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Kapitel 2

Heidekreis, einige Wochen später

Die Fahrerkabine roch immer noch nach Neuwagen. Hannes fand das seltsam. Der Van war zwei Jahre alt und hatte in dieser Zeit eine Menge Geburtstage, Hochzeiten und sämtliche Vereinsfeiern in Verborn versorgt. Kalte Platten, Hochzeitssuppe, Heidschnuckenbraten. Der Essensgeruch hatte sich nie festgesetzt. Das sprach wohl für eine gute Isolierung.

Auch jetzt drang nichts durch. Keine Fäulnis, kein Blut. Dabei musste der Laderaum stinken wie ein Schlachthaus.

Die Fahrerkabine roch nach Mamas Shampoo – Zitrone –, nach Schlüsselbund und Kleingeld. Nach den Zigaretten im Handschuhfach und ein ganz klein wenig nach kaltem Rauch.

Er fühlte sich schläfrig. Die Luft war verbraucht. Hannes zählte, was noch da war. Das half beim Wachbleiben.

Eine Jeansjacke. Gürtel. Autoschlüssel. Schraubenzieher. Knöpfe, drei Stück. Er hatte keine Verwendung dafür, konnte sie aber auch nicht wegwerfen. Er hatte es versucht. Einmal war es ihm auch gelungen. Doch keine fünf Minuten später war er losgerannt und hatte alle drei Knöpfe wieder eingesammelt.

Sportpistole vom Schießstand. .22 Kleinkaliber. Patronen. Vier Stück.

Vier Patronen, drei Knöpfe, ergab insgesamt sieben.

Vier mal drei ergab zwölf. Zwölf plus sieben machte neunzehn. Neunzehn Schuss wären gut. Neunzehn Knöpfe brauchte kein Mensch.

Der Mond leuchtete durch das Seitenfenster, direkt auf Hannesʼ Gesicht. Das weckte ihn wieder. Er schlüpfte aus der Fahrerkabine, atmete tief ein. Die Tür ließ er offen. Nur einen Moment. Sonst entwich der Duft. Bloß für den Luftaustausch, so lange wie es dauerte, den Schriftzug an der Seite zu lesen.

Gaststätte Kahlert, Lieferservice und Catering. Dazu die Telefonnummer und eine Webseite. Wenn man die Nummer wählte, passierte gar nichts. Die Webseite existierte wohl noch. Es gab bloß keinen Standort mehr, um sie aufzurufen.

Das Ende der Welt brach herein, und was blieb, waren Knöpfe, Jeansjacken, wandernde Tote und eine Netzadresse.

www.zombiezonegermany.com

Die Fahrertür stand schon zu lange offen. Hannes knallte sie zu. Das Geräusch hallte durch den Nachtwald, brachial und fremd, ein menschengemachter Laut, wo es keine Menschen mehr gab.

Hannes lauschte auf eine Antwort, auf ein Knacken im Unterholz etwa, verweste Füße auf Moos und Blättern.

Etwas raschelte. Im Wald raschelte es ständig.

Ein Windhauch strich Hannes über den Nacken, der Schweiß zwischen Haut und Kragen wurde kalt. Hannes wischte den feuchten Film fort.

Das Rascheln kam nicht wieder.

Eine Zigarette. Die bräuchte er jetzt. Er könnte sich einfach eine holen, direkt aus dem Handschuhfach. Aber die gehörten der Mutter. Sie hatte sie immer nur heimlich hervorgeholt und immer nur unterwegs, nie daheim. Dann stand sie am Straßenrand, eingehüllt in blauen Qualm und drehte sich weg, wenn ein Auto vorbeifuhr.

Die Kahlert raucht wieder. Hannes wusste es. Ganz Verborn wusste es.

Seine Mutter rauchte heimlich, aber ihn überwachte sie mit Argusaugen.

Ehrlich, Hannes? Jetzt auch noch Koks?

Nach der Maifeier war das gewesen, als sie gemeinsam den Getränkestand abbauten.

»Ich hab dich gesehen, Hannes. Dich und die Kleine von Maibach. Ich habe alles gesehen.«

»Mama …«

»Nicht jetzt.«

Im Auto hatten sie geschwiegen, und das war es dann gewesen. Der Abschluss der Maifeier. Als die Welt noch gut war, sogar wunderschön. Mia bandelte mit Felix an, Arne stritt mit seiner Frau, wegen der Bibi aus Wintermoor. Kiyomi in ihrem kurzen Sommerkleid sorgte bei Hannes für Schmetterlingsflattern. Er hätte ihr gern erklärt, wie alles zusammenhing, wie Verborn funktionierte. Aber ihm fehlten die Worte dafür, außerdem verstand Kiyomi es auch so.

Sie hatte die Line gehabt. Es reichte kaum für sie beide. Was hätte Hannes denn machen sollen? Kiyomi den letzten Spaß ihres Lebens verderben?

Im Laderaum regte sich etwas. Körper richteten sich auf, Fingernägel kratzten über die Innenseite.

»Ganz ruhig.« Hannes legte die Hand auf die Rückwand. »Ich bin ja da.«

Aber sie beruhigten sich nicht. Das taten sie nie, wenn es einmal angefangen hatte. Sie hörten ihn. Vielleicht spürten sie ihn auch, mit einem Restinstinkt, einem Reiz ihres toten Hirnstamms.

»Seid still.«

Das Knacken war ganz nah. Hannes griff nach dem Schlüssel und verriegelte den Wagen von innen. Dann kauerte er sich im Fußraum zusammen.

Er spürte die Wesen mehr als er sie hörte. Sein Verstand übersetzte das Gefühl in Bilder. Sie wankten wie betrunken. Hannes hatte Leute gesehen, die beim Anblick der Toten in lautes Gelächter ausgebrochen waren. Sie lachten zuerst und dann schrien sie, und manchmal dauerte es entsetzlich lange.

Hannes tastete den Sitz ab, fand Gürtel, Knöpfe und endlich die Waffe.

Im Wageninneren flüsterten und keuchten sie. Mia, Felix und alle anderen, tote Münder wisperten im Chor. Hannes presste sich die Hände auf die Ohren, sein Gesicht war nass.

»Seid still!« Er schluchzte gegen die Stimmen an. »Seid doch endlich still!«

Marah blickte auf den Straßenatlas, sie suchte nach einem Punkt, an dem ihre Augen andocken konnten. Der Weg war uneben; es war schwer, die Taschenlampe gerade zu halten.

Rot bedeutete: Autobahn. Gelb: Landstraße. Blaue Abfahrten, schwarze Ortsnamen und viel zu viel freie Fläche dazwischen. Und nirgendwo der beruhigende rote Punkt. Nichts, was Standort und Ziel anzeigte. Eine Welt ohne GPS.

Marah spürte Simons Blick. »Guck auf die Straße. «

»Guck auf die Karte«, gab er zurück.

Sie fuhren mit Standlicht, ohne Klimaanlage. Die Tanknadel rückte in den roten Bereich. Simons Atem ging langsam, sehr ruhig, ein sicherer Vorbote für das, was bald kommen würde. Simons Ausraster entluden sich regelmäßig, die Abstände dazwischen wurden in letzter Zeit immer kürzer. Die Haare auf Marahs Unterarmen stellten sich auf.

Sie sah in den Rückspiegel. Nicole lächelte ihr zu, ihr Gesicht legte sich in ein Netz aus Mimikfalten. Izzie starrte aus dem Fenster. Wiesen. Felder. Und wieder Wiesen. Die Lüneburger Heide war ein einziges, ausgedehntes Flachland.

Bispingen. Dort hatten sie die Hauptstraße verlassen. Das lag auf gleicher Höhe wie Bremen, doch sie waren weiter nach Süden gefahren.

Straßen. Felder. Nur Punkte und Linien auf Papier, Namen mitten im Nirgendwo. Marah fühlte keinerlei Bodenhaftung.

Auf dem Weg vor ihnen sammelte sich Laub. Zu früh für die Jahreszeit.

Wieder Felder. Ein Wäldchen. Bäume rechts und links. Marah zog unwillkürlich den Kopf ein.

Walsrode musste hier in der Gegend sein. Und Soltau.

Heidepark Soltau.

Marah summte den Werbejingle. Der war so einprägsam.

Nicoles Gesicht bekam wieder Lachfalten. Marah kicherte etwas zu laut. Simon knurrte. Dann schrie er »Scheiße!« und stieg auf die Bremse. Der Wagen ruckte nach vorn. Die Taschenlampe fiel Marah aus der Hand, rollte unter den Sitz und ging aus. Marah bückte sich, tastete fluchend den Boden ab, fühlte das kalte Metall und leuchtete durch die Frontscheibe.

Im Lichtkegel stand jemand, kniff geblendet die Augen zu und schirmte das Gesicht ab.

»Lebt«, stellte Simon fest. Man lernte schnell, die Augen zu deuten. Der Funke des Bewusstseins war unverkennbar.

Die Gestalt kam näher, sie legte die Hand auf das Seitenfenster. Lippen bewegten sich. Izzie fing leise an zu wimmern.

Das Gesicht draußen hatte kaum Bartflaum. Noch ein Junge, nicht viel älter als Izzie. Er hatte gerade den Führerschein, wenn überhaupt. Marah besah ihn von oben bis unten, tastete seine Kleidung mit der Taschenlampe ab. Keine Risse im Stoff. Kein Blut. Keine sichtbaren Wunden.

Aber auch keine Ausrüstung.

Der Junge hob die rechte Hand, deutete hinter sich, sagte etwas und schüttelte den Kopf.

Marah und Simon wechselten einen Blick.

»Was machen wir?«, fragte sie.

Simon umklammerte das Lenkrad, hantierte an der Gangschaltung, presste die Lippen zusammen.

Ein neuer Wortschwall sprudelte aus dem Jungen heraus, er gestikulierte, deutete auf den Wald hinter ihm, schüttelte den Kopf. Seine Stimme vermischte sich mit Izzies Schluchzern.

»Izzie, verdammt!«, blaffte Simon. Sofort war das Mädchen still.

Vater des Jahres.

Marah kurbelte das Seitenfenster herunter. Nur einen Fingerbreit. Für alle Fälle. »Gebissen?«

Der Junge blinzelte.

»Wurdest du gebissen?«, präzisierte Marah.

Die Finger des Jungen schoben sich durch den schmalen Spalt, als könnte er das Auto damit am Wegfahren hindern. »Nicht weiter.«

»Was soll das?« Simon sprach durch die Zähne, seine Knöchel waren weiß.

Im Gebüsch raschelte etwas. Der Junge sog scharf die Luft ein, kniff die Augen zusammen. »Nicht weiterfahren. Tote.«

Wieder ein Rascheln, Geräusche. Keuchen.

»Bitte …« Das Bartflaumgesicht war schweißfeucht.

Ohne ein weiteres Wort stieß Nicole die Seitentür auf. Der Junge schlüpfte ins Auto, stieg über Nicole hinweg und quetschte sich auf die Rückbank.

Simon fluchte und gab Gas. Etwas brach durchs Unterholz.

Vielleicht nur Wildschweine. Große, dürre, aufrecht gehende Wildschweine.

Einfach nicht hinsehen, beschwor Marah sich selbst. Natürlich starrte sie. Die Wesen folgten dem Wagen ein Stück, fielen aber schnell zurück.

»Man sollte draufhalten«, sagte Simon. »Das Beste wärʼs, wenn man einfach draufhält, wenn einem etwas vors Auto läuft. Ein Reh. Ein Toter. Egal.«

»Simon«, zischte Marah.

»Ich meine ja nur.«

»Ich bin nicht tot.« Die Stimme des Neuzugangs verriet endgültig, wie jung er war. Er kauerte sich zusammen, dadurch sah er auch sehr schmal aus. »Wir können hier nicht weiter.« Er wiederholte es wie ein Mantra, sein Blick ging geradeaus. »Nicht hier lang.«

»Was heißt das?« Marah folgte seinem Blick. »Was ist dort?«

»Nichts mehr.«

Marah sah zu Nicole, die zuckte die Achseln. Simon stöhnte. Izzie schaute wieder nach draußen. Wiesen. Felder. Und wieder Wiesen. Die Heide bei Nacht. Mond auf Idylle. Schafstall mit Zombie. Deutschland, ein Horrormärchen.

»Irgendwelche Ideen?«, fragte Simon.

»Ja.« Der Junge beugte sich vor. »Da vorne rechts.«

Wirklich wichtige Entscheidungen hatte Yosh immer spontan getroffen.

Schumann statt Liszt.

Labskaus statt Sushi.

Moll statt Dur.

Fenja. Ein Regenspaziergang.

Es war Yosh erst spät bewusst geworden, jenseits der dreißig. Wenn es wirklich darauf ankam, folgte er immer einem Impuls. Er, der sonst Stunden damit zubrachte, die perfekte Pizza und die beste Airline herauszusuchen, der alles durchplante und jede Abweichung von der Choreografie hasste, hatte gewisse Momente der Eingebung.

Ein verstimmtes Klavier, zaghafte Versuche. Viel zu kleine Finger.

Ein Plattenvertrag, Jahre später, unterschrieben von denselben Fingern.

Der perfekte Tag, es zu Ende zu bringen. Wie wäre heute?

Bis eben war alles so klar erschienen. Jetzt saß Yosh vor der Klaviatur und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Achtundachtzig Tasten in schwarz und weiß, das ergab tausende, sogar hunderttausende Möglichkeiten. Wie spielte man sein letztes Konzert, wenn niemand zuhörte?

»Die Geister hören zu.« Kiyomis Körper verschwand beinahe in dem Lesestuhl. Sie hielt die Burgunderflasche auf dem Schoß, spielte träge daran herum, riss winzige Streifen vom Etikett, ohne es zu merken. Der Mond beleuchtete ihre kleinen Brüste. Kiyomi fing Yoshs Blick auf, verlor ihn wieder; einen Moment lang driftete ihr Blick ins Nirgendwo. Dann lächelte sie ihn träge an.

»Lass mich helfen.« Ihr Lächeln bekam etwas Lockendes. Sie stellte das rechte Bein über die Lehne. Der winzige Rock rutschte nach oben, entblößte ihre Schenkel und ihre Scham.

Yosh zögerte ein paar Sekunden lang. Dann stand er vom Hocker auf und kniete sich vor den Sessel.

Sie streckte die Hand aus. »Deine Haare. Die sind so toll.« Sie streichelte ihm ein paar Strähnen zurück, zog spielerisch daran. Bei ihr musste alles ein kleines bisschen wehtun. Sie hielt ihm die Flasche hin, er schüttelte den Kopf. Kiyomi trank selbst. Die Muskeln an ihrem Hals arbeiteten, ein Rinnsal floss aus ihrem Mundwinkel, über das Schüsselbein und den Rippenbogen. Kiyomi zog Yosh zu sich heran, legte ihre Lippen auf seine und flößte ihm Wein und Speichel ein. Yosh zuckte zurück, sie hielt seinen Nacken fest, lachte leise. Dann drückte sie sein Gesicht in ihren Schoß.

Sie ließen sich Zeit. Zweimal zog Kiyomi das weiße Pulver vom Spiegel. Yosh wollte erst nicht, dann nahm er doch etwas. Sollten die Geister doch jubeln und schreien, die Nase rümpfen und auf den Boden spucken. Wen interessierte das noch?

Die letzte Line. Das Ende vom Koks.

Erzähl mir das Märchen vom Gespensterschrank.

Schon wieder?

Ein letztes Mal.

Kiyomi kam leise. Das war am besten, behauptete sie. Wenn ihr so die Luft wegblieb, dass sie nicht einmal schreien konnte.

Hinterher küsste sie ihn auf den Scheitel. »Wir sind die Geister. Hungrige Geister.« Lachend schob sie ihn weg. Yosh stieß mit der Hüfte gegen den Flügel, dann taumelte er auf den Hocker zurück. Die Haare fielen ihm ins Gesicht, er strich sie zurück, doch seine Haut kribbelte weiter.

»Was denkst du? Wer kommt uns holen?«

Vincent vielleicht. Oder Senta. Darin läge sogar eine gewisse Schönheit.

»Was denkst du, Kiyomi? Vincent. Ja? Das wäre doch fair?«

Kiyomis Lider flatterten, sie war bereits ganz woanders.

Yosh setzte sich gerade hin und legte die Finger auf die Tasten. Es war völlig egal, was er spielte.

»Geradeaus. Der Weg führt immer geradeaus. Irgendwann denkt man, hier draußen gibt es doch gar nichts. Jeder denkt das. Und gerade, wenn es so weit ist, kommt das Haus in Sicht.« Der Junge leierte die Worte hinunter, er klang wie der Vorspann für eine Fernsehsendung, eine, die nur Erwachsene schauen durften.

Deutschland, ein Horrormärchen, Teil zwei.

»Du kennst dich aus«, stellte Marah fest.

»Klar kenne ich mich aus. Gaststätte Kahlert. Lieferservice und Catering. Wir liefern überall hin.«

Marah tastete nach ihrem Messergurt, zu ihrer eigenen Beruhigung.

Der Weg zog sich hin, Schotter knirschte unter den Reifen. Auch hier lag verfrühtes Laub. Die Hitze. Das Klima. Ein völlig verrücktes Jahr.

»Hier ist nichts«, sagte Simon.

»Fahr«, sagte Nicole.

»Im Ernst, hier gibt es nichts!«

»Simon, fahr einfach!«

»Der Junge hat sie doch nicht alle!«

Da tauchte eine Ziegelmauer vor ihnen auf und ein großes Tor. Dahinter ragte ein Gebäude auf. Ein altes Herrenhaus, zweistöckig, Fensterreihen starrten in die Nacht.

Der Junge lächelte. Marah bekam Gänsehaut.

»Na schön.« Simon hielt vor dem Tor.

»Da sind Tote drin«, sagte der Junge.

»Und das sagst du jetzt?« Simon schrie fast.

»Woher weißt du das?«, fragte Marah beinahe gleichzeitig.

»Ich war schon mal hier.«

Das ergab sogar Sinn.

»Okay.« Simon drehte sich auf dem Sitz. »Wie viele? Hey!« Er schnippte mit den Fingern, der Junge blinzelte. »Wie viele Tote?«

»Ich weiß nicht. Einer. Vier. Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Darauf, wie viele gestorben sind.«

Simon drehte sich stöhnend weg.

»Wir sollten fahren«, sagte Marah.

»Wohin denn?« Simon zeigte auf die Tanknadel. Sie hing weit im roten Bereich. »Wohin, Marah? Hm? Sag es mir! Du kannst ja nicht mal die verdammte Karte lesen!« Unvermittelt sank Simon auf dem Sitz zusammen und hieb mit den Händen auf das Lenkrad ein.

Izzie starrte weiter aus dem Fenster.

Dann schlüpfte sie aus dem Wagen.

Einige Sekunden lang herrschte Stille, und alle starrten dem Mädchen nach. Simon sprang auf und rannte hinter seiner Tochter her. Sie strebte auf das Haus zu, ohne nach rechts und links zu sehen.

Simon ergriff ihre Schultern und schüttelte sie. »Was machst du denn?«

Izzie sah hoch. Dann zeigte sie auf das Haus. Etwas in Simons Gesicht veränderte sich.

Jetzt hörte Marah es auch.

Musik.

Die Melodie flüsterte in Marahs Ohr und durchdrang mühelos alle Barrieren, die sie in den letzten Wochen so mühsam aufgebaut hatte. Ihr Magen ballte sich zusammen, und hinter ihren Liedern wurde es heiß.

Nach alldem. Klaviermusik.

Sie hörte, wie Simon scharf Luft holte und seine Tochter hinter sich schob. »Zurück in den Wagen, Izzie. Sofort!«

Marah zwang sich zurück in die Wirklichkeit. Die Melodie, diese herrlich lebendige Melodie, hatte noch etwas anders angelockt.

Yosh begann mit Bach. Prelude Nummer 1. Etwas Unaufgeregtes zum Einstimmen. Zahlreiche Wiederholungen, ständige Variationen desselben Themas. Das Stück war praktisch eine Fingerübung.

Die ersten Takte holperten ein wenig. Zu viele Lines, zu viel Wein, zu viel lebender Tod. Tage, Wochen ohne das tägliche Übungspensum.

Yoshs Geist eilte manchmal den Tönen voraus, er musste sich bremsen, bis Verstand und Finger wieder synchron waren. Die Tür stand offen. Und alle Geister waren eingeladen.

Frau de Groot aus dem Erdgeschoss, Reihenhaussiedlung Hamburg-Bergedorf. Auf ihrem Schoß hatte Yosh seine ersten Spielversuche gemacht. Sie roch nach Puder und Cognac – schon mittags – und besaß ein untrügliches Gespür fürs Wesentliche: »Der Junge braucht Unterricht.«

Frau Vogt, die Klavierlehrerin, die erste von vielen. Herr Schmitt, Frau Kleiber, Frau Iwamura. Die Namen wirbelten durcheinander, die Hälfte war fortgewischt. Dabei vergaß Yosh sonst nie etwas.

Vincent. Kein netter Kerl, ganz bestimmt nicht. Künstler waren nie wirklich nett, das wusste Yosh selbst am besten.

Fenja, auf leisen Sohlen, während Yosh am Flügel saß. Sie schob ihm die Hand unters Hemd und ließ sie einfach dort liegen.

Zu diesem Bild passte Debussy. Claire de Lune. Es war kein ganz sauberer Übergang, Yosh brauchte eine Weile, um den Takt zu finden.

Fenja und er auf dem Balkon ihrer Hamburger Wohnung. Fenja wollte Sternschnuppen sehen. Lippen an Yoshs Ohr: »Wünsch dir was!«

Als Nächstes kam Schumann. Die Kinderszenen. Ein lautes, fröhliches, gewichtiges Auf und Ab.

»Wir wollen doch welche, Yosh, oder?«

Kinder. Szenen. Szenen wegen Kindern, die es noch nicht gab.

Abrupter Wechsel zu Beethoven. Mondscheinsonate.

Die Toten ließen auf sich warten. Nur Vincent flüsterte aus dem Dunkel, eine geisterhafte Version von ihm. Er grinste scheußlich mit den toten Lippen.

»Du bist ein Klischee, Yosh.«

»Ich weiß.«

Der erste Satz. Adagio sostenuto. Eine Beziehung, nicht mehr ganz neu, aber noch romantisch, auf eine ruhige, reflektierte, weniger impulsive Art. Die Phase, in der sich Hormondrogenrausch und bunter Glitter verflüchtigten, in der man einander ansah, wirklich hinsah.

Zweiter Satz. Allegretto. Miteinander, nebeneinander. Zwei Menschen, nicht mehr im gleichen Takt.

Dritter Satz. Presto agitato. Verschiedene Meinungen. Meinungsverschiedenheiten. Streit. Aber worüber bloß? Schweigende Taxifahrten.

Yosh hielt die Augen fest geschlossen.

Forte. Fortissimo.

Yosh hoffte, dass es passierte. Dass irgendetwas passierte, bevor er zum Finale kam. Dass sie ihn holen kamen. Die Geister. Die Toten. Vincent. Die lebende oder die tote Version.

Mondscheinsonate, Schluss. Eine Wiederholung des Anfangs, im weitesten Sinne, und doch eine Variation. Ein Umlauf, eine Reise, einmal um die Erde, und am Ende landete man genau dort, wo man hergekommen war.

Als jemand anderes.

»Ich liebe dich, Yosh, aber–«

»Ich liebe dich, Fenja. Aber–«

Nach all den Schreckensnachrichten, den Schreien, dem Totengeheul und der Stille danach – Musik.

Musik war gefährlich geworden, wie so vieles andere. Schlafen. Laut lachen. Allein pinkeln gehen.

Der Tote war vor ihnen. Marah erkannte es am Gang. Ein Wanken, klobig, aber koordiniert. Er war noch nicht lange tot, aber auch keiner von den ganz Frischen. Doch Marah wusste, wozu die Dinger in der Lage waren, vor allem, wenn sie einen Grund dafür hatten.

Marahs Verstand arbeitete schnell. Sie schaute zum Haus hinauf. Eine Tür mit Säulen, runde Vortreppe. Carports mit Autos darin, von ihr aus gesehen rechts. Links lag ein kleiner Hügel, eine Steintreppe führte zu einer Terrasse hinauf. Gartenmöbel, ein zusammengeklappter Sonnenschirm. Ein Wintergarten.

Marah konnte den Musiker nicht sehen, nur in diesem Bereich verorten. Die Kreatur kam zu demselben Schluss, mit den ihr verbleibenden Sinnen. Marah zeichnete den Weg in Gedanken vor.

Haus. Anhöhe. Die Treppe hinauf. Im Slalom um die Stühle herum, vorbei am aufgeklappten Sonnenschirm, vielleicht würde das Ding einen Stuhl umstoßen.

Der Wintergarten sah alt aus, einer dieser verspielt-verschnörkelten Drahtkäfige, wie sie bei alten Häusern üblich waren. Nicht besonders stabil, wenn es darauf ankam.

Das musste er aber auch gar nicht sein. Mitten in Drahtspielereien und Glas hatte der Wintergartenkäfig eine Tür.

Sie stand weit offen.

Marah hörte, wie Simon das Mädchen zurück ins Auto scheuchte. Nicole war gar nicht erst ausgestiegen.

Marah zog ihr Messer aus dem Gurt, so geräuschlos wie möglich. Simon hörte es trotzdem, sah sie an und gestikulierte heftig.

Was machst du denn?

Irgendwas.

Das geht uns nichts an.

Doch. Jetzt schon.

Marah hob das Messer und machte ein paar entschlossene Schritte. Die Kreatur ruckte herum. Die Augen, Gallertbälle ohne Ausdruck, richteten sich auf Marah, dann auf Simon. Das schlaffe Gesicht veränderte sich, zeigte einen Schatten von Motivation. Das Ding machte kehrt, sein Hinken beschleunigte sich. Marah umfasste den Messergriff, ging in die Knie.

Der Junge kam von der Seite. Er stützte aus dem Schatten und rammte den Toten mit vollem Gewicht. Beide fielen. Beide schrien. Keiner von ihnen klang menschlich. Die toten Augen rollten in den Höhlen, die Kiefer schnappten. Der Junge stellte der Kreatur einen Fuß in den Nacken. Sein Arm hob sich und sank herab. Der Tote erschlaffte. In seiner Augenhöhle steckte ein Schraubenzieher, hineingestoßen bis zum Schaft.

Der Junge rollte von dem Körper herab und blieb keuchend im Gras liegen. Die Musik spielte unverändert.

Marah rannte die Treppe hinauf.

Yosh malträtierte die Klaviatur. Ein lauter Aufschrei, für all die Lebenden, Toten und Geister dort draußen. Am Piano: Leon Yoshio Maibach. Yosh spielte, spielte, spielte, Beethoven, Mozart, Mussorgsky, er warf Noten, Stile und Epochen durcheinander. Weiße und schwarze Tasten waberten, wogten, richteten sich auf, sprangen aufs Parkett, tanzten selbstständig weiter.

Yosh hatte Partys immer gehasst. Lächeln, reden, herumreicht werden; ständig fassten Menschen ihn an. Ständig wollte jemand etwas von ihm.

Jemand schrie ihn an, zog ihn vom Klavier weg, Licht blendete ihn. Yosh blinzelte. Grelle Flecken und kleine Puzzlestücke setzten sich zu einem Gesicht zusammen.

»Oh. Hi.« Yosh lächelte verwirrt. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

»Marah.«

»Yosh …«

Die Frau namens Marah holte Luft. »Verdammt, Yosh, was zum Teufel stimmt nicht mit dir?!«

Der Mann blinzelte ins Licht. In seinem Gesicht lag echtes Erstaunen, eine Spur Unwille, doch das meiste von ihm war weit weg.

Aber Klavier spielen. Das konnte er.

»Ich hab den Debussy verpatzt«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Was?!«, fragte Marah.

»Ich sagte doch, es tut mir leid …«

Der Junge erschien in der Terrassentür. Seine Jacke war dunkel gesprenkelt. Mit großen Schritten durchmaß er den Raum, ging auf den Musiker zu und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. »Gern geschehen, Maibach. Und danke für nichts!«

Der Musiker taumelte rückwärts, er prallte gegen das Sofa. Der Junge setzte nach, schubste ihn noch einmal. Er wendete nur halbe Kraft auf. Das vermutete Marah jedenfalls, nachdem sie gesehen hatte, was er mit dem Toten gemacht hatte.

»Danke für nichts!«, brüllte er.

Der Musiker blinzelte. »Hannes?«

Aha. Der Junge hieß also Hannes.

Ein Schatten kam heran. Nackte Füße huschten über das Parkett.

Marah riss die Lampe hoch. Im Lichtkegel stand ein dünnes, nacktes Mädchen. Rote, eingetrocknete Flüssigkeit klebte an ihrem Kinn, am Hals und zwischen den Brüsten.

Marah hob das Messer. Der Musiker fiel ihr in den Arm.

»Nein! Bitte – sie ist nicht …«

Das Mädchen sagte etwas. Der Musiker antwortete. Marah verstand kein Wort.

Hannesʼ Gesicht durchlebte binnen Sekunden eine ganze Reihe von Ausdrücken. Er ballte die Fäuste, schloss sie wieder, dann fing er an zu schluchzen. Das Mädchen war mit zwei Schritten bei ihm und schlang die Arme um ihn. Ihr Mund war ganz dicht an seinem Ohr.

Sie biss nicht. Sie flüsterte.

»Shh«, machte sie. »Shh, Shh …«

Marah roch Simons Schweiß, keinen halben Meter entfernt.

»Was zum …«, begann er, verstummte jedoch, als Marah abwehrend die Hand hob.

Das Mädchen streichelte Hannesʼ Rücken, wiegte sich mit ihm hin und her, berührte sein Gesicht und die Haare. Dann schlossen sich ihre Finger um etwas. Sie trat einen Schritt zurück. Auf ihrer Handfläche wand sich eine winzige, weiße Made.

Das Mädchen kicherte.

Hannes wischte ihr das Ding aus der Hand und trat mit dem Stiefel darauf. Ein feuchter Fleck blieb auf dem Parkett zurück.

Wieder gab das Mädchen ein Geräusch von sich. Es klang nach Ekel. Und ein klein wenig nach Begeisterung.

Der Klavierspieler – Yosh – ging langsam zu seinem Instrument und klappte den Deckel zu. Die Tasten verschwanden, der Innenraum hallte nach.

»So«, sagte er. Und dann, noch einmal: »Tut mir leid.«

Er kippte der Länge nach auf das Parkett, direkt neben die tote Made.

Zombie Zone Germany: Elegie

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