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Kapitel 1

Lüneburger Heide

Heidekreis, Anfang Mai 2020

Die Birken standen zu weit auseinander.

Yosh stand am Schlafzimmerfenster, blickte in den Garten hinaus und versuchte ein Problem zu lösen. Die Birken standen zu weit auseinander. Die Lichterkette war zu kurz. Siebeneinhalb Meter, ein bunter Lampion neben dem nächsten. Es hätten neun Meter sein müssen. Ein Vermessungsfehler.

Yosh kniff die Augen zusammen und verschob die linke Birke um ein kleines Stück.

Na bitte.

Das Smartphone summte. Yosh blinzelte. Die Birke rückte wieder an ihren ursprünglichen Platz. Blätter und Astgabeln grinsten Yosh triumphierend an.

Es war Fenja. Yosh wusste immer, wenn sie anrief. Das Telefon vibrierte auf eine ganz bestimmte Weise, und sein Herz vibrierte mit.

»Na?« Fenja lächelte vom Display. Sie war ungeschminkt. Ihr Haar war länger geworden. Inzwischen bedeckte es ihre Ohrläppchen. Yosh sah sich selbst durch die Kamera. Er war blass, wie immer. Die schwarze Sportjacke verstärke den Effekt. Stubenhocker-Look, heute kombiniert mit blau­schwarzen Augenschatten.

»Was machst du?«, fragte Fenja.

»Ich muss eine Lichterkette kaufen.«

Natürlich. Eine neue Kette musste her. Wenn Fenja da war, dann lösten sich alle Probleme von selbst.

»Neuneinhalb Meter«, sagte Yosh.

»Nimm zehn.« Da war keine Ironie in ihrer Stimme. Nicht das kleinste bisschen. »Gehst du laufen?«

»Was?«, fragte Yosh.

»Die Jacke.«

Yosh tastete nach dem Softshellkragen. »Ja. Laufen.«

»Gut.«

Sie warteten. Yoshs Kopfhaut kribbelte, er strich sich die Haare zurück. »Was macht Hamburg?«

Er hörte sie durch die Wohnung gehen, auf dem Balkon drehte sie die Kamera. Yosh sah Häuser, Straßen und Autos, Motorenlärm drang herauf. Eine Möwe schrie.

»Alles noch da«, sagte Fenja.

»Warte kurz.« Yosh ging an sein eigenes Fenster, richtete die Kamera ins Freie und bewegte sie langsam. »Die Skyline Lüneburger Heide. Man beachte zwei Birken, die viel zu weit auseinander stehen. Im Hintergrund der Höpenberg, Felder und Waldwege, ideal zum Ausreiten. Das Haus liegt in Alleinlage, viel Platz, eigenes Pferd vorhanden.«

Die Möwe schrie wieder. Der Hamburger Himmel war grau. Über der Heide schien die Sonne. Garten, Bäume und Streuobstwiese lagen unter blauem Himmel. Ein Postkartenmotiv.

»Ich kann Judy sehen«, sagte Fenja.

Yosh kniff die Augen zusammen. Hinter der Streuobstwiese wanderte ein brauner Fleck über die Weide und rupfte Grasbüschel aus. Wenn Fenja jetzt hier wäre, würde sie das Fenster öffnen, die Finger in den Mund stecken und pfeifen. Die kleine Stute würde den Kopf wenden und Fenja würde ihr zuwinken.

Von Hamburg aus funktionierte das nicht und Yosh konnte nicht auf den Fingern pfeifen.

»Sie fehlt mir.« Der verspielte Ton war aus Fenjas Stimme verschwunden.

»Du fehlst ihr auch.«

Eine Weile atmeten beide schweigend in die Kamera.

»Du kommst doch?«, fragte Yosh. »Zur Party, meine ich.«

»Yosh–«

»Bitte. Ich schaffe das nicht ohne dich.«

»Es ist nur ein Release.«

»Eben.«

Eine Party bedeutete, es würden Menschen da sein. Leute, mit denen er reden musste. Es bedeutete Smalltalk, Dauerlächeln, Händeschütteln, in Gedanken Rachmaninow spielen und dabei hoffentlich die richtigen Töne treffen.

»Du kannst das, Yosh.«

»Ja.« Er nickte hastig. »Natürlich. Aber du kommst doch?«

Sie seufzte. Es war ein sehr kleines Geräusch. »Ich hab den Termin notiert. Samstag. Release-Party bei uns zu Hause. Bisher steht nichts anderes im Kalender.«

Wieder nickte Yosh. »Okay. Gut. Prima.« Er räusperte sich. »Tja, also …«

»Du wolltest laufen gehen«, erinnerte sie ihn.

»Richtig.«

»Bis dann.« Sie wartete noch einen Moment, dann drückte sie ihn weg.

»Ich liebe dich«, sagte Yosh zu dem leeren Display. Er warf das Telefon beiseite. Es landete auf Fenjas Kissen und schlug eine Delle in den unberührten Bezug.

»Scheiße«, murmelte Yosh.

Das Telefon klingelte wieder. Diesmal war es jemand anderes; das wusste er, ohne hinzusehen.

Yosh drückte auf Annahme. »Hey, Vero. Was kann ich für dich tun?«

****

Sie war schon wach. Der Küchentisch war halb gedeckt. Die Cornflakespackung stand neben dem Orangensaft. Hannes holte die Milch aus dem Kühlschrank und schenkte Kaffee ein.

»Guten Morgen.« Er stellte ihr die Tasse hin.

Sie fuhr zusammen und drehte das Tablet um, doch Hannes hatte genug gesehen. Er wusste, was sie in die Suchmaschine eingegeben hatte.

Drogenkonsum, Jugendliche.

Sie legte das Tablet zur Seite, nahm die Tasse und lächelte ihn über den Rand hinweg an. Sie hatte nicht gut geschlafen.

Hannes schüttete Cornflakes in eine Schale. Sie tastete nach der Milchtüte und erwischte stattdessen den Orangensaft. Ein kräftiger, gelber Schuss landete in ihrem Kaffee.

Beide schauten zuerst auf die Tasse, dann einander an.

Sie war müde und durcheinander, hatte zu viel zu tun und seit ein paar Tagen eine neue Sorge.

Ehrlich, Hannes? Jetzt auch noch Koks?

In ihrer Stimme hatte nicht einmal ein Vorwurf gelegen.

»Mama«, begann Hannes.

»Wir reden heute Abend. Ich muss los.« Sie streckte die Hand aus. Die Geste war untypisch, sie hatte sie sich abgewöhnt, weil Hannes ihr auswich, seit er elf war. Heute hielt er still. Sie war es, die sich zurückzog. »Bis nachher.« Wenig später rollte der Wagen vom Hof.

Hannes sah ihm durchs Fenster nach. Gaststätte Kahlert, stand auf der Seitentür, Lieferservice und Catering. Hannes winkte. Seine Mutter sah es wohl nicht. Jedenfalls winkte sie nicht zurück.

Hannes löffelte matschige Cornflakes. Den Orangenkaffee kippte er ins Waschbecken.

****

Als Yosh die Küche betrat, goss Senta gerade das Teekännchen auf. Das Radio lief, die Wettervorhersage kündigte heiter bis wolkig an.

»Guten Morgen.« Lächelnd reichte Senta ihm eine Tasse. Schwarztee, zwei Löffel Zucker.

»Danke.« Yosh nahm einen Schluck und tastete zerstreut am Tresen herum.

Senta reichte ihm ein Zopfband.

»Danke«, sagte er noch einmal und band sich die Haare zusammen. »Sind die anderen schon auf?«

»Die Prinzessin residiert im Musikzimmer, der Herr Starfotograf ward noch nicht gesehen.« Senta füllte noch einmal Wasser ins Teekännchen und ließ den Aufguss dieses Mal länger ziehen. Kiyomi mochte es stark und bitter.

»Wir brauchen eine neue Lichterkette«, sagte Yosh. »Zehn Meter. Bis Samstag.«

Senta stellte den Wasserkocher auf seinen Platz zurück.

»Ich weiß«, fügte Yosh hinzu, »es ist kurzfristig. Aber wenn es keine Umstände macht …«

»Umstände!« Senta lachte auf. »Eines Tages werden Sie mich entlassen, Leon Yoshio, bloß weil Sie mir keine Umstände machen wollen.«

»Es ist wegen Fenja«, sagte Yosh. »Sie mag Lichterketten, und wenn sie zur Party kommt …«

»Ich verstehe schon«, lächelte Senta.

»Fenja kommt?« Vincent kam in die Küche geschlurft. Sein Hemd stand halb offen und gab den Blick auf die magere Brust preis. Vincents Blick klebte am Handy, unter seiner Nase eine Spur weißes Pulver. Yosh gestikulierte, Vincent sagte »Oh« und wischte die Überreste seiner morgendlichen Line weg.

Senta verfolgte das Schauspiel mit erhobenen Brauen. »Stoned vor dem Frühstück. Wie reizend.«

»Stoned anstatt Frühstück«, gab Vincent zurück. »Das ist der Trick.« Er bedachte Yoshs Trainingsjacke mit einem langen Blick. »Die Morgenrunde?«

»Komm doch mit«, schlug Yosh vor.

»Danke, Bro, ich steh hinter der Kamera, nicht davor, außerdem rennst du mir viel zu schnell. Kriegt man hier irgendwo Kaffee?«

Senta legte ihm die Hamburger Morgenpost hin. Aufgeschlagen beim Immobilienteil.

»Ja, ja.« Vincent wischte die Zeitung beiseite. »Ich suche ja. Der Markt ist gerade in Bewegung und Ateliers sind schwer zu kriegen.«

»Wissen wir«, sagte Senta.

»Die Lage muss stimmen.«

»Wissen wir auch.«

»Die Mieten gehen durch die Decke.«

»Besonders in Hamburg«, half Yosh aus und fing sich dafür einen scharfen Blick von Senta ein.

»Genau, besonders in Hamburg.« Vincent setzte sich an den Tisch. »Was ist jetzt mit Fenja?«

»Sie kommt«, sagte Yosh.

»Wirklich?«

»Sie kommt«, wiederholte Yosh, barscher als es nötig war.

Vincent hob die Hände. »Alles gut, Bro! Keiner behauptet was anderes.«

Senta reichte Yosh einen zweiten Tee, bitter und stark, ganz nach Kiyomis Geschmack. »Wenn Sie«, raunte sie durch die Zähne, »ihn nicht bald rausschmeißen, tu ich es.«

»Jaaa«, rief Vincent, die Ellbogen auf dem Tisch. »Ich sagte doch, es ist gerade schwer bei der Marktlage.«

Yosh nahm die Tasse und suchte Sentas Blick. »Nach der Party. Okay? Lassen Sie mich bitte erst diese Party hinter mich bringen.«

»Richtig.« Vincent nickte. »Alles wird gut. Nach der Party.«

Yosh ging eilig aus der Küche. Im Flur hörte er Vincent sagen: »Senta, meine Liebste. Mein Goldstück. Kaffee? Bitte!«

Im Wohnzimmer waren die Gardinen zugezogen, das Dämmerlicht ließ nur Umrisse von Bücherregalen und Ledersofas erkennen. Die Bilder waren undefinierbare Rechtecke an der Wand, das Steinway ein sanft geschwungener Umriss. Weißes Papier stapelte sich auf dem Notenständer.

Das neue Stück. Arbeitstitel: Elegie. Yosh hatte es schon viel zu lange nicht mehr angerührt.

Nach der Party.

Helles Displayleuchten verriet Kiyomis Position. Sie lümmelte auf der Couch, ein dünnes, weißes Bein auf die Rückenlehne gestützt. Yosh stellte ihr die Teetasse hin, legte den Kopf zur Seite und entzifferte die Buchstaben auf dem Tablet.

Die Verwandlung in japanischer Übersetzung.

»Kafka?«, fragte Yosh.

»Mh-hm. Hab grad meine existentialistische Phase.«

»Wohl eher surrealistisch.«

»Hä?« Kiyomi blinzelte.

Yosh lachte. »Was studierst du noch mal?«

Sie stieß einen langen Seufzer aus, Weltschmerz und Lebensüberdruss, gepaart mit einer Ladung Kaugummi mit Erdbeergeschmack. Sie streckte die Hand aus, betastete seine Softshelljacke, ertastete den MP3-Player in der Tasche und zog kurz am Kopfhörerkabel. »Du bist so alt!« Sie grinste ihn an.

»Hab dich auch lieb, Schwesterchen. Bis dann!«

Auf der Vordertreppe stellte Yosh die Playlist ein und lief in gemäßigtem Tempo los. Am Tor drehte er sich noch einmal und bedachte zuerst das alte Herrenhaus, die Blutbuche in der Einfahrt und schließlich die beiden Problembirken mit einem ratlosen Blick.

Das, was Vincent die Morgenrunde nannte, führte parallel an der Straße entlang, anschließend ging es durch ein Wäldchen. Der Boden war sandig und etwas zu weich, es hatte mehrere Tage nicht geregnet. Die Kiefern endeten auf einer Anhöhe, von dort hatte man kilometerweit freie Sicht über die Heide. Das war der beste Teil seiner Tour.

»Was tun Sie, um sich zu entspannen?« Diese Frage wurde ihm regelmäßig in Interviews gestellt.

»Ich laufe«, sagte Yosh. »Mit Musik.«

»Was für Musik?«

»90er Jahre Partycharts.«

An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken. Man fragte sich, ob er einen Scherz machte, erinnerte sich dann, dass Leon Yoshio Maibach jenseits des Klaviers als scheu und zurückhaltend galt und nicht gerade für seinen Humor bekannt war. Die Partycharts wurden als eine Marotte von vielen verbucht, anschließend ging es zurück auf sicheres Terrain. Tourdaten. Das nächste Album. Fenjas neuer Film. Umzugsgerüchte. Sie wollen fort aus Hamburg, ja? Ein Herrenhaus in der Heide, hieß es. Ob da etwas dran sei? War vielleicht Nachwuchs geplant? Oder am Ende gar schon unterwegs?

Die Nachwuchsfrage ignorierte Yosh, in Interviews und im echten Leben. Alles andere beantwortete er der Reihe nach und benutzte dabei niemals ein Wort zu viel.

Die Partycharts waren sein voller Ernst. Girl Groups und Techno-Vibes waren so weit weg von seiner eigenen Musik, sein Kopf wurde vollkommen leer dabei. Die meisten Leute verstanden das nicht. Fenja schon. Die war ja auch ein 90er-Jahre-Mädchen.

Du kommst doch zur Party? Ich schaffe das nicht ohne dich.

Dein Pferd vermisst dich.

Idiot, sagte Yosh im Takt seiner Schritte. Idiot, Idiot, Idiot.

Er hatte Partys schon immer gehasst, die eigenen Release-Veranstaltungen am allermeisten. Aber er bekam es hin. Vincent sorgte für brauchbare Fotos. Die Organisation oblag Senta, fürs Essen sorgte Gaststätte Kahlert aus Verborn, und sein Agent erledigte den Rest. Yosh musste es nur überstehen.

Komm heim, Fenja. Ich vermisse dich.

Das klang zwar genauso bedürftig, aber es war wenigstens ehrlich.

Yosh blieb kurz auf der Anhöhe stehen und entschied sich dann für die kürzere Tour. Für mehr reichte seine Energie heute nicht. In letzter Zeit hatte er oft Rückenschmerzen, sein Arzt sagte, er müsse auf sich aufpassen, jetzt, wo er auf die vierzig zuging.

»Sechsunddreißig«, korrigierte Yosh.

»Genau«, sagte der Arzt.

Die Partyhits waren kein Scherz, Sport war ein notwendiges Übel, und er nutzte den MP3-Player nicht etwa aus den von Kiyomi angenommen Altersgründen, sondern weil die Morgenrunde seine einzige Stunde am Tag war, die er ohne Anrufe und Nachrichten zubringen wollte.

Ein neues Geräusch mischte sich unter die Mädchenband, lang, laut und durchdringend. Yosh fasste sich ans Ohr und zog den Kopfhörer heraus.

Drüben in Verborn heulten die Sirenen. Ein langgezogenes Crescendo, ein Plateau, langsam leiser werdend, dann begann alles wieder von vorn. Das war kein Übungsalarm. Es brannte wohl irgendwo. Oder es hatte ein Unfall auf der Autobahn gegeben.

****

Vero lag im Bett und bewunderte Faruks Wangenknochen. Sein Mund stand beim Schlafen ein kleines Stück offen und er schnarchte ganz leise. Doch darüber konnte Vero hinwegsehen.

Es war sogar ziemlich süß.

Die Nacht war eine Punktlandung gewesen. Blickkontakt auf der Tanzfläche, Lächeln, das zu einem Grinsen wurde, und zwei Flaschen Bier später stellte Vero fest, dass man sich mit dieser Schönheit mit den fantastischen Wangenknochen tatsächlich gut unterhalten konnte.

Er stand auf Musik.

»Zeitgenössisch?«

»Klassisch.«

Bingo, dachte Vero.

Sie war mit einem Kribbeln im Bauch aufgewacht, hatte eine halbe Stunde lang vor sich hin gegrinst, dann hatte sie Yosh angerufen und sich selbst zur Party eingeladen.

»Kann ich jemanden mitbringen?«

»Klar«, sagte Yosh.

Damit stand das nächste Date. Vero schlüpfte ins Bett zurück und schmiegte sich an Faruks Rücken. Klassische Musik. Die sollte er haben.

****

Die Sirenen heulten immer noch. Yosh lief neben der Landstraße her. Militärfahrzeuge fuhren vorbei, Lastwagen und Jeeps, ein ganzer Konvoi. Die Luft war dieselgeschwängert. Yosh zog den Kragen über Mund und Nase und beschleunigte noch etwas mehr, um die Abgase hinter sich zu lassen.

Er hatte vergessen, Senta zu grüßen. Das fiel ihm ein, als der Feldweg in Sicht kam, der wieder zu seinem Haus führte. Vero hatte Grüße ausgerichtet. Senta steckte bis zum Hals in Arbeit, und er hatte den Anruf ihrer Tochter nicht einmal erwähnt.

Inzwischen waren einfach zu viele Menschen an seiner Morgenroutine beteiligt.

»Ist nur vorübergehend«, hatte Vincent gesagt, nachdem er sich sein Fotostudio am Ende tatsächlich erfolgreich durch die Nase gezogen hatte, entgegen allen Beteuerungen, dass es niemals so weit kommen würde.

»Klar«, hatte Yosh gesagt und dem Freund eins der leeren Gästezimmer gegeben.

Inzwischen dauerte dieses Vorübergehend schon ziemlich lange. Yosh würde etwas unternehmen müssen. Schon Senta zuliebe.

Außerdem musste er Kiyomi vorbereiten. Kiyomi war klein, jung und furchtbar bezaubernd, und jeder hielt sie für Yoshs neue Freundin. Das wurde wohl erwartet, jetzt, da er auf die vierzig zuging.

»Schwester«, sagte Kiyomi. Es war eines von etwa fünf deutschen Wörtern, die sie beherrschte.

»Stiefschwester«, ergänzte Yosh, bevor jemand die Familienähnlichkeit entdecken wollte.

Für Kiyomi war dieser Unterschied unwichtig. Sie war die kleine Schwester aus Tokio, gerade zwanzig und zum Studieren in Deutschland. Yosh musste nur noch herausfinden, was sie studierte.

Ein Wagen hupte Yosh von der Seite an. Gaststätte Kahlert, Lieferservice und Catering. Yosh hob die Hand, grüßte, lächelte.

Der Wagen bremste und setzte zurück, Petra Kahlert stieß die Seitentür auf. »Was machen Sie denn hier draußen? Los, steigen Sie ein.«

Yosh trabte auf der Stelle. »Danke, ich hab es nicht mehr weit.«

»Einsteigen!« Da war etwas in ihrem Blick.

Yosh setzte sich auf den Beifahrersitz.

Die Fahrerkabine war warm. Yoshs Jacke klebte ihm am Körper, der Innenraum roch sofort nach Schweiß. Yosh wollte sich entschuldigen, doch Frau Kahlert zischte »Shh« und hantierte am Radio herum.

In Yoshs Ohren rauschte es. Die Radiostimme sagte Worte wie Katastrophenfall, Seuchenschutz, Militär, Großeinsatz. Alle Hörer sollten »in den Häusern bleiben« und »Fenster und Türen geschlossen halten.«

Dann sagte sie etwas von Hamburg.

Yosh wurde kalt.

»Ein Terroranschlag?«, fragte er.

Sie blickte auf die Straße, Ratlosigkeit in den Augen. Das war schlimmer als Angst.

Sie setzte ihn vor seinem Grundstück ab.

»Passen Sie auf sich auf.«

Einer von ihnen sagte das wohl. Vielleicht dachte Yosh es auch nur. Die Dinge schoben sich übereinander. Yosh sah dem Van nach, dann schloss er das Tor. Der Kies knirschte unter seinen Turnschuhen, die Blutbuche fing mit raschelnden Blättern den Wind ein. Das alte Herrenhaus lag im Sonnenschein. Stare sangen. Ein verfrühter Junikäfer zog vorbei. Yosh ging sehr langsam, dehnte den Weg zur Vordertreppe, die Illusion von Normalität so lange wie möglich aus.

Sie waren alle im Wohnzimmer. Es war immer noch abgedunkelt.

»Holy Shit, endlich, Bro!«, begrüßte ihn Vincent. Das war seine Version von: Ich hab mir Sorgen gemacht.

Über den Flachbildschirm liefen Bilder, tauchten das Zimmer in Gespensterlicht. Vincent blockierte Yoshs Blickfeld. Er stand sehr dicht vor dem Screen. Sein Fuß wippte, seine Finger zupfen an den Hemdknöpfen herum, er bleckte immer wieder die Zähne.

Eindeutig stoned.

Senta stand vor der Couch, umarmte sich selbst und hatte die Finger einer Hand vor dem Gesicht aufgefächert.

Vero studierte in Hamburg.

Bilder wechselten in schneller Folge, am unteren Slider liefen Buchstaben vorbei, formierten sich zu Worten, Sätzen, Informationen. Sie klopften an Yoshs Bewusstsein, genau wie zuvor die Worte im Radio. Yosh weigerte sich immer noch, sie einzulassen.

Luftaufnahmen zeigten die Alster, die Hafenkräne, die Philharmonie, rennende Gestalten, Blut, Schüsse.

Yoshs Telefon war voller Nachrichten. Anrufe in Abwesenheit, Meldungen, Nachrichten.

Mehrere Voicemails von seiner Mutter aus Göteborg, sie klangen hysterisch: »Mein Gott, was ist los bei euch?!«

Vero hatte noch einmal geschrieben, direkt nach dem Anruf. Bis Samstag! Ich freu mich!

Die Party. Das war Yoshs erster Gedanke. Er musste die Party absagen.

Kleine, verschwitzte Finger schoben sich in Yoshs Hand. Erdbeerduft hüllte ihn ein.

»Ist das ein Film?«, fragte Kiyomi.

Yosh gab keine Antwort. Er ging die Anrufe noch einmal durch, suchte nach einem ganz bestimmten und fand ihn nicht. Er drückte auf Kurzwahl.

Geh ran, flehte er stumm, geh ran, geh ran…!

»Hi, hier ist Fenja. Ich kann leider gerade nicht ans Telefon gehen. Nachrichten bitte nach dem Piep.«

Zombie Zone Germany: Elegie

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