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Conny hatte ihr Tagebuch geschnappt und sich damit an ihren Lieblingsplatz zurückgezogen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr schrieb sie täglich ein paar Erinnerungen auf. Ihr erstes vor Jahren gekauftes Heft hatte einen kindlichen farbenfrohen Einband, auf dem verschiedene Vogelarten aufgedruckt leuchteten. Spätere Exemplare waren eher schlichte Bücher mit einem winzigen Schloss daran, welche sie auch noch heute favorisierte. Sie fand ihre Gedanken darin zuverlässig verwahrt. Obwohl nicht aufbruchsicher, beruhigte der Verschluss ihre Bedenken, dass andere ungewollt Einblick in ihre Gefühlswelt bekamen. Schließlich gab es eine Menge Neugieriger um sie herum.

Mit Zwölf lernte sie in der Schule Sonja kennen. Ihre Eltern erlaubten Conny, sie ab und an zu Hause zu besuchen. Es gab noch drei jüngere Geschwister und die gesamte Familie hatte sie herzlich aufgenommen. Alle gaben ihr in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbrachten das Gefühl bei ihnen jederzeit willkommen zu sein. Selbst zu ihrem Geburtstag oder zu Weihnachten erhielt sie wie selbstverständlich eine Kleinigkeit geschenkt, was sie sehr berührte. Die ganzen tollen Momente, welche in dem Umgang mit der Familie auf sie ein prasselten, vertraute sie ihrem Tagebuch an. Sie war erleichtert, dieses Ventil der Kommunikation für sich gefunden zu haben.

Hauptsächlich besuchte sie ihre Freundin Sonja am Wochenende. Conny liebte die gemeinsamen Spieleabende im kompletten Familienkreis. Ebenso genoss sie es, wenn sich alle geschlossen zum Essen am Tisch versammelten und jeder über seine Erlebnisse des Tages erzählte. Obwohl sie das Zusammenleben mit ihren eigenen Eltern nicht kannte, vermisste sie diese in solchen vertrauten familiären Augenblicken schmerzlich. Natürlich stritten die Geschwister auch untereinander, oft nur um Belanglosigkeiten. Aber daran störte sich Conny nicht im Geringsten. Sie würde gern die unzähligen Kabbeleien in Kauf nehmen, wenn sie dafür eine Schwester oder einen Bruder hätte.

Leider hielt diese unbefangene Zeit mit Sonja nicht lange an. Sie war geknickt, als die Familie in eine andere Stadt zog, mehr wie dreihundert Kilometer entfernt. Sie beide schrieben sich noch über ein Jahr regelmäßig Briefe. Für Besuche war die Entfernung einfach zu weit. Mit der Zeit wurde die Korrespondenz spärlicher und schließlich brach die Verbindung zwischen den beiden Mädchen komplett ab. Das ständige Tagebuchschreiben half ihr den Weggang der Freundin und derer Familie besser zu verkraften. Ihrem Tagebuch vertraute sie seitdem alle für sie wichtigen Gedanken an. So wie heute.

Versonnen knabberte sie an ihrem Bleistiftende, wobei sie zum wiederholten Mal ihre letzten Aufzeichnungen mit glänzenden Augen ansah. Beim Lesen überkam sie erneut eine undefinierbare aufgeregte Kribbeligkeit im ganzen Körper. Nach der Begegnung mit Lutz sprudelten ihre Gedanken, wie frische Seltersperlen, nur so aus ihr heraus. Alle Eindrücke des Abends hatte sie beinahe in autistischer Form festgehalten. Seine heldenhafte Rettungsaktion und ihr kurzes Gespräch waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Ebenso ließ sie sein eindringlicher Blick nicht mehr los. Diese leuchtendgrünen Augen hatten sich in ihrer Erinnerung eingebrannt. Conny seufzte. Bei seinem Aussehen konnte Lutz sich mit Sicherheit vor Frauenbekanntschaften kaum retten. Auch gab es garantiert nicht einen Grund dafür, warum er sie nicht längst vergessen haben sollte. Außerdem standen dringendere Sachen an, um die es sich zu kümmern galt. Da blieb nicht eine Minute für romantische Gedanken an einen unerreichbaren Traumprinz. Obwohl es nur noch ein halbes Jahr bis zur Abiturprüfung war, hatte sie bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Studienplatzzusage. Erst heute wieder bekam sie eine weitere Absage. Ihr Notendurchschnitt war dafür definitiv nicht der Grund, denn der war ausgezeichnet. Ebenso gehörte sie der Gemeinschaft der FDJ an und beteiligte sich regelmäßig an deren Aktivitäten. Auch sonst verhielt sie sich politisch korrekt. Die eigentliche Hürde stellte ihre Herkunft dar. Das Schicksal aller Heimkinder war es, das sie nicht zur Vorzeigegruppe des Arbeiter- und Bauernstaats zählten. Aus genau diesem Grund kam eine berufliche Förderung für sie erst in Frage nach den Jugendlichen, die in sozialistisch korrekten Verhältnissen lebten.

Conny stellte keine hohen Ansprüche. Hauptsache sie erhielt im Endeffekt einen Medizinstudienplatz zugeteilt. Dafür akzeptierte sie, wenn es nicht anders möglich war auch einen Umzug. Es gab viele Städte in der DDR, die sie nicht kannte. Natürlich blieb sie lieber in der näheren Umgebung ihrer Freunde. Das wäre am einfachsten. Aber die meisten von ihnen hatten ebenfalls noch keine Ahnung, wohin es sie nach dem Schulabschluss verschlagen würde. Maßgeblich war für sie, ihren erträumten Wunschstudienplatz zu bekommen. Der Ehrgeiz in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten war geblieben. Conny gab die Hoffnung nicht auf und blieb zuversichtlich, einen Platz zu erhalten. Noch waren schließlich nicht alle vakanten Bewerbungsorte angeschrieben.

Es ward nicht gern gesehen, wenn die Abiturienten parallel Studienbewerbungen an unterschiedliche Hochschulen verschickten. Erst nach einer vorangegangenen Absage war es erlaubt eine neue Anmeldung einzureichen. Conny hielt sich an diese Regeln. Das Risiko war ihr zu groß das man sie aufgrund einer Doppelbewerbung, aus dem Verfahren ausschloss. Es bestand in jedem Fall die Möglichkeit, aufzufliegen, und das Wagnis würde sie nicht eingehen.

Für den Nachmittag hatte sie sich vorgenommen, eine weitere Bewerbung an die Medizinische Hochschule Dresden zu schicken. Bei dem Gedanken daran durchfuhr sie jäh ein Mordsschreck. Ein abwechselnd heiß und eisiger Schauer, ergoss sich über ihren Rücken wie eine Wechseldusche. Verdammt! Ihre Passfotos waren aufgebraucht. So ein Pech aber auch. Sie hatte total vergessen, beim Fotografen neue Bilder schießenzulassen. Morgen am Mittwochnachmittag war der Laden geschlossen. Also blieb ihr bloß noch die Möglichkeit, heute nach Parchim zu fahren. Denn bis die fertigen Fotos abholbereit wären, verging wieder eine Woche. Zu spät um die Bewerbung zu verschickt.

Sie schaute auf die Uhr. So ein Murks. Der letzte Bus in die Stadt fuhr in zehn Minuten. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie ihn womöglich noch. Mit einem Satz sprang sie von der Mauer, und rannte wie beim Endspurt eines Sechzigmeterlaufes, auf ihr Zimmer. Sie schmetterte das Tagebuch auf ihr Bett, wechselte ihren Freizeitpullover gegen eine rot karierte Bluse, schnappte sich eine Jacke und ihren Umhängebeutel.

Flink kritzelte sie eine Nachricht für Hanna auf einen aufgerissenen Briefumschlag. Dabei fiel ihr ein, dass diese am heutigen Nachmittag zu Besuch bei ihrer Mutter war. Sie schalt sich eine Idiotin, ließ den Stift fallen und schon flitzte sie die Treppen nach unten, die Abkürzung nehmend quer durch den Garten, zur Bushaltestelle. Trotz ihres meisterschaftlichen Sprints sah sie beim Vorbeilaufen, hinter dem Bürofenster, Falk Wegener stehen. Mist, sie hatte nicht auf den Weg geachtet. Hoffentlich war sie auf keine seiner geliebten Beete getreten. Grüßend hob sie etwas scheu eine Hand, aber er reagierte nicht. Schaute durch sie hindurch, als wenn sie unsichtbar wäre. Umso besser, so hielten sich Connys Gewissensbisse in Grenzen. Außerdem blieb ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie musste unbedingt den letzten Omnibus schaffen.

Als sie an der Haltestelle ankam, fehlte ihr die Puste und durch den Wettlauf mit sich selbst sah ihr Zopf zerzaust aus, einzelne Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Leider hatte sich die Anstrengung nicht gelohnt, denn sie sah nur noch die durch Staub verdeckten Rücklichter vom Bus. Unwirsch pfefferte sie mit voller Wucht ihren Beutel auf die Straße. Dabei holte sie wutschnaubend Luft und fluchte mürrisch vor sich hin. Unverrichteter Dinge wieder zurück, kam für Conny nicht in Frage. Sie wog kurz ab, sich ein Fahrrad aus dem Kinderheim zu holen. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass vielleicht andere Mitbewohner damit unterwegs waren. Notfalls gab es noch ein Exemplar im Keller. Allerdings war nicht sicher, ob es überhaupt fahrtüchtig war. Da kamen definitiv zu viele Risikofaktoren zusammen, die sie erneut Zeit kosteten. Also blieb ihr nichts weiter übrig, wie per Anhalter in die Stadt zu gelangen. Ganz recht war ihr das nicht, aber sie benötigte nun mal die Fotos für ihre Bewerbungsunterlagen.

Einen Seufzer ausstoßend hob sie ihre Tragetasche auf und stapfte übellaunisch in die Richtung, in welche der Bus vor einigen Sekunden entschwunden war. Hoffentlich kam um diese Uhrzeit zumindest noch ein Auto vorbei, weil momentan war von etwas Fahrbarem weit und breit nichts zu sehen. Zuversichtlich bleiben, war jetzt angesagt. Denn wenn sie den ganzen Weg zu Fuß zurücklegte, bekäme sie das mit den Passfotos nicht mehr hin. Zumindest für heute.

Obwohl es bereits Anfang Oktober war, war die Luft sehr mild. Die Blätter der Kastanienbäume am Straßenrand, schimmerten bunt in der noch kräftigen Herbstsonne. Conny blinzelte gegen das Licht. Wenn sie nicht so unter Zeitdruck stehen würde, wäre es ihr sogar möglich, den Anblick zu genießen. Flott zog sie den Reißverschluss ihrer Blousonjacke nach oben, wickelte sich ihr Tuch locker um den Hals und schlug den Weg in die Stadt ein.

Eine Zeit lang stapfte sie strammen Schrittes die Landstraße entlang, ohne dass ihr ein Fahrzeug entgegenkam, geschweige denn eines, welches in ihre Richtung fuhr. Angespannt schaute sie wiederholt auf ihre Armbanduhr und legte noch einen Zahn zu. Sie benötigte volle Konzentration auf den Weg. Befahrbar war nur jeweils ein Fahrstreifen, so dass nicht zwei Autos aneinander vorbei kamen. Die Straßenränder waren mit Steinen unterschiedlicher Größe gefüllt und von zahlreichen Schlaglöchern gekennzeichnet. Wenn sie nicht aufpasste, stolperte sie noch über ihre eigenen Füße.

In dem Moment in dem sie erneut ein ausgefahrenes fußtiefes Straßenloch übersprang, hörte sie unverhofft ein Motorengeräusch. Aufgeregt drehte sie sich um und schwenkte heftig ihre Hand mit hochgestrecktem Daumen nach außen. Das Auto, ein wie es aussah nagelneuer roter Lada, manövrierte mit einem Schwenker um sie herum und fuhr schnittig an ihr vorbei. Dabei spritzten ein paar winzige spitze Steine unter den Rädern weg, die sie schmerzlich am Schienbein trafen. So klappte das heute definitiv nicht mehr mit ihrem Vorhaben. Fluchend und frustriert über den Vorbeirauschenden drehte sie sich zurück in Laufrichtung. Verdutzt stoppte sie unvermittelt, da nur ein paar Meter entfernt der rote Lada wartend am Straßenrand stand. Stockend bewegte sie sich weiter. Jetzt war ihr die ganze Sache doch etwas unheimlich. Auch war außer diesem Wagen kein anderes Fahrzeug in Sicht. Es kostete sie einige Überwindung, weiterzugehen. Mittlerweile war die Sonne verschwunden, es dämmerte bereits und die Dunkelheit breitete sich zügiger aus wie gewünscht.

Conny atmete tief durch und setzte langsam, wie auf einem Schwebebalken balancierend, einen Fuß vor den anderen. Sofern sie sich Zeit ließ, verlor der Fahrer vielleicht die Geduld und fuhr weiter. Es gab genug schräge Vögel, die unterwegs waren. Aber wenn sie ehrlich war, brauchte sie dringend diese Mitfahrgelegenheit. Also reiß dich zusammen, redete sie sich ein. Sei nicht so ein Schisshase. Was würde schon passieren? Ihre Bekannten hatten das Abenteuer Trampen auch alle überlebt.

In dem Moment fiel ihr eine vergnügliche Anekdote ihres Freundes ein, der per Anhalter an die Ostsee in einem Trabbi mitgefahren war. In Gedanken an die Erzählung fing Conny an zu kichern. Der Fahrer der Rennpappe hatte ihm den Platz auf der Rückbank zugewiesen. Andreas Aufgabe war es, die ganze Fahrt über, auf dem alten Sternradiorekorder die Starttaste gedrückt zu halten. Anders war das Einrasten dieser nicht mehr möglich. Eine Alternative auf der Autofahrt Musik zu hören gab es nicht. Nicht nur die volkstümlichen Klänge der abgespielten Kassette, auch seine dabei eingenommene verkrampfte Haltung waren enorm anstrengend. Da sich nach gewisser Zeit des Festhaltens ein Taubheitsgefühl seines Zeigefingers abzeichnete, erlaubte er sich, kurzzeitig die Taste loszulassen. Das war absolut nicht im Sinne des Trabantfahrers, was er Andreas in Form eines ungnädigen Knurrens deutlich zu verstehen gab. Der nahm daraufhin sofort wieder die unbequeme Position am Radioknopf ein. Schließlich verspürte er nicht die geringste Lust, dass der Brummbär ihn unterwegs an die frische Luft setzte.

Mittlerweile hatte Conny sich dem roten Lada genähert. Der Fahrer war nicht abgehauen, sondern stand mit laufendem Motor an derselben Stelle wie vor zwei Minuten. Zögerlich beugte sie sich hinunter zur Seitenscheibe, die in diesem Augenblick quietschend hinuntergekurbelt wurde.

Verräterische Zeiten

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