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ZWEI

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Falk Wegener arbeitete seit mehr als sieben Jahren als Heimleiter im Waisenhaus „Clara Zetkin“. Er liebte seine Arbeit, trotz der Vielzahl an menschlichen Tragödien, welche er in all der Zeit miterlebt hatte. Bedauerliche Schicksale, die ihn innerlich bewegten. Es gab die unterschiedlichsten Voraussetzungen, aus denen Kinder heraus ein neues Zuhause in einer Institution wie dieser hier fanden. Private, wie mittlerweile vermehrt auch politische Gründe kamen dafür in Frage.

Dass ihn der gewählte Beruf allerdings eines Tages nicht mehr losließ, hätte er seinerzeit nicht für möglich gehalten. Er hatte zuerst andere Pläne für sein Leben. Besser gesagt seine Eltern. Die arbeiteten beide als Lehrer in einer Erweiterten allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, auf der sie Schüler auf das Abitur und das anschließende Studium vorbereiteten. Für Wegeners stand fest, dass ihr Sohn ihre berufliche Laufbahn einschlagen würde. Dessen eigenen Wünschen maßen sie keinerlei Bedeutung bei. Sie hielten seine Vorstellung von Beschäftigung für reine Hirngespinste und nicht für realistische Ziele. Falk faszinierte sich nämlich für alles, was im Zusammenhang mit Musik stand. Seit seiner Kindheit spielte er Gitarre und übte sich in Gesang. Jegliches Zusammenspiel von Klangarten, Spieltechniken und Musikinstrumenten fesselten ihn. Dadurch war für ihn frühzeitig klar: Er wollte Musiker werden. Wie er diese Absicht Mutter und Vater mitteilte, verloren die beiden anfangs die Beherrschung. Musikus, wie sie es abfällig nannten, war letztendlich kein anständiger Beruf, eher eine brotlose Kunst. Als Künstler war es ihrer Meinung nach einem schließlich nicht möglich zu überleben. Sie lehnten die Art jener unnützen Beschäftigung für ihren Sohn kategorisch ab. Falk hatte allerdings den Eindruck, dass in erster Linie ihr eigener Stellenwert im Vordergrund stand. Sie sahen ihren sozialistischen Ruf in Gefahr, da die Berufswahl ihres Sprösslings nicht im Geringsten zu ihrer politischen Einstellung passte. Die Wegeners waren überzeugte Staatsbürger der DDR und gehörten der Massenpartei SED an. Falk hatte nie begriffen, wieso sich seine Eltern darauf eingelassen hatten. Seit er in der Schule in dem Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde mit den ersten politischen Themen konfrontiert wurde, versuchten die beiden ihn für ihre Ziele zu gewinnen. Aber ihre Bemühungen prallten an ihm ab, wie ein Gummiball an einer Wand. Er hatte kein Interesse an den Seilschaften des Sozialismus. Ebenso lehnte er es unmissverständlich ab, dass ihrer Ansicht nach für alles im Leben nur eine Richtung maßgeblich war. Er hatte vor sein eigenes Ding durchzuziehen und war absolut nicht dafür zu haben fremdbestimmt zu werden. Sein Wunsch war es, mit Musik Geld zu verdienen, durch die ganze Welt zu reisen und nicht eingesperrt zu sein in ein und demselben Land.

Er durchlebte nach dem Abitur eine überaus rebellische Zeit. In dieser übte er sich mit Gitarre und Gesang in Gestalt eines Straßenmusikers in der Fußgängerzone seiner Heimatstadt Dresden. Oft traf er sich mit Gleichgesinnten und gemeinsam spielten sie kurze Musikstücke für vorbeieilende Passanten. Straßenmusik war in der DDR verboten. Der Staat bezeichnete es als Bettelei, was gegen alle sozialistischen Regeln verstieß. Diese Art der „Zusammenrottung“, wie es im Fachjargon der Staatssicherheit hieß, war illegal. Falk hatte Glück, denn es gelang ihm, sich stets wieder den durch die Stasi durchgeführten Straßenrazzien zu entziehen. Bis auf ein einziges Mal, das war jener Tag, welcher ihn, was seine zukünftige Berufswahl anging, doch noch zum Umdenken gebracht hatte.

Es war an einem Sonntagnachmittag. Das Wetter zeigte sich recht frühlingshaft und es gab eine Menge Schaulustige, die um ihn und seine musizierenden Freunde herumstanden. Sie waren so vertieft in ihre Aufführung, dass sie die drohende Gefahr erst zu spät bemerkten. Es gelang Falk nicht, rechtzeitig abzuhauen. So passierte es, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit ihn brutal festnahmen und in einen ihrer unzähligen Verhörräume abtransportierten.

Er hatte verdammtes Glück. Sein Aufenthalt war nur von kurzer Dauer, da es seinem Vater gelungen war, ihn nach einigen Stunden aus der fatalen Angelegenheit herauszuholen. Es war Falk durchaus bewusst, dass er ohne den Einfluss seines Erzeugers nicht so glimpflich davon gekommen wäre. Er war diesem dafür unendlich dankbar, da ihm dadurch die fatalen Strafen für sein Vergehen erspart blieben. Falk fragte nie nach, wie es seinem alten Herrn so unkompliziert gelungen war, ihn aus jener missligen Lage heraus zu befreien. Es blieb ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen Vater und Sohn.

Seitdem Vorfall erübrigte es sich wie von selbst, dass er sich auf das von seinen Eltern favorisierte Lehrerstudium fokussierte. Heute war er ihnen dankbar für die abrupte Wendung, die sein Leben dadurch genommen hatte.

Aufgrund der eigenen gemachten Erfahrungen wurde er das Gefühl nicht los, für die Zukunft seiner jetzigen Schützlinge, vor allem für deren Berufswahl mit verantwortlich zu sein. Die meisten Jugendlichen bekamen Angst vor dem neuen Lebensabschnitt und dem Schritt in die Selbstständigkeit. Hier war er in der Rolle des Pädagogen gefragt, um gegenüber den Schülern mit reichlich Einfühlungsvermögen zu handeln. Nach Erreichen des achtzehnten Lebensjahres und mit Erhalt eines Ausbildungs- oder Studienplatzes, war der Aufenthalt im „Clara Zetkin“ bis auf ein paar Ausnahmefälle vorbei.

Zu einer der Abiturientinnen, der es erlaubt war zu bleiben, zählte Conny Hartmann. Durch ihr eigenes spezielles Wesen unterschied sie sich von den anderen Heimkindern maßgeblich. Sie war unkomplizierter, wissensdurstiger, voller Tatendrang und sie hatte ein festes Ziel vor Augen. Ihre Absicht war es, um jeden Preis Medizin zu studieren, wie ihre verstorbene Mutter. Diesen Wunsch äußerte sie regelmäßig bei passender Gelegenheit.

Als Falk seine Stelle an dem Heim antrat, war Conny zehn Jahre alt. Er hatte sie aufwachsen sehen und einen Teil ihrer Sorgen und Nöte kennengelernt. In der Zwischenzeit war sie zu einer bildhübschen, selbstsicheren jungen Dame herangewachsen. In ihren klaren blauen Augen spiegelte sich verhohlene Neugierde für all das, was in ihrem Umfeld geschah. Die langen braunen, mit einem goldenen Schimmer durchzogenen Haare, trug sie überwiegend klassisch zu einem Zopf gebunden. Dadurch zeigte sich ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Ihre Haut war zart und schimmerte wie Seide.

Die mittlerweile Achtzehnjährige faszinierte ihn seit jeher. Falk merkte, dass es ihn zunehmend mehr zu ihr hinzog. Allerdings war er sich bewusst, dass er in der Position des Heimleiters seine Gefühle für sie unterdrücken und professionelle Distanz wahren musste. Bei dem Gedanken daran seufzte er, denn das war für ihn gefühlsmäßig oft nicht so problemlos realisierbar. Aber er riss sich zusammen. Schließlich war er schon lange in diesem Beruf und hatte gelernt, mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten fachmännisch umzugehen. Gedankenverloren erhob er sich von seinem Schreibtisch und trat ans Fenster. Genau in dem Moment sah er eine geduckte Gestalt mit ausgebeultem Campingbeutel auf dem Rücken, hinter dem angrenzenden Zaun langschleichen. Falk Wegener fischte nach der auf seinen Kopf geschobenen Brille und setzte diese umständlich auf.

Nachdem er den Jungen erkannt hatte, riss er impulsiv das Fenster auf und pfiff kräftig durch die Finger, bevor er losbrüllte. „Jörg, wie oft denn noch. Pass gefälligst auf wo du hintrampelst. Die Rabatten sind kein Spazierweg. Erst gestern habe ich dort neue Pflanzen eingesetzt. Vielleicht einfach die Klüsen beim Hackengas geben aufmachen. Obwohl wie ich sehe, ist das wie sonst auch schwer möglich, bei den langgewachsenen Zottelhaaren die dir wieder über deine Augen fallen.“

Durch den Pfiff unverkennbar ertappt schaute der Junge verunsichert in Wegeners Richtung. Mist, das war so nicht geplant. Er hatte nicht vermutet, dass sich der Heimleiter um die Uhrzeit noch in seinem Büro aufhielt, sonst hätte er ja niemals die Abkürzung über dessen innig geliebte Grünfläche gewählt. Jetzt bloß locker bleiben und sich nichts anmerken lassen. Das gestaltete sich zunehmend schwierig mit dem Gewicht in seinem Rucksack. Mit einem schiefen Lächeln hob er grüßend eine Hand.

„Hallo Herr Wegener. Oh ´tschuldigung hab ich glatt übersehen Ihre neue Bepflanzung. Kommt nicht wieder vor. Bin auch schon weg. Tschüssi.“

„Hiergeblieben Freundchen. Wir sind noch nicht fertig. Was schleppst du da überhaupt mit dir herum? Du bist ja ganz aus der Puste.“

„Ach das ist nix, nur Bücher aus der Leihbibliothek. Dringende Lektüre für ... also zum Lesen, für Deutsch eben, Unterricht und so.“

Jörg merkte, wie er sich verzettelte und um weiteren Unannehmlichkeiten zu entgehen, drehte er flink ab und hastete mit ausladenden Schritten über den Rasen davon. Dadurch vernahm er nicht mehr Falks eindringlichen Zuruf. „Von wegen Leihbücherei. So ein Unfug. Wir sprechen uns noch.“

Wegener schmiss den geöffneten Fensterflügel geräuschvoll zu. Auch für den davoneilenden Jungen war der ohrenbetäubende Widerhall unüberhörbar. Dieser schwirrte lautstark, wie ein betriebsamer Propeller, hinter ihm durch die Luft und grub sich nachhaltig in sein Gedächtnis ein.

Verräterische Zeiten

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