfzehn Jahre sind ein großer Unterschied.“
„Welche Rolle spielt der Altersunterschied, wenn man so gut zusammenpasst wie wir? Obwohl wir sehr verschieden sind, ergänzen wir uns gut. Jeder Tag mit dir ist eine Freude für mich, und ich habe keine Angst vor der Zukunft. Außerdem bist du kein Mann, der schnell altern wird.“
„Kannst du dir vorstellen, dass wir in zwanzig Jahren immer noch zusammen sind und uns lieben?“
„Du etwa nicht?“, fragte sie.
„Doch“, sagte er und schaute auf das stille Meer. „Möchtest du Kinder haben?“
Was für eine überflüssige Frage, dachte Xue Lian leicht verstimmt, doch sie ließ sich nichts anmerken. Natürlich wollte sie Kinder, und das hätte er wissen sollen, denn sie hatte ihm erzählt, was ihre Mutter ihr zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte: Kinder sind das Wichtigste im Leben.
Obwohl ihr die Zeit davonlief, drängte sie Paul nicht. Xue Lian wollte gebeten werden, und wenn er sie heiraten oder mit ihr Kinder haben wollte, musste er den ersten Schritt machen.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass du so weit bist“, stellte sie trocken fest.
Er schwieg, und Xue Lian fragte sich, warum er das Thema anschnitt, wenn er nichts weiter dazu sagen wollte. Immerhin bedeutete es, dass er darüber nachdachte. Manchmal war Paul schwer zu durchschauen.
„Soll ich deine Füße massieren?“, fragte er.
„Warum nicht?“, meinte sie und nahm damit sein Angebot zur Versöhnung an.
Er legte ihren rechten Fuß auf seinen Oberschenkel und massierte ihn kräftig und geschickt.
„Du bist immer für eine Überraschung gut. Wo hast du gelernt zu massieren?“
„Eine thailändische Bekannte hat es mir beigebracht.“
„Eine Bekannte?“, lachte Xue Lian. „Sie wird wohl eher eine Geliebte gewesen sein.“
Er setzte ihren Fuß ab und nahm sich den zweiten vor.
„So kann man es auch nennen. Ich habe jedenfalls sehr von ihren geschickten Händen profitiert.“
„Schön ausgedrückt. Und ein Glück für mich, dass du eine gute Lehrerin hattest.“
Paul war froh über ihre Unbefangenheit in Bezug auf die vielen Frauen in seiner Vergangenheit.
„Ich habe noch einmal über das Bild nachgedacht, das ich von dir malen möchte.“
„Und?“
„Am besten wäre es in unserem Schlafzimmer, wegen der vertrauten Atmosphäre. Du legst dich nackt aufs Bett und suchst dir eine Position, in der du dich wohl fühlst. Dann werde ich Dutzende von Frangipaniblüten um dich herumstreuen.“
„Wozu die Blüten?“
„Weil sie zu dir gehören. Sie sind das Symbol deiner Reinheit.“
„Meiner Reinheit? Seit ich das Bett mit dir teile, ist davon nicht viel geblieben.“
„Ich meine die Reinheit deiner Seele.“
Xue Lian entzog ihm ihren Fuß und kniete sich vor ihm hin, die Hände auf seinen Oberschenkeln.
„Du musst mich sehr lieben. Mehr, als dir bewusst ist.“
„Schon möglich“, sagte er.