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2. Butterfly Lovers

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Es war kurz vor elf, als Julie ihren Wagen auf dem bewachten Parkplatz in der Penang Road abstellte. Sie stieg aus und sah zweifelnd an sich herab: War das Kleid doch zu eng und zu kurz? Sie wollte sexy aussehen, aber keinesfalls ordinär. Lassen wir es darauf ankommen, dachte sie und warf sich entschlossen den langen Zopf über die Schulter. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, was sie eigentlich von Paul wollte. Obwohl es höchste Zeit dafür wurde, hatte sie immer noch keine Antwort darauf. Vor der Tür des Leith Street Café angekommen, atmete sie tief durch, dann legte sie ein Lächeln auf und trat ein.

Das Café befand sich in einem liebevoll restaurierten Gebäude, das früher als Gesindehaus einer chinesischen Villa gedient hatte. Am Kopfende des durch Säulen und halbhohe Zwischenwände unterteilten Raums spielte eine Band, davor feierten mindestens zweihundert chinesische Malaysier ausgelassen durch die Samstagnacht. Ausländer kamen selten in diese Bar, was auch ein Grund war, weshalb Julie sie als Treffpunkt gewählt hatte: Sie gab ihr einen Heimvorteil.

Paul lehnte an einer Wand, den Blick zur Bühne gerichtet. Als Julie sich zu ihm durchgedrängelt hatte und seinen Arm berührte, zuckte er zusammen.

„Guten Abend.“

Statt zu antworten, starrte er sie bloß an, als hätte er eine Erscheinung.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie.

„Entschuldigung. Es verschlägt mir nur selten die Sprache, aber Sie schaffen es mühelos“, gestand er. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Ja gern, ein Bier.“

„Carlsberg oder Tiger?“

„Tiger, vom Fass.“

Paul winkte eine der uniformierten Bedienungen heran und bestellte gleich einen ganzen Krug. Während sie schweigend darauf warteten, dass ihr Getränk gebracht wurde, starrte Julie ihn unverwandt an. Plötzlich wusste sie, was sie von diesem Mann wollte. Seine blauen Augen berührten etwas lange Verschüttetes in ihr, einen Teil ihres Wesens, den außer Li Jun niemand je erreicht hatte; nur war diesmal nicht Liebe der Schlüssel. Ihre Knie wurden weich, und sie war froh, als das Mädchen mit dem Bier kam und ihre Gedanken unterbrach. Paul zahlte und schenkte ein.

Ganbei“, sagte sie und stieß mit ihm an. Als sie das Glas absetzte, blieb auf ihrer Oberlippe ein Rest Schaum zurück, den sie mit dem Mittelfinger abwischte, ohne ihren Blick von Paul zu nehmen. Die Sängerin begann ein langsames Stück.

„Kennen Sie das Lied?“

Er hörte kurz zu, dann schüttelte er den Kopf.

Smoke Gets in Your Eyes“, sagte sie. „Ich liebe es.“

„Möchtest du tanzen?“

Julie nickte unmerklich und legte die Arme um seinen Hals. Ihre Fingerspitzen strichen sanft seinen Nacken entlang. Weich wie die Flügel eines Schmetterlings, dachte sie und lächelte in sich hinein. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und war bereit sich fallenzulassen.

„Du duftest nach Frangipani“, sagte er.

„Ich habe das Parfum am Nachmittag gekauft. Gefällt es dir?“

„Sehr. Und noch mehr gefällt mir, dass du dir die Mühe gemacht hast.“

„Gern geschehen.“

Als das Lied zu Ende ging, hielt Paul sie weiter in seinen Armen. Julie neigte den Kopf zurück, um ihn anzusehen.

„Geht es dir gut?“, fragte sie.

„Soll ich ehrlich sein? Normalerweise bin ich recht entspannt im Umgang mit Frauen, aber du hast etwas an dir, das mich ernsthaft nervös macht.“

„Dann küss mich doch endlich“, flüsterte sie.

Er küsste sie, aufreizend und vielversprechend. Als seine Hand von ihrer Hüfte tiefer rutschte, löste sie sich von ihm und legte ihren Zeigefinger an seine Unterlippe.

„Ich muss dir auch etwas gestehen“, sagte sie. „Ich habe ziemliche Angst.“

„Wovor?“

Vor dem, was du in mir auslöst, dachte sie. Aber wie sollte sie erklären, was sie selbst nicht verstand?

„Ich weiß es nicht.“

„Es gibt keinen Grund, Angst zu haben“, sagte er und küsste ihre Fingerspitzen.

Sie schüttelte den Kopf und sah ihm ernst in die Augen.

„Es gibt immer einen Grund, Angst zu haben. Man darf sich nur nicht davon beherrschen lassen.“

Julie erinnerte sich an Situationen, in denen sie wahre, existentielle Angst erlebt hatte: um ihr Leben, um das Leben der Menschen, die sie liebte, um ihren Verstand. Sie hatte sich niemals unterkriegen lassen. Es war albern, dass die Sehnsucht nach einem Mann sie dermaßen einschüchterte, egal wie stark und ungewohnt sie war.

Sie entzog ihm ihre Hand und schenkte das restliche Bier ein. Paul nahm sein Glas und stieß erneut mit ihr an.

„Auf dich“, sagte er.

„Auf uns.“

Paul zögerte und stellte das Glas wieder ab. Er zog Julie an sich und streichelte ihr nachdenklich über die Haare.

„Was machst du mit mir?“, fragte er. „Seit ich dich gestern gesehen habe, kann ich nicht aufhören, an dich zu denken. Du hast etwas ganz Besonderes an dir. Du bist anders, so intensiv.“

„Ist das wahr?“

„Ich schwöre es.“

„Das ist schön“, sagte sie. „Küss mich noch einmal.“

Es war ein anderer Kuss, wild und verräterisch. Besser als der erste. Julie hielt den Atem an, als Paul ihr Gesicht in seine Hände nahm.

„Ich möchte diese Nacht mit dir verbringen.“

Es interessierte sie nicht, ob er schon Dutzenden von anderen Frauen dasselbe gesagt hatte. Seine brüchige Stimme und die Zärtlichkeit seiner Finger verrieten, dass in diesem Augenblick nur sie allein zählte, und mehr verlangte sie nicht. Das volle Bierglas glitt ihr aus der Hand und zersprang auf dem Boden. Sie beachtete es nicht.

„Deshalb bin ich hier“, sagte sie.

Ein Gewitter unzusammenhängender Gedanken schoss Julie durch den Kopf, als sie Paul um das Haus zur Veranda führte. Im Auto hatten ihre Nerven so blank gelegen, dass sie Mühe gehabt hatte, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Zum ersten Mal verfluchte sie ihre mangelnde Erfahrung. Paul war entspannt, und sie hasste es, unterlegen zu sein.

Als sie neben dem mannshohen Hibiskus vorbeikamen, der an einer Seite des Bungalows wuchs, blieb Paul stehen, um das vom Schein des Mondes gedämpfte Rot der Blüten zu bewundern.

„Was für eine wundervolle Farbe“, sagte er.

Es waren die ersten Worte zwischen ihnen, seit sie die Bar verlassen hatten. Julie antwortete nicht. Sie stieg die Treppen zur Veranda hinauf, schloss die Tür auf und schaltete eine Lampe ein, die warmes Licht verbreitete. Als sie wieder hinaustrat, zog sie die Tür hinter sich zu, damit sich keine Moskitos ins Zimmer verirrten.

„Sollen wir hier draußen bleiben? Die Nacht ist so schön“, sagte sie.

„Gern.“

Julie spürte ihren Herzschlag, als sie zu ihm herüberging und ihm fragend in die Augen sah. Wie sollte es weitergehen? Glücklicherweise schwieg Paul, bis sie ihren Mut und die richtigen Worte gefunden hatte.

„Du musst mich für schamlos halten, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich bin völlig verunsichert“, begann sie. „Du hast mir gestern auf Anhieb gefallen, und ich fand es aufregend, wie du mich angesehen hast. Mein Gefühl hat mir gesagt, dass dieser Laowai mit den unglaublich blauen Augen gut für mich wäre, aber ohne den Streit mit Harry hätte ich mich niemals darauf eingelassen. Danach war mir alles egal, und ich habe mir erlaubt, ein einziges Mal meine Selbstbeherrschung aufzugeben. Trotzdem ist es mir sehr schwergefallen, dir mein Interesse zu zeigen.“

„Warum?“

Warum? Weil es nicht meine Art ist. Weil ich so etwas noch nie gemacht habe. Weil ich entsetzlich stolz bin und es nicht verwinden könnte, wenn du mich zurückweist.“

Julie lachte leise auf, aber es war kein glückliches Lachen. Sie senkte ihren Kopf, um Paul nicht ansehen zu müssen.

„Jetzt stehe ich hier und will dich so sehr, dass ich mich dafür schäme.“

„Das solltest du nicht“, sagte er und streckte seine Hand nach ihr aus, aber Julie wich zurück.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Wo xi wang ni neng hao hao dai wo.“

„Wie bitte?“ Er lächelte.

Sie drehte ihm den Rücken zu und starrte in die Dunkelheit des Gartens hinaus. Paul legte seine Arme von hinten um ihre Taille.

„Was hast du gesagt?“, fragte er sanft.

„Morgen früh kannst du gehen, wann immer du willst. Du bist zu nichts verpflichtet. Aber heute Nacht ...“

„Was?“

„Versprich, dass du gut zu mir sein wirst.“

„Ich verspreche es.“

Er schob den Zopf beiseite, um ihren Nacken zu küssen. Seine Zunge streifte ihr Ohrläppchen. Julie bekam eine Gänsehaut,

„Ich muss dir etwas beichten“, sagte er. „Als wir uns gestern bei Chee Wah begegnet sind, hat sich in meinem Bauch alles zusammengezogen, und ich konnte nicht aufhören, dich anzusehen. Ich wusste nicht, dass einem die Sehnsucht nach einer Frau körperliche Schmerzen bereiten kann, aber bei dir war es so.“

Er klang aufrichtig, beinahe ein wenig verzweifelt. Julie glaubte ihm. Zögernd nahm sie seine linke Hand und schob sie unter das kurze Kleid, die Innenseite ihres Schenkels hinauf. Er folgte ihrer Einladung und ließ gleichzeitig seine andere Hand auf ihre Brust gleiten.

„Später im Hotel habe ich mir vorgestellt, wie es ist, wenn wir miteinander schlafen. Nein, das stimmt nicht ganz: Ich habe mir deine Augen dabei vorgestellt.“

„Meine Augen? Warum?“

„Weil hinter ihnen etwas lauert, wie ein an die Kette gelegtes Raubtier. Sinnlichkeit, Begierde. Hast du jemals versucht, sie zu entfesseln?“

Sie schüttelte zaghaft den Kopf. Hatte er etwas in ihr entdeckt, von dem sie nichts wusste, oder waren es nur leere Worte, mit denen er sie verführen wollte? Egal, es spielt keine Rolle. Was zählte, waren Pauls Atem an ihrem Ohr und seine geschickten Finger zwischen ihren Beinen, die ihr Denken vernebelten und ihren Körper wie ein steuerloses Schiff im Sturm auf eine Klippe zutrieben. Gegen ihren Willen stöhnte sie leise auf.

Tian na, was machst du mit mir? Wozu treibst du mich? Es geht so schnell, viel zu schnell, aber es ist genau, was ich will. Jetzt. Sie riss die Augen auf und krallte sich in Pauls Oberschenkel. Wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie hingefallen.

„Sieh mich bitte an, Julie“, bat er sanft.

Sie wandte ihr Gesicht zu ihm, den Mund halb geöffnet, die Augen voller Erstaunen. Dann machte das Raubtier einen Satz. Die Kette zerriss. Julie explodierte mit einem lang anhaltenden Schrei, dabei hielt sie sich Pauls Blick fest und ließ zu, dass er tief in sie hineinsah. Noch nie in ihrem Leben war sie so wehrlos und glücklich gewesen.

Er hielt sie im Arm, bis sie sich beruhigt hatte. Ihr Atem ging noch immer unregelmäßig, als sie sich von ihm löste und ihn kopfschüttelnd ansah.

„Was ist bloß los mit mir? Ich erkenne mich nicht wieder.“

„Julie ...“

„Nein“, unterbrach sie ihn. „Nicht Julie. Mein Name ist Lin Xue Lian. Ich möchte, dass du mich Xue Lian nennst.“

„Xue Lian?“

Sie nickte und sah ihn offen an, ohne jede Absicherung.

„Lass uns ins Schlafzimmer gehen“, bat sie. „Zieh mich aus. Zeig mir den Himmel.“

Paul öffnete die Augen und sah Xue Lian neben sich liegen. Die Bambusmatte vor dem Fenster filterte das Morgenlicht zu dünnen Strahlen, die weiche Muster auf ihren Körper zeichneten. Während des Schlafs war ihr eine Haarsträhne ins Gesicht gefallen.

Er stieg aus dem breiten Bett und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. Über der Lehne hing das schwarze Kleid, der Rest ihrer Kleidung lag über den Fußboden des Zimmers verstreut. Seine Augen glitten über die schlafende Gestalt. Zum ersten Mal sah er einen makellosen Körper: ohne ein einziges Muttermal, einen Leberfleck oder eine Narbe.

Die Bodendielen knarrten, als er in die Küche ging und auf einem Gaskocher Wasser aufsetzte. In einer Blechdose fand er grünen Tee. Er warf einige Fingerspitzen davon in eine Kanne und übergoss die Blätter mit dem kochenden Wasser. Während der Tee zog, machte er sich auf die Suche nach Zeichenpapier und einem Bleistift. Da Xue Lian Galeristin war, vermutete er, dass sie beides im Haus hatte.

Im Wohnzimmer hing ein riesiges Foto, mindestens einen Quadratmeter groß. Es zeigte einen Mann auf einem breiten, menschenleeren Boulevard, der direkt vor einer Panzerkolonne stand. Mit herabhängenden Armen hielt er nur durch seine Anwesenheit die stählernen Kolosse auf. Paul kannte das Foto, aber ihm war entfallen, in welchem Zusammenhang es aufgenommen worden war.

Die Größe des Bildes und sein prominenter Platz im Wohnzimmer ließen darauf schließen, dass es für Xue Lian eine besondere Bedeutung hatte. Als Paul davor stand, regte sich sein schlechtes Gewissen, weil er ohne Erlaubnis in ihre Privatsphäre eindrang, aber er wischte den Gedanken beiseite. Zwischen ihnen war in wenigen Stunden eine größere Nähe entstanden, als er seit vielen Jahren zugelassen hatte. Normalerweise achtete er darauf, Distanz zu anderen Menschen zu wahren, aber Xue Lian hatte den Graben überwunden und ihn tief in seinem Innersten berührt. Sein sorgsam errichtetes Bollwerk war mit der gleichen Leichtigkeit eingestürzt wie die Mauern von Jericho beim Klang der Posaunen. Obwohl er nichts über sie wusste, war sie keine Fremde für ihn. So setzte er seine Suche ohne weitere Bedenken fort; schließlich wollte er weder ihren Schmuck stehlen noch ihr Tagebuch lesen.

Im letzten und kleinsten Raum wurde er fündig. Es war Xue Lians Arbeitszimmer, und wie erhofft entdeckte er eine kleine Truhe voller Stifte, Pinsel und Papier. Er wählte einen Zeichenblock und drei verschiedene Bleistifte aus, mit denen er zurück in die Küche ging, um sich einen Becher Tee einzuschenken.

Xue Lian hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie träge die Augen öffnete, sah sie Paul auf dem Stuhl neben dem Bett sitzen: nackt, mit einem Block Papier auf dem Schoß. Es war ungewohnt für Xue Lian, beim Erwachen nicht allein zu sein, und sie empfand eine Spur von Scham angesichts ihrer Blöße.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie.

Sie ließ ihren Kopf zurück auf das Kissen sinken und kniff die Lider zusammen.

„Was machst du da?“

„Ich zeichne dich.“

„Das kannst du also auch? Darf ich die Zeichnung sehen?“, fragte sie.

„Bleib noch ein paar Minuten liegen. Wenn ich fertig bin, bekommst du sie, und dazu bringe ich dir einen Tee ans Bett.“

„Hört sich gut an.“

Sie schloss die Augen und fiel zurück in einen angenehmen Halbschlaf. Wenig später wurde sie von Paul geweckt, der ihre Augenlider küsste.

„Das Bild ist fertig, und der Tee auch.“

Sie legte ihren Arm um seinen Hals und zog ihn zu sich herab. Die Nacht war vorbei, aber er war noch da. Xue Lian hatte nicht geträumt.

„Zeig es mir“, bat sie.

Er löste sich von ihr und reichte ihr das Blatt. Xue Lian setzte sich auf und betrachtete die Zeichnung. Sie war hervorragend. Paul war es gelungen, sie mit wenigen Bleistiftstrichen lebendig abzubilden, aber das Bild drückte mehr aus: Es zeigte eine schlafende Frau, die sich von den Freuden einer Liebesnacht erholte.

„Hat dir schon jemand gesagt, wie gut du zeichnest?“, fragte sie. „Du könntest Geld damit verdienen.“

Paul nickte gleichgültig. Ihre Begeisterung erreichte ihn nicht. Xue Lian legte das Bild neben sich und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Paul hatte ein wunderschönes Bild von ihr gezeichnet, aber hatte es auch eine Bedeutung?

Sie stand auf und nahm ihren roten Morgenmantel aus dem Schrank. Er war aus Seide, mit einem goldenen Drachen bestickt. Sie spürte Pauls Blicke auf sich, als sie hineinschlüpfte und sich mit verschränkten Armen an die Wand lehnte.

„Es war eine wundervolle Nacht“, sagte sie bemüht sachlich. „Du warst sehr gut zu mir, und dafür danke ich dir. Wenn du gehen willst, ist jetzt ein guter Zeitpunkt dafür.“

Er saß auf dem Stuhl, die Unterarme auf die Schenkel gestützt, und sah sie an. Xue Lian konnte nicht erraten, was in ihm vorging, und zog den dünnen Morgenmantel enger um sich.

„Falls jemand auf dich wartet“, erklärte sie. „Ich werde dir nicht böse sein.“

„Schickst du mich fort?“

„Nein!“, antwortete sie verdutzt.

Ihn fortschicken? Sie hatte ihm lediglich einen einfachen Ausweg angeboten, um ihr Gesicht zu wahren und nicht mehr als nötig verletzt zu werden, wenn er verschwinden wollte. Er sollte die Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht nicht mit Lügen und Ausreden beschmutzen. Paul erhob sich vom Stuhl und kam zu ihr herüber. Sie leistete keinen Widerstand, als er ihre Hand nahm.

„Ich bin nicht verheiratet, und niemand wartet auf mich. Wenn du willst, würde ich gern bleiben. Lass mich herausfinden, wer du bist, Lin Xue Lian.“

Sie zuckte zusammen, als er sie mit ihrem chinesischen Namen ansprach, den sie ihm in einem Moment entwaffnender Nähe verraten hatte. In Malaysia war sie Julie, selbst für ihre engsten Freunde. Der englische Name war ein Symbol für ihr neues, vor Jahren in Hongkong begonnenes Leben, und er gab ihr Schutz vor den Gespenstern der Vergangenheit.

Er hielt noch immer ihre Hand und wartete auf eine Antwort. Seine Nacktheit hatte etwas Lächerliches, doch sie rührte Xue Lian.

„Du willst bleiben?“, fragte sie.

„Ja.“

Sie dachte an Li Jun, und die Erinnerung machte ihr Mut. Die Enttäuschungen nach ihm zählten nicht. Paul konnte sie glücklich machen, und Glück war etwas, was sie zu lange vermisst hatte. Ohne ihre Entscheidung zu überdenken, zog sie Paul aus dem Schlafzimmer.

„Dann komm. Wir gehen zusammen duschen, und danach mache ich uns Frühstück.“

Obwohl es bereits später Nachmittag war, drückte die Hitze noch schwer auf die Insel. Paul lehnte mit freiem Oberkörper an einem Baum im Garten, und Xue Lian lag ausgestreckt neben ihm auf dem schattigen Rasen. Sie trug ein verwaschenes T-Shirt und hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Wie lange kannst du noch bleiben?“, fragte sie.

„Ich habe keine Eile. Mein Beruf lässt mir viele Freiheiten.“

„Was ist dein Beruf?“

„Ich male.“

„Tatsächlich? Na ja, nachdem ich die Zeichnung gesehen habe, hätte ich damit rechnen müssen. Habe ich schon von dir gehört?“

„Gut möglich. Ich bin Paul Handewitt.“

Tian na“, entfuhr es ihr.

Sie sah ihn entgeistert an. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schüttelte belustigt den Kopf.

„Was bin ich nur für eine erbärmliche Galeristin? Ich erkenne den berühmtesten Maler Asiens nicht, wenn er neben mir im Bett liegt. Deshalb kamst du mir so bekannt vor!“

Sie fasste Pauls Kinn und drehte seinen Kopf zur Seite.

„Du siehst anders aus als auf den Fotos. Besser. Jünger.“

„Das muss an dir liegen. Du machst mich sehr glücklich.“

„Sag nichts, was du nicht meinst“, bat sie. „Ich hasse falsche Komplimente.“

„Komplimente? Willst du die Wahrheit hören?“

Sie nickte und sah ihn erwartungsvoll an, während er nach den richtigen Worten suchte.

„Gestern wollte ich unbedingt mit dir ins Bett gehen. Ich habe dich mehr begehrt als jede Frau zuvor. Aber dann ist etwas passiert, was die meisten Leute vermutlich normal finden, für mich aber unvorstellbar war: Ich habe mich in dich verliebt.“

„Du hast dich in mich verliebt?“

„Ja. Und wie.“

„Und das passiert dir nicht oft?“

„Nicht oft? Nie! Du hast ein Wunder vollbracht.“

Xue Lian fuhr mit dem Zeigefinger über Pauls nackte Brust. Sie zwang sich zum Schweigen, weil sie befürchtete, dass sie ihre Worte später bereuen könnte. Was er in ihr weckte, war beängstigend.

„Nimm es einfach hin. Du musst nichts sagen.“

Sie nickte und zupfte einen Grashalm ab, mit dem sie seine Brustwarze kitzelte.

„Was geschieht gerade mit uns?“

Bevor er antworten konnte, ließ sie den Grashalm fallen und küsste ihn.

„Ich weiß so wenig über die Liebe“, flüsterte sie und berührte gedankenverloren den kleinen Anhänger an seinem Hals.

Der scharfe Geruch angebratener Chilis zog durch die Küche. Paul sah zu, wie Xue Lian die Zutaten nacheinander in den heißen Wok warf und mit einem Holzlöffel umrührte. Als das Essen fertig war, füllte sie es auf einen großen Teller und trat damit zum Tisch.

Mapo Doufu: Tofu nach Art des Pockennarbigen“, übersetzte sie. „Typisch für meine Heimat Sichuan.“

„Du bist nicht aus Malaysia?“, fragte er erstaunt.

„Nein. Ich bin in China geboren.“

Bevor er weitere Fragen stellen konnte, klingelte es an der Haustür. Als Xue Lian öffnete, stand ihre beste Freundin Soo San vor ihr.

„Überraschung!“, rief sie. „Zieh dich um, wir gehen tanzen.“

„Daraus wird leider nichts. Ich bin nicht allein.“

„Ist Harry da, der alte Langweiler?“, flüsterte Soo San und verdrehte die Augen.

„Nein, nicht Harry. Wir hatten vorgestern einen furchtbaren Streit.“

„Wer dann? Du siehst so glücklich aus, das ist verdächtig. Sag nicht, du hast dir einen Liebhaber angelacht.“

Sie stutzte, als sie Xue Lians Gesichtsausdruck sah.

„Ist nicht dein Ernst, oder?“

„Doch“, lächelte Xue Lian, halb verschämt, halb triumphierend.

„Na endlich! Wurde auch Zeit, dass Dornröschen wachgeküsst wird. Kenne ich ihn?“

„Nein, er ist Deutscher.“

„Wer sagt es denn? Gleich ein Mat Salleh, nicht schlecht für den Anfang.“

„Jetzt komm endlich herein. Das Essen steht auf dem Tisch und wird kalt.“

Soo San zog die Schuhe aus und folgte ihr in die Küche.

„Das ist Paul“, stellte Xue Lian ihn vor, „und das ist Soo San.“

Während Xue Lian ein weiteres Schüsselchen und Essstäbchen aus dem Schrank nahm, musterte Soo San den Geliebten ihrer Freundin mit kaum verhohlenem Interesse. Xue Lian füllte ihnen Reis in die Schüsseln und stellte sie auf den Tisch, bevor sie sich selbst setzte.

„Langt zu“, sagte sie und ging mit gutem Beispiel voran.

„Da ist ein eigenartiges Gewürz im Essen“, sagte Paul nach den ersten Bissen. „Meine Lippen und die Zunge sind ganz taub.“

„Blumenpfeffer“, erklärte Xue Lian. „Er gibt vielen Gerichten aus Sichuan einen unverwechselbaren Geschmack.“

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, sagte Soo San fröhlich.

Xue Lian warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, aber Soo San ignorierte den stillen Vorwurf.

„Wie kommt es, dass du so gut mit Stäbchen essen kannst?“, fragte sie Paul.

„Ich habe die letzten zwanzig Jahre fast ausschließlich in Asien verbracht.“

„Dann arbeitest du hier?“

„Das kann man so sagen.“

„Paul ist Maler. Paul Handewitt, wenn der Name dir etwas sagt“, warf Xue Lian ein.

Soo San ließ ihre Stäbchen auf die Schüssel sinken und sah ihn mit großen Augen an.

„Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber der Name sagt sogar mir etwas.“

Es war weit nach Mitternacht, als Xue Lian ihre Freundin zum Auto hinausbegleitete.

„Und? Was denkst du?“, fragte sie.

„Über ihn? Er gefällt mir. Ein richtiger Mann, kein dummer Junge. Ich wundere mich nur über dich.“

„Warum? Weil ich einen Liebhaber habe?“

„Unsinn. Das war längst überfällig. Aber du bist verändert, eine ganz neue Julie.“

„Ich bin glücklich.“

„Das sehe ich. Und ich frage mich, wie er es geschafft hat. Was willst du von ihm?“

„Keine Ahnung. Alles?“

Xue Lian sah sie ratlos an. Es war die Wahrheit. Soo San schüttelte ungläubig den Kopf.

„Diese Worte aus deinem Mund. Es ist nicht zu fassen!“

„Es macht mir Angst, aber ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen.“

„Dann lass dich fallen. Es wird schon gut gehen.“

Xue Lian zog ihre Freundin dankbar an sich.

„Ich möchte wetten, dass er dich im Bett sehr glücklich macht“, flüsterte Soo San in ihr Ohr und kicherte.

„Ich habe fast den Verstand verloren“, grinste Xue Lian.

„Das dachte ich mir. Dann geh jetzt schnell zu ihm und umarme die Nacht. Bis bald.“

Auf dem Penang Hill war es deutlich kühler als unten in der Stadt. Xue Lian sah auf das labyrinthische Straßengewirr von Georgetown hinunter, während hinter ihrem Rücken die Sonne über der Straße von Malakka versank und das letzte Tageslicht mit sich nahm.

„Ich bin gern zur Dämmerung hier. Es ist schön, zuzusehen, wie überall die Lichter angehen und die Stadt sich für die Nacht bereit macht“, sagte sie.

Paul trat zu ihr und legte seinen Arm um sie. Xue Lian hob den Kopf und sah ihn an.

„Wo bist du geboren? Wie sieht es dort aus?“

„Ich komme aus Husum, einer kleinen Stadt in Norddeutschland. Einer unserer Dichter hat sie die ,Graue Stadt am Meer‘ genannt. Die See ist nicht wie hier, sondern abweisend und rau. Das Land ist flach, es ist fast immer windig, und an guten Tagen ziehen weiße Wolken landeinwärts.“

„Und welche Farbe hat der Himmel an solchen Tagen? Ist er so blau wie deine Augen?“

„Manchmal ist er sehr blau.“

„Wann warst du das letzte Mal dort?“

„Vor drei Jahren, zur Beerdigung meiner Tante. Ich habe sie sehr gemocht, als Einzige in meiner Familie. Ihr verdanke ich alles. Sie hat mich für das Malen begeistert und mir den ersten Unterricht bezahlt, als ich zwölf war. Meine Eltern hielten es für Zeitverschwendung.“

Seine Bitterkeit betrübte Xue Lian, und sie ergriff seine Hand. Schweigend standen sie zusammen, während es um sie herum dunkel wurde.

„Und du? Wie bist du von China nach Penang geraten?“

Statt eine Antwort zu geben, fischte sie ihre Zigaretten aus der Hosentasche und wartete, dass Paul ihr Feuer gab. Geistesabwesend nahm sie mehrere tiefe Züge.

„Du hast schon viele Frauen gehabt, nehme ich an?“

Er versuchte vergeblich, ihrem Gedankensprung zu folgen.

„Ja, das kann man sagen“, gab er zu.

Xue Lian ließ die kaum angerauchte Zigarette auf den Boden fallen.

Ni shi zhen xin dui wo ma?“

„Wie bitte?“

„Ich habe dich gefragt, ob du es ernst mit mir meinst. Was bedeutet es für dich, wenn du verliebt bist? Was willst du von mir?“

„Ich möchte dich festhalten und nie wieder loslassen. Wenn du mich lässt.“

„Kannst du das nach zwei Wochen bereits sagen?“

„Ich wünsche mir noch viele von diesen Wochen. Sehr viele.“

Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn.

„Du wolltest herausfinden, wer ich bin. Gut, ich werde dir von mir erzählen. Manches wird mir schwerfallen, weil ich sonst nie darüber spreche.“

Xue Lian machte eine Pause und sah auf die Stadt zu ihren Füßen.

„Lass uns zu mir fahren. Ich möchte mit dir schlafen, danach fällt es mir vielleicht nicht ganz so schwer.“

Xue Lian hatte die Butterfly Lovers aufgelegt. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und lauschte dem berühmten chinesischen Violinkonzert, während Paul ihre Brüste streichelte. Er setzte sich auf, um Xue Lian und den Schwall schwarzer Haare auf dem Kopfkissen zu betrachten. Eigentlich war es unmöglich, dass ihre Haut in den Tropen so weiß blieb.

„Möchtest du einfach nur daliegen? Soll ich dich verwöhnen?“

Xue Lian nickte. Paul beugte sich hinab, fuhr mit der Zunge um ihren Bauchnabel und wanderte von dort hinab tiefer, bis zu ihrer Scham. Gemächlich öffnete sie ihre Beine für seine Liebkosungen. Paul ließ sich Zeit. Selbst als sie begann, ihren Unterleib lustvoll zu bewegen, behielt er sein sachtes Tempo bei, bis sie seinen Kopf von ihrem Schoß zog. Lächelnd drehte sie ihn auf den Rücken, dann setzte sie sich rittlings über ihn, nahm ihn langsam in sich auf. Der Druck seiner Hände auf ihren Hüften wurde stärker, als sie ihr Becken kreisen ließ. Nach einer Weile hielt sie inne.

„Ich habe einen Wunsch.“

„Was immer du willst.“

Paul atmete schwer, seine blauen Augen waren glasig. Sie erhob sich und ließ ihn langsam aus sich herausgleiten. Fragend sah er ihr dabei zu, wie sie ihren großen Umkleidespiegel vor das Bett zerrte.

„Ich möchte mir ins Gesicht sehen. Sehen, was du in mir siehst. Diese Lust in mir, von der ich bisher nichts wusste.“

Wortlos zog er sie wieder aufs Bett und ließ sie auf allen vieren vor sich niederknien.

„Komm zu mir“, forderte sie. „Ich warte auf dich.“

Was folgte, brachte sie fast um den Verstand. Atemlos beobachtete sie Paul und sich im Spiegel dicht vor ihrem Gesicht. Sie spürte den Schweiß auf ihrem Körper und den kühlenden Luftzug des Ventilators. Seine Bewegungen wurden schneller, er trieb sie vorwärts, immer weiter, direkt vor sich ihre eigenen Augen, dunkle Spiegel ihrer Lust. Eine sengende Hitze durchströmte ihren Körper bis in die überreizten Nervenspitzen, der pure Rausch. Sie gab jeden Halt auf und ließ sich fallen, in eine zügellose Raserei, die über ihr zusammenschlug und sie verschlang.

Xue Lian fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Das Spiegelbild verschwamm vor ihren Augen, und sie nahm Pauls Orgasmus nur entfernt wahr. Ein starkes Schwindelgefühl überkam sie, und ihr Kopf sank auf das Laken. Ohne sich dagegen wehren zu können, brach sie fassungslos in Tränen aus. Sie hatte gefunden, was er in ihr gesehen hatte: Einen verborgenen Teil ihres Wesens, an den niemals zuvor jemand gerührt hatte.

Paul kam, die Schachtel Zigaretten in der Hand, aus dem Wohnzimmer zurück. Sein Körper erschien Xue Lian jünger als sein Gesicht. Er war groß und sehnig, und obwohl er nicht sehr muskulös war, strahlte er Härte aus. Umso schöner, dass dieser Körper auch weich und einfühlsam sein konnte. Ihr Blick fiel auf den kleinen geschnitzten Wal um seinen Hals, ohne den sie ihn noch nie gesehen hatte.

„Was ist das eigentlich für ein Anhänger?“

„Ein altes Andenken. Ein Glücksbringer, der versagt hat. Ich gebe ihm eine zweite Chance.“

Xue Lian lag auf dem Bett, ihr Haar verschwitzt und strähnig.

„Gib mir eine Kretek“, bat sie.

Paul zündete eine der Nelkenzigaretten an. Er setzte sich zu Xue Lian auf die Bettkante und hielt sie ihr hin. Sie roch daran, bevor sie einen Zug nahm. Früher hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dieses Zeug zu rauchen. Seit sie Paul kannte, hatte sich vieles verändert.

„In meinem Leben hat Sex nie eine Rolle gespielt, und jetzt entdecke ich eine neue Welt. Ich habe einen beunruhigenden Spaß dabei, und es tut mir gut, von dir bewundert und begehrt zu werden. Du befriedigst nicht nur mich, sondern auch meine Eitelkeit“, lächelte sie.

„Ich habe noch nie eine Frau wie dich erlebt.“

„Vielleicht ist es dumm von mir, aber ich glaube dir.“

Sie erhob sich und ging in die Küche, um ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Das Glas der Flasche war von der Kälte beschlagen. Sie setzte sich wieder neben Paul aufs Bett und sah ihn lange schweigend an. Sie hatte versprochen, ihm von sich zu erzählend, und er schien darauf zu warten. Xue Lian atmete tief durch, bevor sie mit ihrer Geschichte begann.

„Wenn du verstehen willst, wer ich bin, muss ich fünfzig Jahre zurückgehen.“

Erzähl mir von den weißen Blüten

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