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SECHS

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An einem Sonntag wie heute passierte nicht viel Aufregendes im Heim. Den Kindern war es sogar gestattet, länger zu schlafen. Auch war es ihnen an diesem Tag erlaubt, dem Frühstück fernzubleiben. Mittagessen gab es pünktlich zwölf Uhr, das reichte den meisten für eine erste Mahlzeit. Überwiegend für die Älteren kam das in Frage. Hauptsächlich nutzten diese den Tag, um rumzuhängen. Es gab einen Aufenthaltsraum, in dem ein Fernseher stand - wobei die Bildqualität echt zu wünschen übrig ließ - indem sich manche Bewohner auch nur zum Quatschen trafen. Bei anständigem Wetter versammelten sie sich auf dem Spielplatz hinter dem Haus oder drehten ein paar Runden mit dem Fahrrad. Von denen standen den Kindern allerdings nur eine begrenzte Anzahl von meist mangelhafter Qualität zur Verfügung.

Auch Conny und Hanna hatten nach dem gestrigen Abend, der doch länger wie geplant ausgefallen war, keine Lust auf Frühstück. Für die Überbrückung der Wartezeit bis zum Mittagessen und für andere Gelegenheiten, gab es stets eine Notfallration an Keksen oder Schokolade in ihrem Zimmer.

Hanna saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Fensterbrett. Von diesem hatte man eine ausgezeichnete Sicht in den Garten. Soeben schob sie sich genüsslich ein Stück Schlager-Süßtafel in den Mund. Ihr war klar, dass sie das eigentlich bleibenlassen sollte, da es nicht gerade hilfreich für ihre Figur war. Aber der Drang zum Süßkram war stärker wie die Vernunft. Vielleicht würde sie dadurch ebenfalls die Kopfschmerzen los, die sie seit dem vergangenen Abend quälten, nachdem sie die Hälfte von Connys Moulin Rouge stibitzt hatte. Möglicherweise kamen diese auch von dem gleichbleibend dudelnden Kassettenrekorder. Die Musik hörte sich zunehmend zähfließender an, was darauf hindeutete, dass die Lebenszeit der Batterien sich langsam dem Ende zu neigte. Allerdings hatte sie keine Lust, sich von ihrem Platz fortzubewegen, um den Zustand zu ändern. Kauend beobachtete sie eine Weile ihre Freundin. Diese war gefühlt seit zwanzig Minuten gedankenverloren dabei, ihre Mähne wie einen verknoteten Vorhang zu bürsten.

„Wenn du deine Kopfhaut weiter so quälst, bleibt bald kein einziges Haare mehr zurück“, sagte sie zu Conny. Ihre Freundin reagierte nicht auf sie. Hanna seufzte und versuchte es erneut.

„Erde an Conny, hier spricht deine Lieblingsfreundin, die sich jetzt nach draußen begibt, um ein K zu rauchen.“ Provozierend griff sie ihre Zigarettenpackung und wedelte damit vor Connys Nase herum. Durch die unvermittelte Bewegung vor ihrem Gesicht zuckte diese zusammen.

„Eh, was soll das? Du weißt doch, dass ich nicht rauche.“

Theatralisch schmiss Hanna die Schachtel auf eine Kommode. „Ja, das ist mir durchaus bekannt“, erwiderte sie entnervt. „Es war auch nur ein Versuch, deine Aufmerksamkeit zu erhaschen, was mir tatsächlich geglückt ist. Juhu.“

Conny schaute sie verwirrt aus weitaufgerissenen Augen an. Durch das viele Bürsten flogen ihr die Haare aufgeladen um den Kopf und es sah aus, wie wenn sie durch ein Spinnennetz gestiegen sei. Hanna gelang es nicht, sich bei diesem Anblick ein Lachen zu verkneifen.

„In dem Aufzug gewinnst du mit Sicherheit nicht das Herz deines Traumprinzen.“

„Was meinst du? Welcher Traumprinz?“

Hastig bändigte Conny ihre Haarpracht indem sie diese zu einem Zopf zusammenraffte. „Wovon sprichst du überhaupt? Ich habe soeben über das, äh, die morgige bevorstehende Klassenarbeit bei Wegener nachgedacht.“

„Na klar. Klassenarbeit. Wer´s glaubt. Ich jedenfalls nicht. Gib`s zu. Der Macker von gestern Abend gefällt dir und er schwirrt in deinem Kopf herum wie eine lästige Fliege, stimmt´s? Der sah aber auch nicht übel aus. Wie war gleich noch mal sein Name?“

Bei der Frage schaute sie mit unschuldigem Augenaufschlag zu Conny. Die bemerkte die Falle zu spät und reagierte auf Anhieb.

„Lutz!“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Hanna äußerte sich nicht weiter und grinste unverschämt. Jetzt erkannte Conny, dass sie auf die Überrumpelung ihrer Freundin hereingefallen war und lachte unvermittelt auf.

„Na gut, ich gestehe. Ja, ich habe eben an ihn denken müssen.“

„Dacht ich es mir doch“, triumphierte Hanna.

Verträumt grinste Conny vor sich hin. „Seine grünen Augen haben mich besonders fasziniert.“

„Wusstest du, dass Menschen mit grünen Augen schwer einzuschätzen sind? Habe ich mal gelesen. Außerdem sind sie wahre Experten im Beherrschen ihrer Gefühle.“

„So, so. Und was willst du mir damit sagen?“

„Nix. Ich mein ja nur. Ist auch egal. Sag lieber, was du jetzt in Bezug auf den Typen vorhast.“

„Was soll ich schon vorhaben? Es war nett, aber alles sehr unverbindlich. Er hat mir ein Getränk ausgegeben und sich vorgestellt. Dazu war er aufmerksam, unterhaltsam und sah umwerfend aus. Warum sollte sich so ein Traumexemplar oder wie du zu sagen pflegst, so eine Sahneschnitte, gerade für mich interessieren? Für Conny Hartmann aus einem Kinderheim mitten in Mecklenburg Vorpommern? Vergiss es! Außerdem war er mindestens zehn Jahre älter und von jetzt auf gleich verschwunden, wie du selbst mitbekommen hast. Ende der Geschichte.“

„Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen und Tobi der Barmann kannte ihn auch nicht. Er hat ihn als Lackaffen bezeichnet, fand ihn eingebildet und meinte, es wäre kein Verlust, ihn nicht wieder zusehen.“

„Wieso hast du über ihn mit Tobi gesprochen?“, brauste Conny auf.

„Ich wollte nur helfen. Dein Stimmungslevel war nach seinem plötzlichen Abgang deutlich auf den Nullpunkt gesunken und ich hatte so meine Ahnung, woran das lag.“

„Quatsch, was du dir wieder einbildest.“

„Ich bilde mir nichts ein, das sind Tatsachen. Frag die Jungs. Die waren auch irritiert und wollten wissen, warum du mit einem Mal so eine Stinklaune hattest. Ich habe kombiniert. Das musste an deinem selbstlosen Spender gelegen haben. Ich hab doch gesehen, wie du ihn angeschmachtet hast.“

Conny stöhnte auf. „Ja vielleicht ein bisschen, aber heute ist ein neuer Tag. Gestern das war nur eine Bekanntschaft an der Theke. Wir haben nett geplaudert, das war´s. Thema durch.“

Sie hatte nicht die geringste Motivation, das Gespräch weiter zu vertiefen. Es war ihr peinlich, dass ihre Freundin sie so durchschaut hatte. Sie hatte keine Lust mehr, über Lutz nachzudenken, und wollte ihn schnellstens aus ihren Gedanken streichen. Rasch wechselte sie die Rolle und schlüpfte von der vermeintlich Beklagten in die der Klägerin. Die lag ihr eher.

„Was ist denn mit dir mein Fräulein? Wo waren wir noch bis früh um zwei Uhr?“

Hanna kicherte und Conny fuhr in gespielt ernstem Ton fort.

„Ich fand es nicht so witzig. Mich, ohne Vorwarnung mit Andreas allein zu lassen, und das in seinem lädierten Zustand. Vielen Dank!“

„Ja, der war voll wie ein Schichtbus“, prustete Hanna.

„Du sagst es. Nachdem sein Blondchen sich davongestohlen hatte, hing er an mir und die endlosen Schwärmereien über sie blieben mir nicht erspart. Es klang, als ob eine Schallplatte einen Sprung hätte. Sein Gelalle begleitete uns den ganzen Heimweg. Dieser dauerte doppelt so lange wie sonst. Wir haben zwei Schritte vorwärts und einen zurückgemacht. Ehrenwort!“

Conny zog sich innerhalb der Berichterstattung ihren Lieblings Nickipullover, eine blaue Trainingshose und Turnschuhe an. Im Anschluss warf sie sich auf ihr Bett und sah Hanna herausfordernd an. Diese schob sich erneut ein Stückchen Schokolade in den Mund.

„Was genau willst du denn hören?“, fragte sie unschuldig. Conny verdrehte die Augen, ließ sich aber nicht provozieren.

„Ich will alles wissen. Jedes Detail. Also erzähl schon.“

„So viel gibt es da nicht zu berichten. Du hast doch noch mitbekommen, dass mich Jörg zur legendären Schmuserunde geholt hat. Im Anschluss hat er meine Hand gepackt und mich mit sich fortgezogen. Er hat mir seinen Arm um die Schulter gelegt, wir haben frische Luft geschnappt und dabei ge ...“

Der Rest des Satzes verlor sich in einem genuschelten Husten. Conny horchte auf.

„Das Wesentliche habe ich jetzt wohl nicht mitbekommen. Frischluft schnappen und was?“

Hanna schaute schuldbewusst. Sie druckste etwas herum, bevor sie weitersprach. „Na wir haben geknutscht. So richtig. Es war echt schräg und hat irgendwie sogar Spaß gebracht. So jetzt weißt du, wo ich abgeblieben war.“

Conny stand von ihrem Bett auf, stürzte auf ihre Freundin zu und zog sie fest an sich. Hanna erwiderte die Umarmung überrascht. Nach einer kurzen Pause flüsterte sie: „Ich glaube, ich habe mich in Jörg verliebt.“

„Ach Hannalein, wie schön! Versprich mir aber, dass du auf dich aufpasst. Tu nicht was du nicht willst. Und vergiss nicht: Du hast alle Zeit der Welt, dich auf mehr mit ihm einzulassen. Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich da. Sollte der Bursche dir jemals wehtun, bekommt er es mit mir zu tun. Richte ihm das genauso aus!“

Hanna war gerührt über die Anteilnahme ihrer Freundin.

„Danke Conny, dass du für mich da bist. Ich gehe es langsam an, versprochen. Jetzt aber genug mit den Gefühlsduseleien, sonst fang ich gleich an zu heulen. Also, was unternehmen wir heute noch?“

„Ich würde sagen wir holen die Jungs zum Mittagessen ab. Hoffentlich sind sie schon wach. Ich habe keine Lust, stundenlang zu versuchen, sie aus ihrem Komaschlaf aufzuwecken. Am Nachmittag könnten wir ´ne Runde Tischtennis oder Volleyball spielen.“

„Sport?“, Hanna klang nicht sehr überzeugend. „Das überleg ich mir noch mal. Ich glaube, irgendetwas gab es für die Schule vorzubereiten?“

Conny zog strafend eine Augenbraue nach oben. „Alles Ausreden. Du weißt schon, dass du mir eine Antwort schuldig bist, was deine sportlichen Aktivitäten der Zukunft betreffen. Außerdem hast du bestimmt nicht die Absicht, vor Jörg wie ein absoluter Sportmuffel da zustehen oder etwa doch?“

Hanna streckte ihr die Zunge raus und äffte die letzten Worte ihrer Freundin nach. Die schmunzelte. „Na komm schon. Der gestrige Abend steckt uns allen noch in den Knochen, da schadet auf keinen Fall ein wenig Körperertüchtigung.“

Hanna stöhnte und suchte sich umständlich die passenden Sportsachen heraus.

Conny war gern an der frischen Luft. Sie liebte Bewegung. Mindestens dreimal in der Woche rannte sie eine Art Crosslauf durch den angrenzenden Wald. Sie trat auch für die Schulmannschaft zu verschiedenen Laufwettbewerben an. Ein Leben ohne Sport war für sie undenkbar. Trotz ihrer Leidenschaft war es ihr bisher nicht gelungen, Hanna für eine Sportart zu begeistern. Da lag noch ein ordentliches Stück Überzeugungsarbeit vor ihr. Vielleicht gelang es Jörg, sie für einige Bewegungsarten zu gewinnen. Sie würde ihn mal in einer geruhsamen Minute dazu anhauen, allerdings so, dass es aussah, als wenn die Initiative eindeutig von ihm ausgegangen sei. Irgendwie hatte der Gedanke etwas Manipulatives. Conny seufzte.

Mittlerweile hatte ihre Freundin sich fertig angezogen. Bevor sie sich auf den Weg zu den Jungs begaben, genehmigte sich Hanna noch flink ein letztes Stück Schokolade, nur für den Fall, dass das Mittagessen nicht ihrem Geschmack entsprach. Außerdem lenkte es vom Rauchen ab. Obwohl, der Suchtfaktor ähnlich gelagert war.

Verräterische Zeiten

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