Читать книгу Das Mädchen mit dem Flammenhaar - Janet Borgward - Страница 6

Rauch über Gullorway

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„Wo warst du gestern?“, flüsterte Charise mir am Frühstückstisch zu.

„Später.“

Ich musste in die Schule. Charise blickte fragend zwischen meiner Mutter und mir hin und her. Vielleicht dachte sie, dass wir uns gestritten hatten. Sollte sie glauben, was sie wollte. Hauptsache sie hörte auf, mich weiter mit ihren Fragen zu löchern. Ich brauchte Zeit.

Mein Vater war erst spät in der Nacht nachhause gekommen, und hatte uns kurz nach Sonnenaufgang wieder verlassen. Ohne ein Wort. Ich verstand sein Verhalten nicht, meine Mutter verstand mich nicht, und sagen durfte ich zu niemandem etwas. Aber ich musste mit jemandem darüber reden, was gestern geschehen war, sonst würde ich verrückt werden. Miles, fiel es mir ein. Er wäre der Richtige. Ich würde mit ihm angeln gehen. Dann würde ich ihn fragen, was er von der Angelegenheit hielt. Mit ihm konnte ich über alles reden. Aber die Schule … „Charise? Heute gehst du mir mal zur Hand, hm?“ Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen Tagträumen zurück und rief bei meiner Schwester ein genervtes Augenrollen hervor. „Und wir sprechen uns nach der Schule noch, Avery“, wandte Mutter sich dann mit durchdringendem Blick an mich. Ich griff nach meinem Lederrucksack, packte die nutzlosen Karten hinein, ein Messer mit meinen Initialen im Knauf und meinen Lesestein. Doch mein Ziel war nicht die Schule. In Gedanken versunken hetzte ich durch die staubigen Straßen von Gullorway. Alles schien wie immer. Kein Gewitter am Horizont. Vor einem frisch getünchten Haus in safrangelb, mit schiefen, schneeweißen Fensterläden, hielt ich an. Miles wohnte hier mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und seinem zehn Jahre älteren Bruder. Als hätte er gespürt, dass ich zu ihm wollte, öffnete sich die Eingangstür. „Nanu? Du kannst es wohl gar nicht erwarten in die Schule zu kommen.“ „Vergiss die Schule, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ Zwei strahlend blaue Augen schauten mich erwartungsvoll an. Auf dem markant geschnittenen Gesicht mit dem kleinen Grübchen im Kinn zeichneten sich bereits erste Stoppeln eines Bartes ab. Charise behauptete immer, Miles sähe ausgesprochen gut aus. In wenigen Jahren würden ihm die Frauen unseres Dorfes reihenweise zu Füßen liegen, aber ich wäre ja offensichtlich blind für solche Dinge. „Gehen wir angeln“, sagte ich zu ihm, bevor er sich anders entscheiden konnte. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah zum Himmel auf, als würde der voller Fische hängen. „Echt? Du willst die Schule sausen lassen fürs Angeln? Dann hast du deine aber zu Hause vergessen genauso wie deinen Hut.“ Er stupste mich an, wollte noch einen Scherz hinzusetzen, wie ich von seinem Gesicht ablas, hielt sich dann aber zurück. „In Ordnung. Du kannst eine von meinen nehmen. Brauchen wir Köder?“ Unentschlossen zuckte ich mit den Schultern. „Du bist heute nicht sehr gesprächig, was? Stress mit deinen Eltern?“ „Lass uns gehen“, sagte ich nur und eilte voraus, in Richtung des Mukonor. Ich wusste, er würde mir folgen. Kurz darauf schloss er zu mir auf. Zwei Angeln in der Hand und eine kleine Büchse, wahrscheinlich randvoll gefüllt mit wimmelnden Ködern. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Die Luft war drückend heiß. Schon jetzt. Kein Vogelgesang war zu hören. Seltsam. „Ist was passiert?“ „Wieso?“ „Du wirkst so komisch. Du willst nicht in die Schule und gestern bist du auch nicht mehr vorbeigekommen.“ „Ich musste meinem Vater noch helfen.“ „Sicher, aber du solltest dich nicht ausnutzen lassen. Es war schließlich der siebte Tag, der einzige freie Tag in der Woche. Mit der flachen Hand schlug er eine Fliege auf dem Oberschenkel platt, die eine ekelige Blutspur hinterließ. Seine Hand wischte er am Hosenboden ab. Ich blieb stehen und sah ihm fest in die Augen. „Ich lasse mich nicht ausnutzen“, fuhr ich ihn an. „Außerdem hast du gerade einen fetten Köder plattgemacht“, setzte ich wieder versöhnlicher hinzu. Wir gingen weiter, über dürre Hügel, die einst mit saftigen grünen Gräsern bewachsen waren. Die Luft flirrte vor Hitze und verschwamm am Horizont zu einem diffusen Licht. Wir schlenderten nicht auf unserem gewohnten Pfad zum Fluss, sondern bogen ein Stück weiter rechts in den Wald hinein ab, der uns Schutz vor der Sonne bot. Miles schien es ganz recht zu sein, der Schule fernzubleiben. Wir hatten eh nur noch wenige Wochen bis die Ausbildung begann, die unsere Eltern für uns vorgesehen hatten. Bei einem Sattler, Glasmacher, Zimmermann oder mit viel Glück bei einem Händler. Letzteres würde ich bevorzugen, wenn ich denn wählen dürfte. Doch für Mädchen blieb nur eine Schneiderlehre und Heirat. Vor Jahren hatte es eine dunkelhäutige Heilerin in Gullorway gegeben, doch diese war irgendwann nicht mehr von ihrer Kräutersuche zurückgekehrt und hatte ihr Wissen mitgenommen. Von da an war es uns Mädchen verboten über die Grenzen Gullorways hinaus zu gehen. Miles schien es nicht zu stören, dass ich heute so schweigsam war, denn er redete umso mehr. „Du hast gestern echt was verpasst. Cole und Trevor hatten was Selbstgebranntes, Hochprozentiges dabei. Nachdem sie etliche Flaschen herumreichten und selbst davon am meisten tranken, konnten sie sich anschließend kaum noch auf den Beinen halten. Dabei machte Trevor Shannon schöne Augen. So“, er klimperte mit den Wimpern wie ein Mädchen, „die ihn in dem angetrunkenen Zustand jedoch kühl abblitzen ließ. Und dann deine Schwester und Denian. Ich dachte, sie vernascht ihn gleich an Ort und Stelle. Ist sie so wild darauf Mutter zu werden, oder warum bietet sie sich ihm so an?“ Mitunter war Miles wie ein Waschweib. Aber es entging ihm nichts. „Vielleicht. Dann könnte sie von zu Hause ausziehen und müsste sich von unseren Eltern nichts mehr sagen lassen.“ „Ach was.“ Er machte eine wegwerfende Bewegung. „Das kann doch nicht ihr Ziel sein, oder? Dann steht sie doch wieder am Herd, bloß, dass es dann der eigene ist.“ Miles lachte herzhaft über seinen eigenen Witz. Es tat gut, ihn lachen zu hören. Langsam wich meine innere Anspannung. „Und du, was willst du später mal machen?“, fragte ich ihn nach einer Weile, als hätte er eine Wahl. „Du meinst, wenn ich mal groß bin?“ Er sah mich sorgenfrei an. Fast vergaß ich, weswegen ich ihn von der Schule fernhielt. „Tja, was werde ich wohl machen?“ Sein Lächeln verschwand augenblicklich. „Wahrscheinlich werde ich edles Mobiliar herstellen, wie mein Vater und davor sein Vater und dessen Vater schon.“ Miles blieb plötzlich stehen, als hätte er etwas gehört. Unwillkürlich lauschte auch ich in den Wald hinein. „Hörst du das?“ Er hielt sich eine Hand hinters Ohr. „Die Ferne ruft mich. Sie lockt mich über die Grenzen von Gullorway hinaus, in die goldene Stadt von Timno Theben, oder übers Meer hinaus nach Perges.“ Seine Augen begannen plötzlich vor Begeisterung zu leuchten. Mit der Hand griff er nach einem imaginären Ziel, hinter dem Horizont. Ich schüttelte belustigt den Kopf. Wir gingen weiter, folgten auf einem Trampelpfad dem Bachlauf, der in den Mukonor mündete, einem grünlich schimmernden Fluss, sonst reich an Fischbeständen und Flusskrebsen, jetzt kaum noch einen Meter tief. Schwatzend traten wir aus dem Wald hervor. „Komm, wir gehen zum Steg. Von dort aus beißen die Fische besser.“ „Nein, lass uns hierbleiben, Miles. Hier ist mehr Schatten.“ „Du hättest deinen Hut mitnehmen sollen“, wies er mich zurecht. Ich ärgerte mich darüber, so übereilt das Haus verlassen zu haben. Miles kramte in seiner Dose nach dem passenden Köder für unsere Angelruten, dann warfen wir die Schnüre in hohem Bogen in den friedlich dahinziehenden Mukonor. Selten wagten wir uns so weit entfernt von Gullorway hinaus. Man wusste nie ob nicht die Herren von Kandalar das Gebiet durchstreifen. „Was werden wir fangen?“, fragte Miles und zog die Spule etwas nach, bevor er die Rute in den Boden stieß. „Ich denke Karpfen.“ „Nein, glaube ich nicht. Du fängst einen dünnen Aal, so dünn wie mein kleiner Finger, höchstens.“ „Wir werden ja sehen.“ Er riss einen langen Grashalm aus und kaute darauf herum. „Also, wirst du es mir erzählen?“, fragte Miles. „Was erzählen?“ Er hielt mit dem Kauen inne und spuckte den Halm wieder aus. „Weswegen du mit mir Angeln wolltest.“ „Brauche ich dafür einen Grund? Wir gehen doch sonst auch angeln.“ „Ja, aber nach der Schule.“ Ausweichend blickte ich auf das sich kräuselnde Wasser des Mukonor. „Da war gestern so ein Donnergrollen“, begann ich. „Wo, bei uns? Es war doch strahlend blauer Himmel.“ „Ja, ich weiß, aber bei uns auf dem Hof …“, ich schrak zusammen, als ich herannahende Schritte hörte. „Habe ich euch erwischt!“ Triumphierend kam Charise auf uns zu. Wie hatte sie uns hier gefunden? „Solltet ihr nicht in der Schule sein? Du musst nicht gleich rot zu werden, Schwesterherz.“ „Ich werde nicht rot.“ Natürlich wurde ich das. Wahrscheinlich war das Leuchten noch auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Miles stöhnte auf. „Oh Mann, Charise. Du kommst in einem denkbar ungünstigen Moment. Gerade wollte Avery mir ihr Herz ausschütten. Hast du nichts anderes zu tun als uns nachzulaufen? Entzückende Kleidchen nähen oder mit Denian knutschen, wie gestern Abend?“ „Und warum sitzt du hier mit meiner hübschen, kleinen Schwester und bist nicht in der Schule?“, herausfordernd sah sie ihn an. „Wolltet ihr etwa …“ „Charise, du nervst. Wie hast du uns überhaupt gefunden?“ Ohne zu antworten ließ sie sich zu uns ins Gras nieder. „Och, das war leicht. Viel Auswahl gibt es hier ja nicht. Mutter hat mich geschickt, damit ich dich zur Schule zurückbegleite.“ „Ganz sicher“, murmelte ich. „Miles, ich glaube, bei dir hat ein Fisch angebissen.“ Charise blickte mit todernster Mine zum Fluss.“ „Lenk nicht ab, Charise. Warum bist du uns gefolgt?“ „Doch, da war was“, beharrte sie. „Na prima, dann kannst du uns gleich beim Ausnehmen der Fische helfen“, neckte Miles sie, da er wusste, dass sie sich davor ekelte. Tatsächlich bog sich nun seine Angel durch. Miles sprang plötzlich auf, zog mit einem Ruck an der Angelrute und spulte die Schnur auf. Ein zuckender, silbern schimmernder Fisch tanzte über dem Wasser. Ein Barsch? Nein, dafür war er zu klein. Seine Schuppen schimmerten wie eine auf Hochglanz polierte Rüstung. Die Rückenflossen waren indigoblau. „Was ist denn das für ein Fisch? Kennt den einer?“ Miles keuchte vor Anstrengung. Der kleine Fisch schien über ungeheure Kräfte zu verfügen. „Da fragst du die Richtigen“, stieß Charise hervor. Dabei sah es nicht wirklich so aus, als würde der Fisch um sein Leben kämpfen. Vielmehr spielte er mit Miles, wenn da nicht der Angelhaken in seinen Kiemen stecken würde. In den nun immer größer werdenden Augen des seltsamen Fisches trat ein rotglühender Schimmer, wie das Flackern von Feuer und er sah mich an. Es war, als wollten mich diese Augen in ihr Innerstes ziehen. Rauch quoll in kleinen Schlieren hinter den Kiemen hervor, vorbei an dem Angelhaken, der noch darin steckte. Die nun ungewöhnlich rot flammenden Augen des Fisches stierten mich weiter an. Ob das an der Hitze lag? Ich hätte den Sonnenhut mitnehmen sollen. Doch etwas an der Art, wie dieser Fisch mich weiterhin in seinen Bann zog, versetzte mich in äußerste Alarmbereitschaft. Ich konnte es nicht erklären, aber ich wusste, dass wir in Gefahr waren. „Gib ihn frei, Miles! Schnell!“, rief ich, plötzlich von einer unerklärlichen Unruhe erfasst. „Was? Bist du wahnsinnig geworden? Sieh ihn dir an, er ist ein Prachtexemplar.“ Plötzlich einsetzende Kopfschmerzen umspannten meinen Schädel wie einen zu eng sitzenden Helm. „Avery, schrei doch nicht so! Ich lass ihn ja schon vom Haken. Siehst du? Er schwimmt wieder friedlich davon. Du meine Güte, du benimmst dich ja wie ein Baby.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich schrie. Dann war der Kopfdruck schlagartig fort. Wütend rollte Miles den letzten Rest der Angelschnur auf. Charise war bleich wie die Wand. Mit offenem Mund starrte sie mich an. „Was?“, fragte ich sie unwirsch. Miles sah von Charise zu mir. „Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen?“ „Hast du einen Sonnenstich, oder was? Und überhaupt: Wo ist dein Hut?“, fragte sie, als sie sich wieder in der Gewalt hatte. „Ich kann es euch jetzt nicht erklären, aber wir müssen diesen Platz sofort verlassen! Irgendetwas geht hier vor, wir müssen nach Hause!“ Ich sah gerade noch, wie Miles den Zeigefinger vor dem Kopf zu kreisen begann, um Charise klarzumachen, dass ich offensichtlich völlig durchdrehte. Ärgerlich schulterte ich meinen Rucksack und verfiel bereits im Laufschritt. Hinter mir hörte ich Miles rufen. „Avery, verdammt so warte doch!“ Ich schlug einen anderen Weg ein als den, den wir heute Vormittag genommen hatten. Während ich rannte, als wäre ein Dämon hinter mir her, versuchte ich meine Gedanken neu zu ordnen. Es war ähnlich gewesen wie gestern, als ich die Karten legte. Da waren auch die Geräusche um mich herum mit einem Mal verstummt. Und der Fisch, der mich mit roten Augen angesehen hatte. Ob es eine Warnung war, fragte ich mich in dem kurzen Moment, in dem mein Verstand wieder funktionierte, oder wurde ich langsam verrückt? Aber der Vogel, den ich gezeichnet hatte und der kurz darauf tatsächlich auf Charise‘ Schulter … „Avery, können wir kurz mal anhalten? Ich habe Seitenstiche. Wir können die Strecke doch nicht in einem durchlaufen“, stöhnte Charise hinter mir. Sie blieb, nach vornübergebeugt, schnaufend stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. „Ich renne vor, ihr kennt ja den Weg.“ In gleichbleibendem Tempo jagte ich durch den Wald, begleitet von unterschwelligem Donnergrollen aus der Ferne. Unter mir schien die Erde zu beben. Ich war mir nicht sicher, ob das an meinem energischen Laufschritt lag, oder ein Erdbeben Gullorway erschütterte. Hätte ich geahnt, was uns erwartete, ich hätte mir Flügel gewünscht. Rauch war das erste, was mir in die Nase stieg. Dann gegrilltes Fleisch, nein, verbranntes Fleisch. Der Himmel färbte sich schwarz, braungelb und rotflackernd. Als würde ein unvorstellbares Unwetter aufziehen. Eine Katastrophe musste Gullorway heimgesucht haben, da war ich mir sicher. Verdammt, wie weit war der Weg denn noch? Ich lief die Strecke nicht zum ersten Mal, aber heute schien sie nicht enden zu wollen. Keuchend stolperte ich aus dem Wald heraus und sah überall niedergebrannte Felder. Als ich näher kam wurde der Brandgeruch so unerträglich, dass ich würgen musste. Tierkadaver von Pferden und Rindern lagen überall verstreut und dazwischen – menschliche Überreste. Wie in Trance taumelte ich vorwärts, doch je näher ich Gullorway kam, umso unwirklicher wurde das Szenario. Ganz Gullorway stand in Flammen, die Hitze war selbst am Rand des Dorfes noch zu spüren. Das Feuer wütete überall. Ob ein Blitz eingeschlagen war? Das hätte das Donnern erklärt doch ohne Wolken? Warum war niemand da, um dieses Inferno zu löschen? Beißender Rauch machte mir das Atmen schwer und hinderte mich daran, weiter in das Dorf zu gelangen. Verzweifelt überlegte ich, wo sich die Brunnen befanden. Alles sah so anders aus. Glas zersplitterte, Holzbalken und Dächer krachten zischend und donnernd zusammen und begruben alles unter sich. Leichen, überall verkohlte Leichen und dazu dieses Tosen in den Ohren. Alles wurde unklar, mir wurde schwarz vor Augen. „Miles, schnell! Hilf mir mal!“ Dumpf hörte ich vertraute Stimmen um mich herum. „Ist sie tot?“ Eine schlanke Hand tastete nach meinem Puls. „Nein. Sie lebt zum Glück.“ „Was ist mit Gullorway passiert?“, fragte ich benommen und hatte doch Angst vor der Antwort. „Ganz Gullorway brennt. Wir haben dich hier regungslos liegen sehen.“ Miles schluckte, ihm versagte die Stimme. Von Weinkrämpfen geschüttelt lagen wir uns in den Armen, er und ich. Charise stand einfach nur da. „Denkst du, dass du gehen kannst?“, fragte Charise nach einer Weile. Sie wirkte seltsam emotionslos. Vielleicht war es der Schock. Miles half mir auf. Sein Gesicht eine einzige Maske. Wie Schlafwandler stolperten wir gemeinsam durch das Chaos, das die Flammen angerichtet hatten. So schnell, so gründlich. Die ehemals bunten Fassaden, die den Charme unseres Dorfes ausmachten, waren nun einheitlich schwarz, rußig. Unter den Trümmern die Menschen begraben. Niemand hatte entkommen können. Die Flammen wurden kleiner, fanden kaum noch Nahrung. Schließlich schwelten nur noch vereinzelte Brandherde. Eine eiserne Tür hing seltsamerweise noch in den Resten eines Rahmens. War hier nicht die Schmiede gewesen? Ein Kettenschloss baumelte noch davor, mit grob ineinander verschlungenen Ringen, wie unser Schmied niemals eines angefertigt hätte. Gerade als ich mir das Kettenschloss genauer ansehen wollte hörte ich, wie Miles und Charise sich hinter mir übergaben. Dumpf vor fassungslosem Schmerz blickte ich mich um. Charise war auf die Knie gesunken, ihren Körper vor und zurück wiegend. Wimmernd stierte sie auf einen verkohlten Leichnam mit ausgerissenem Arm. Kein Feuer brachte so etwas fertig. Ich wollte sie beruhigend in die Arme nehmen, doch sie trat nach mir. „Geh weg, du Beschwörerin des Unglücks! Du und Vater, ihr habt es gewusst, deswegen seid ihr fortgelaufen.“ Ihre letzten Worte gingen unter in ersticktem Schluchzen. „Wie sollte ich so etwas erahnen können?“ Charise presste die Lippen fest aufeinander und sah mich voller Hass an. „Du warst es doch, die Vater die Karten gelegt hat, danach ist er fortgegangen.“ Ich war so durcheinander, dass ich sie gar nicht fragte, woher sie das wusste. „Müsst ihr euch ausgerechnet jetzt streiten, während um uns herum nur …“ Miles brachte die Worte nicht über seine Lippen. Alles war so surreal. „Wir müssen nachsehen, ob es Überlebende gibt“, brachte ich hustend hervor. Der Rauch des fast erloschenen Brandes lag wie bitteres Gift auf der Zunge und drang weiter die Kehle herunter. „Sie sind tot, Avery. Sie sind alle tot“, redete Charise mit einer Stimme so kalt wie Eis auf mich ein. „Woher willst du das wissen? Es muss doch Überlebende geben. Vielleicht ist Mutter verletzt und braucht unsere Hilfe.“ „Sieh dich doch um!“, fauchte sie. „Niemand hat dieses Inferno überlebt.“ Entschlossen machte ich mich auf, stolperte über rauchende Trümmer und menschliche Überreste auf der Suche nach unserem Haus. Hinter mir hörte ich Miles wimmern. Ich blickte mich zu ihm um und sah ihn sich über einen verkohlten Leichnam beugen. Zitternd und würgend führte ich ihn von seinem Elternhaus fort und strauchelte dabei über eine Eisenstange. Für einen flüchtigen Moment hatte ich den Gedanken, dass diese Stange nicht hätte hier sein sollen, genauso wie das Kettenschloss. Wir irrten durch Gullorway auf der Suche nach Überlebenden, Charise in sicherem Abstand zu mir. Fast hätte ich es übersehen, unser Zuhause. Dabei war es das einzige Gebäude weit und breit, das noch nicht völlig zerstört war. Hoffnung keimte in mir auf. Doch als ich versuchte ins Innere zu gelangen, stürzten die verbliebenen Wände wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Funken stoben umher und rieselten als heißer Regen auf uns herab, fraßen sich durch die leichte Kleidung bis auf die Haut. Panisch wälzten wir uns auf dem Boden, um die Funken zu ersticken. Die Karten, fiel es mir wieder ein. Warum hatten sie mir dieses Unglück nicht vorausgesagt? Charise hatte recht, vielleicht hätte Gullorway gerettet werden können. Wütend riss ich mir den Rucksack herunter, suchte darin die abgegriffenen Karten. Ein letztes Mal sah ich sie mir an, die Vorderseite immer noch weiß, dann warf ich sie entschlossen ins Feuer. Plötzlich war Charise an meiner Seite und versuchte mich mit aller Macht daran zu hindern. „Nein, Avery, das darfst du nicht tun!“ Hastig begann sie die schmauchenden Karten wieder aus dem Feuer zu ziehen, obwohl die Flammen zischend nach ihren Fingern leckten. „Bist du noch ganz dicht? Eben noch wolltest du mich und meine Karten für das Unglück verantwortlich machen und jetzt willst du sie …“ Dann passierte alles gleichzeitig. Charise schrie wie am Spieß. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah sie an mir vorbei zu Miles, der von drei, vier, gelblich aussehenden Kreaturen umzingelt war. Nie zuvor hatte ich derartige Wesen gesehen. Groß wie ein Mensch doch seltsam verformt. Nichts passte zusammen. Mit vogelartigem kahlem Kopf doch den kalten Augen eines Reptils. Auf dem Rücken verhornte bewegliche Platten wie ein Schutzschild. Die Schultern schmal, mit kümmerlichen Klauen und langen Krallen daran. Der restliche Körper dagegen muskulös, getragen von zwei kräftigen Beinen, deren sichelartige Krallen, wie Messer in die verbrannte Erde schnitten auf der Suche nach Halt. Während sie Miles taxierten, ruckte ihr birnenförmiger Kopf ständig vor und zurück, das Maul mit den rasiermesserscharfen Zähnen weit aufgerissen. Fiepend und fauchend stritten sie um Miles, bissen sich gegenseitig in die harten Rückenpanzer oder schnappten nach den langen Hälsen. Hastig gruben sich meine Hände in den staubigen Grund. Dann stürmte ich auf Miles und seine gelben Angreifer zu. „Lauf!“, schrie ich. Miles flüchtete unter meinem Arm hindurch, indes ich den Wesen Dreck entgegenschleuderte. Ungelenk versuchten sie diesen aus den Augen zu entfernen. Dabei waren ihnen ihre überlangen Krallen nur hinderlich. Den Moment ihrer Verwirrung ausnutzend, suchte ich hektisch den Boden nach meinem Rucksack ab. Da lag er, praktisch vor Miles Füßen. Blitzschnell griff ich danach und tastete fast fiebrig im Inneren nach meinem Dolch. Inzwischen hatte sich einer der Gelben schon fast von dem Dreck befreien können. Schnüffelnd ruckelte sein Kopf zu mir herüber. Dann kam er in gekrümmter Haltung langsam, federnd auf mich zu. Einerseits starr vor Schreck, war ich zum anderen fasziniert von seiner Andersartigkeit. Die gelbliche Haut umspannte den kahlen Schädel, als wäre sie irgendwie zu eng. Sie war überzogen mit blauen, wulstigen Äderchen, die wie Flüsse auf einer Weltkugel aussahen. Seine irisierenden Augen, die mal gelb, mal grün oder rot schimmerten, fixierten mich dabei völlig unabhängig voneinander. Den Kopf zum Angriff gesenkt, schnappte er nach mir. Blitzartig stieß ich zu. Doch aus meiner ungünstigen Position am Boden heraus streifte ich ihn nur unterhalb seines weit aufgerissenen Mauls. Mit einem Ruck wollte er seinen Kopf zurückziehen, dabei schlitzte mein Dolch ihm den Kiefer auf, spaltete ihn geradezu in zwei Hälften. Irre vor Schmerz jaulte er in einem ohrenbetäubenden Pfeifton. Im Todeskampf wand er sich einmal um seine eigene Achse, versuchte erneut nach mir zu treten, bevor er zuckend zu Boden ging und zu Asche zerfiel. Nun umkreisten mich auch die anderen drei Gelben. Mit federnden Schritten kamen sie auf mich zu. Panisch versuchte ich auf den Rücken des Gelben einzustechen, der mir am nächsten war. „YEMAHL!“, hörte ich die verzweifelte Stimme meiner Schwester hinter mir rufen. „Du musst den Dolch bei seinem Namen rufen, YEMAHL!“ „YEMAHL!“, schrie ich und da begann der Dolch in meiner Hand zu leuchten. Heller als jede Fackel. Sogar heller als die Sonne. Und, als wäre der eben noch harte Rückenpanzer des Reptils plötzlich aus Butter, glitt die Klinge auf einmal bis zum Heft hinein. Das Wesen bäumte sich unter Schmerzen windend auf, bevor es ebenfalls zu Asche zerfiel, die der Wind in alle Richtungen verwirbelte. Fauchend zogen sich die beiden verbliebenen gelben Geschöpfe hüpfend in langen Sätzen zurück und verschwanden schließlich in den Rauchschwaden von Gullorway. „Wir müssen weiter. Bevor die Nacht kommt, werden sie nach uns suchen“, hörte ich Charise mit Bestimmtheit sagen. „Sie? Wer sind sie? Weitere Gelbe?“ Allein der Gedanke daran ließ mich frösteln. Ob der seltsame Fisch mit den roten Augen mich davor hatte warnen wollen? Doch behielt ich meine Gedanken für mich. „Gelblinge. Sie gehören zu den Herren von Kandalar und diese werden nicht eher ruhen, bis sie uns gefunden haben.“ „Dann haben sie Gullorway angezündet? Aber warum? Sie haben doch mehr als genug bekommen und dazu noch eintausend Platons.“ „Sie haben nach uns gesucht. Nach dir und mir.“ „Woher willst du das wissen, Charise?“, fragte Miles. „Und wie hast du mein Messer genannt, bevor es so seltsam glühte?“ Charise überging meine Frage und sah Miles an. „Frag Avery doch mal, warum ihre Karten plötzlich keine Bilder mehr haben, aber Bilder, die sie malt, lebendig werden.“ Charise griff in ihre zerrissene Hosentasche und zog ein zerknülltes Papier heraus. Als sie es entfaltete, erkannte ich den von mir gezeichneten Vogel darauf.


Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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