Читать книгу Das Mädchen mit dem Flammenhaar - Janet Borgward - Страница 4
Neschwirr
ОглавлениеWie ein dunkler Schatten preschten die Reiter der Herren von Kandalar über magere Wiesen, vorbei an den schroffen Felsformationen der Ellar Hills, einer Gebirgskette in Merdoran. Nördlich des Massivs ragte dagegen ein einzelner graugrüner Bergkegel empor, auf dessen Gipfel ein monumentales Bauwerk thronte: die Burg von Kandalar. Eine Burg, so gewaltig und groß, dass eine Stadt darin Platz finden könnte. Mit zahlreichen spitzen Türmen, die wie Nadeln in den Himmel stachen, stets verborgen in einem dichten Wolkenkranz. Das gelblich schimmernde Mauerwerk aus Gold Quarzit überstrahlte die grobbehauenen stützenden Mauern aus Basalt und war bereits aus weiter Ferne sichtbar.
Die Reiter gaben ihren vor Anstrengung dampfenden Pferden die Sporen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit auf die Burg zu gelangen. Wuchsen am Fuße des Berges noch Gräser, schneidend scharf wie Messerklingen, verlor sich der Boden zusehends in unwegsames Gelände. Knöchernes, mannshohes Dornengestrüpp zerrte an den Gewändern der Männer und erschwerte ihnen den Aufstieg. Kurz bevor die imposanten, schmiedeeisernen Tore der Burg nach unten gelassen wurden, stob die Reiterschar über den Burgplatz. Noch im Galopp sprang Manold, der Wachmann, aus dem Sattel. Unwirsch schlug er die helfende Hand eines herbeigeeilten Dieners beiseite.
In seinen schulterlangen schwarzen Haaren, haftete noch der Staub vergangener Tage. Schwungvoll stieß er die Tür zur Schenke auf und zog sich einen Stuhl heran.
„Bring mir einen großen Krug kühles Bier und einen Batzen Fleisch. Ich bin am Verhungern“, wies er ein dürres Dienstmädchen an. Achtlos warf er seinen schweren Umhang über einen Stuhl, der unter der Last umzukippen drohte. Eine Hand fing ihn mühelos auf.
„Manold. Schon so zeitig zurück von eurer Reise?“
Die Stimme des weitaus jüngeren Mannes klang schneidend scharf.
„Lange genug um eine anständige Mahlzeit und …“
„Mein Vater wartet ungern auf Neuigkeiten, die du sicher zu berichten hast. Wenn du also so freundlich wärst. Ich bin sicher, dass von seinem Abendessen noch ein paar Bissen für dich übriggeblieben sind. Und zieh dir frische Kleidung an.“
Nur mühsam beherrscht erhob sich Manold, um der Aufforderung Folge zu leisten.
„Wie Sie wünschen, junger Lord.“
Dabei verzichtete Manold bewusst auf die korrekte Anrede ‚Guhl‘, um ihm eine Lektion zu erteilen. Er, Manold hatte schon gekämpft, als dem Bürschchen noch der Rotz aus der Nase lief.
„Mir scheint, du hast deine guten Manieren beim Pöbel in den Dörfern gelassen.“
Die rabenschwarzen Augen des jungen Lords blitzten gefährlich auf. Viele waren schon für leichtere Vergehen getötet worden. Reumütig senkte der Wachmann seinen Kopf.
„Ich bitte um Vergebung, Neschwirr-Guhl. Hunger und Durst haben mir wohl die Sinne vernebelt.“
Kurze Zeit später stand Manold mit knurrendem Magen, frischer Kleidung und vom Bad noch feuchtem Haar vor Mahilo-Esch, dem herrschenden Lord von Kandalar. Der dürre betagte Mann saß am Ende einer ausladenden, hölzernen Tafel und schob gerade einen Teller mit den Resten eines Ochsenknochens beiseite.
„Zu zäh für meine alten Zähne. Aber wenn du magst?“
Eine Reihe Goldzähne trat hinter spröden Lippen zum Vorschein. Manold hatte verstanden.
„Zu gütig, Mahilo-Esch doch ich habe mir in der Schenke etwas zurückstellen lassen.“
„Wollen wir hoffen, dass es lange haltbar ist. Hast du Neuigkeiten für mich, Wachmann?“
Manold trat von einem Fuß auf den anderen. Von den engen Reitstiefeln waren seine Füße jetzt noch geschwollen. Wie gerne hätte er sich nach einem üppigen Mal auf einer bequemen Liege ausgestreckt, während ein junges Mädchen ihm die verkrampften Waden massierte. Doch der Alte bot ihm keinen Platz an.
„Wir haben Getreide und Vieh eingetrieben.“
„Und?“
„In Gullorway haben wir ein verbotenes Buch entdeckt. Sein Besitzer verlor den Kopf.“
Manold strich sich stolz über den dichten Bart. Scheppernd flog der Teller mit den Essensresten vom Tisch, als Mahilo-Esch ihn mit seinem sehnigen Arm fortwischte, Gift und Galle speiend.
„Hast du nicht was vergessen?“
Die Brust wurde ihm zu eng, als Manolds Herz dagegen zu hämmern begann. Der Alte wusste es. Wie hatte er in der kurzen Zeit …
„Und eintausend Platons.“ Schweißperlen rannen Manold über die Stirn. Sein Hunger war verflogen.
„Die du dir einstecken wolltest!“ Mahilo-Esch war aufgesprungen. Selbst im hohen Alter von fast achtzig Jahren überragte er Manold. „Also überlege dir gut, ob deinem versoffenen Hirn nicht noch etwas Wichtiges entgangen ist.“ Lauernd sah er Manold an.
Fieberhaft dachte dieser nach, was der Alte noch meinen könnte. Plötzlich stand Neschwirr neben seinem Vater, ohne dass Manold ihn hatte hereinkommen hören. Der Sohn, der einmal Mahilo-Eschs Nachfolger sein würde. Flüsternd beugte Neschwirr sich zu seinem Vater herunter, der inzwischen wieder Platz genommen hatte.
„Sag mir, Manold. Was soll ich mit einem obersten Wachmann, wenn dieser blind und gierig ist?“ Mahilo-Eschs Stimme war mit einem Male leise doch dröhnte sie laut in Manolds Ohren. Jeder auf der Burg wusste, wozu der alte Lord fähig war.
„Ich mag alt sein, Manold, aber meine Sinne sind noch jung. Eure dagegen scheinen abzustumpfen, wenn eure Augen junge Mädchen mit kupfernem Haar übersehen.“
Also war es doch keine Sinnestäuschung gewesen. Doch als er einen zweiten Blick gewagt hatte, waren die Köpfe in der aufgebrachten Menge verschwunden. Manold stand wie versteinert da, indes Neschwirr mit geschmeidigen, lautlosen Schritten zu ihm schlenderte und Mahilo-Esch ihn weiter unter Beschuss nahm.
„Wie ich sehe, kommt die Erinnerung langsam. Doch zu spät, Manold. Die Zeiten sind schlecht und Frauen, gesunde Frauen, rar. Du weißt, dass wir nach der einen suchen, dem Mädchen mit dem Flammenhaar. Dich noch weiter durchzufüttern erscheint mir sinnlos.“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als Neschwirr, flink wie ein Geist, ein kleines juwelenbesetztes Langmesser unter seinem Überwurf hervorbrachte und Manold seitlich bis zum Heft in die Brust stieß. Ein sauberer Stoß. Absolut tödlich. Mit einer gereizten Grimasse quittierte Mahilo-Esch den Mord, der vor seinen Augen geschah.
„Lass ihn verschwinden und sorg dafür, dass nichts von seinem unreinen Blut weiterhin meinen kostbaren Boden besudelt.“
„Wie du wünschst, Vater.“
Neschwirr deutete eine Verbeugung an. Das Messer war wieder in den langen Ärmeln seines Gewandes verschwunden.
„Und ich will, dass du nach Gullorway reitest. Bring mir die Mädchen mit den roten Haaren. Eine von ihnen wird die Richtige sein und für die andere finden wir hier sicher auch noch Verwendung. Es ist mir egal, wie du das anstellst, aber sorge dafür, dass es niemanden aus dem Dorf mehr gibt, der darüber berichten könnte!“
„Eine einfache Aufgabe und ganz nach meinem Geschmack, Vater.“ Neschwirr richtete sich voller Stolz auf. Sein Vater hatte längst das Potential erkannt, das in ihm steckte. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war es für Neschwirr bald an der Zeit, dass er dessen Nachfolge übernahm.
„Enttäusche mich nicht“, setzte Mahilo-Esch nach.
Aufgebläht wie ein Gockel verließ Neschwirr den Raum. Er sprach zwei Männer aus seinem Gefolge an, auf deren Verschwiegenheit er vertraute. Kurze Zeit später war von dem törichten Manold nichts mehr zu sehen. Die dunklen Holzplanken aus geschliffenem Schiffsrumpf ließen nicht erkennen, was hier geschehen war.
Doch bevor Neschwirr aufbrach, gab es noch einiges zu regeln. Schlafen konnte er später.
„So spät noch auf den Beinen, Bruder?“
Neschwirr rannte geradewegs in seinen Halbbruder Amarott, dem Sohn einer jungen Hure, an der sein Vater Gefallen gefunden hatte und die zu eine der ersten Gelblinge mutierte, so erzählte man sich. Überall stand der siebzehnjährige im Weg herum.
„Genau das könnte ich dich fragen, Amarott. Ist es nicht schon längst Schlafenszeit für dich, kleiner Bruder?“
„Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf gerissen.“ Amarotts buschige Augenbrauen warfen sanfte Wellen. Ein Anflug von Spott umspielte seine Lippen.
„Dann sieh zu, dass du dir von Benoe ein Schlafmittel geben lässt. Ein Aufguss mit Melisse soll Kindern bei Schlafstörungen helfen.“
Amarott ließ sich diesmal nicht provozieren. Zu groß war seine Neugierde, um zu erfahren, was es mit dem großen, zugeschnürten Bündel auf sich hatte, das ein paar von Neschwirrs Vertrauten aus dem Esszimmer seines Vaters herausgetragen hatten.
„Bei Kindern, mag sein. Aber Benoe hat noch andere Vorzüge, die einen schläfrig machen können.“
„Sieh zu, dass du in dein Zimmer kommst, und steh mir nicht im Weg, kleiner Bruder.“ Langsam verlor Neschwirr die Geduld.
Behände trat Amarott beiseite und ließ Neschwirr ziehen. Dieser schlug einige Umwege ein, um den Schatten seines Bruders abzuschütteln. Sein Weg führte ihn schließlich über den nun leeren Burghof, vorbei an den verschlossenen Fensterläden des Schmieds und weiter durch verschlungene Gassen, an den Mauern hochherrschaftlicher Häuser entlang.
Die Burg bot mehreren hundert Menschen Platz, fast ausschließlich Männern. Die Frauen von Kandalar hingegen fielen seit Jahren einer rätselhaften Seuche zum Opfer oder mutierten zu Gelblingen, schauderhaften Wesen mit vogelartigen kahlen Köpfen und Klauen. Mahilo-Esch hatte verfügt, dass diese geisterhaften Wesen in den Verliesen der Burg gehalten wurden, an einem Ort, zu dem nur einige Auserwählte Zugang hatten.
Auf leisen Sohlen und weiter im Schutz der Dunkelheit erreichte Neschwirr letztlich sein Ziel, das Haus des alten Färbers. Was er an ihm schätzte, war seine Verschwiegenheit, wenn auch sein Lohn immer unverschämter wurde. Aber ein in die Jahre gekommener Mann lebte schließlich nicht ewig.
„Was führt Sie zu so später Stunde noch in meine bescheidenen Räumlichkeiten, Neschwirr-Guhl?“
„Lassen wir das Theater. Du bist nicht bescheiden und ich bin in Eile. Ich brauche zehn Männer, die keine Fragen stellen und einen langen Ritt nicht scheuen. Vier Späher, die vorausreiten und das Gelände sichern. Dazu Gelblinge, die ihre letzten Gehirnzellen einzusetzen wissen und bedingungslos gehorchen. Kannst du mir da aushelfen?“
Neschwirr befingerte ein Stück frisch gegerbtes Leder, das so weich war wie die Haut eines jungen Mädchens.
„Der Zufall will es, dass mir einige Männer noch einen Gefallen schulden.“ Der Färber lächelte und ließ dabei ein paar faule Zahnstummel sehen. Das Gold der Zähne war nur den Lords von Kandalar vorbehalten. „Und bei den Gelblingen, nun ja. Sie werden immer nützlicher …“
„Gut.“ Neschwirr gab noch weitere Anweisungen und machte dann einen Treffpunkt aus.
„Da wäre noch eine Kleinigkeit, Neschwirr-Guhl.“
„Wie viel?“
„Nun, ich denke eintausend Platons wären eine angemessene Summe.“
„Überspann den Bogen nicht, Färber. Mein Vater könnte sich wundern, woher dein plötzlicher Reichtum stammt. Einhundertfünfzig Platons jetzt und weitere zweihundert, wenn der Auftrag ausgeführt ist und ich zurück bin.“
„Welche Garantie habe ich, dass ihr gesund zurückkommt, Neschwirr-Guhl? Die Herren von Kandalar sind nicht überall beliebt.“
„Das ist mein Preis. Nimm an, bevor ich es mir anders überlege.“
„Vierhundert jetzt und vierhundert nach eurer erfolgreichen Reise würden mein Gewissen beruhigen.“
Neschwirr griff in die Falten seines Umhangs und zählte dreihundert Platons ab, die er dem Färber auf den fleckigen Holztisch warf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er den stickigen Raum. Es würde der letzte Gefallen sein, um den er den alten Halsabschneider bat.