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KAPITEL 5 – LAUF UM DEIN LEBEN
ОглавлениеSamstagmorgen – wie sehr ich ihn liebe.
Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte bereits 12:50 Uhr. Dennoch machte ich keine Anstalten, mein warmes Bett zu verlassen. Ich hatte mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen und ließ mich von den seitlich einfallenden Lichtstrahlen wärmen.
Am Ende des Bettes hatte sich Cleopatra zu einem Fellknäul zusammengerollt und schien ebenfalls die Wärme der Sonne zu genießen. Meine Eltern waren das ganze Wochenende über verreist – es war also so still im ganzen Haus, dass ich mühelos die kleinen Atemzüge meiner Katze hören konnte.
Ich wäre wahrscheinlich wieder eingeschlafen, hätte nicht plötzlich das Telefon geklingelt und mich aus meinen Tagträumen gerissen. Schnell sprang ich auf, sprintete die Treppe hinunter und nahm den Hörer ab. Wer mich um diese Zeit anrufen würde, hätte ich mir eigentlich bereits denken können: meine Mutter wollte sich erkundigen, ob bei mir auch alles in Ordnung war.
Nachdem ich ihr versichert hatte, dass es mir bestens ging, konnte ich endlich auflegen und zurück in mein Zimmer schlurfen. Ich war wirklich kein guter Frühaufsteher. Auf halbem Weg die Treppe hoch kam mir Cleopatra entgegen. Sie musste von dem Klingeln des Telefons aufgeschreckt sein und hatte jetzt bestimmt großen Hunger. Vorsichtig nahm ich sie auf den Arm, ging mit ihr in die Küche, füllte ihren Napf auf und schob mir einen Toast in den Toaster.
In Gedanken schaute ich dem kleinen Wesen einige Minuten beim Fressen zu und ging dann ins Wohnzimmer, riss die Tür auf und ließ mich von den Sonnenstrahlen und der duftenden Luft verzaubern. Endlich war die unerträgliche Sommerhitze nicht mehr da. Die drückende Heißluft war erfrischender Herbstluft gewichen und die Sonnenstrahlen kitzelten sanft auf meiner Haut. Ich stand einen langen Moment einfach nur so da, atmete die Frische ein und lauschte dem Zwitschern der Vögel. Ich würde mich wirklich schneller an das Landleben gewöhnen als ich gedachte hatte.
Erst als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich mit Schrecken, dass Cleopatra an mir vorbei geschlichen war und sich bereits in der Wiese des Gartens tollte. Eigentlich war ja nichts dabei – sie war ja keine Hauskatze – aber der Züchter hatte uns extra darauf hingewiesen, dass es wichtig wäre, sie erst mal nicht aus dem Haus zu lassen, damit sie sich an die Umgebung gewöhnen konnte.
Schnell lief ich auf sie zu, um sie auf den Arm zu nehmen, doch das wendige Tier schaffte es, sich aus meinem Griff zu befreien und verschwand noch tiefer im Garten. Unsicher blickte ich mich um.
Was soll ich tun? Sie hat noch kein Vertrauen zu mir aufgebaut, sie kommt nicht, wenn ich ihren Namen rufe.
Immer weiter folgte ich ihr durch den Garten und vergaß dabei völlig, dass ich weder Schuhe noch richtige Klamotten trug, sondern barfuß im Schlafanzug durch die Wiese schlich. Gut, dass es weit und breit keine Nachbarn gab und keine Gefahr drohte, gesehen zu werden. Mit welchen Tricks ich es auch versuchte, die Kleine wollte einfach nicht auf mich hören und schien Gefallen an der neuentdeckten Freiheit gefunden zu haben. Sie sprang über kleine Äste, rollte sich durch das Gras und schnupperte an jeder Blume, die ihren Weg kreuzte. Niedlich war der Anblick schon, doch die Angst wollte mich einfach nicht verlassen.
Am Rande unseres Grundstücks schlängelte sich ein kleiner Bach durch die Wiese. Immer näher tapste Cleopatra darauf zu und ich konnte sie nicht aufhalten. Niemals hätte ich gedacht, dass mir dieser Gedanke an diesem Wochenende kommen würde, doch in diesem Moment wünschte ich mir wirklich, dass meine Eltern zu Hause wären.
Verzweiflung machte sich breit, als das kleine Fellknäul nun direkt auf den Bach zulief und mit leichten Schritten von Stein zu Stein sprang, um das Gewässer zu überqueren.
Sind Katzen nicht wasserscheu?
Sie schien der Libelle zu folgen, die etwa einen Meter über ihr in den Wald schwirrte und ganz zu vergessen, dass Katzen eigentlich kein Wasser mögen. Unsicher, was ich tun sollte, lief ich so schnell mich meine Beine trugen ins Haus zurück und holte ein Stück Wurst als Köder. Wieder im Garten angekommen, war von Cleopatra weit und breit nichts mehr zu sehen. Unweigerlich stiegen mir Tränen der Angst in die Augen. Angst, sie nach so kurzer Zeit bereits wieder zu verlieren.
Etwas ungeschickt versuchte ich die Eleganz des Tiers zu imitieren und von Stein zu Stein ebenfalls über den Bach zu gelangen. Einmal trat ich daneben und landete bis zu den Knien im Wasser, doch das hinderte mich nicht daran, mit meiner Suche fortzufahren. Auf der anderen Seite angekommen, musste ich mir erst mal einen Weg durch die vielen Dornen und Brennnesseln bahnen, wobei ich immer wieder so laut ich konnte »Cleopatra« rief und ab und zu ein Stück Wurst verteilte, um eine Spur zurück zum Haus zu legen.
Es war wirklich dumm gewesen zu denken, das Bächlein würde ausreichen, um ungebetene Gäste von dem Grundstück fern zu halten und um Haustiere am Ausbruch zu hindern. Es war ein Leichtes, das Gewässer zu überqueren, wenn man nicht gerade wasserscheu war. Nach etwa fünf Minuten hatte ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, doch ich brachte es trotzdem nicht übers Herz, die Kleine einfach sich selbst zu überlassen und zum Haus zurückzukehren.
Zum ersten Mal seit dem Umzug dachte ich plötzlich an Julien, meinen Ex-Freund. Mit ihm an meiner Seite wäre das Ganze nur halb so schlimm gewesen. Der Gedanke erschreckte mich, denn ich hatte gedacht, dass ich ihn bereits völlig aus meinem Herzen verdrängt hatte. Anscheinend war dem nicht so. Es fiel mir schwer, in dieser Situation irgendetwas Positives zu fühlen und ich überlegte verzweifelt, als ich ganz plötzlich weit hinter mir ein lautes Krachen von Geäst vernahm.
Was war das?
Die Vögel über mir fingen laut an zu zwitschern, flogen davon. Entsetzt wirbelte ich herum. Für Cleopatra wäre das viel zu laut gewesen, aber was konnte es dann sein? Ein Reh? Vor mir sah ich nichts als Bäume und Gestrüpp. Zu hören war auch nichts mehr. Es herrschte Totenstille. Für meinen Geschmack war es etwas zu still und ich bekam es mit der Angst zu tun. Cleopatra würde ich später suchen, sagte ich mir und wollte mich gerade umdrehen, um zum Haus zurück zu gehen, da erschütterte ein lautes Gebrüll die Stille. Reflexartig hielt ich mir die Hände über die Ohren und erschrak über die Nähe der Geräuschquelle.
Wie angewurzelt stand ich da, fühlte mich unfähig, mich zu bewegen, lauschte in die erneut aufgetretene Stille hinein. Jede meiner Muskelfasern war so gespannt, dass es fast schmerzte – jederzeit bereit, meinen Körper in Bewegung zu versetzen und doch bewegte ich mich nicht von der Stelle. Wieso ich nicht einfach wegrannte, kann ich bis heute nicht sagen. Es war der Schock, der meine Adern gefrieren ließ.
Was kann das nur sein?
Ganz plötzlich trat ein großes, braunes Tier aus den Büschen, nur etwa hundert Meter von mir entfernt, auf die Lichtung.
Ein Bär war das einzige, was ich dachte, sein Gebrüll war das einzige, was ich hörte, die großen Pranken, mit denen er auf mich zukam, waren das Letzte, was ich sah, bevor ich mich umdrehte und so schnell lief, wie ich es vorher nie für möglich gehalten hätte.
Mein Kopf war leer, ich konnte nicht denken, wusste nicht, was ich tun sollte. Es musste der Instinkt sein, der mich um mein Leben rennen ließ. Mein Herz klopfte wie verrückt, mein Atem ging stockend. Ich keuchte vor Anstrengung, hörte immer wieder das Hecheln des Bären hinter mir.
Er verfolgt mich. Wieso? Wie ist das möglich? Wird er mich töten?
Ich sah nicht mehr, wohin ich lief. Alles verschwamm vor meinen Augen.
Angst und Verzweiflung pulsierten durch meine Adern. Ich war verloren. Meine Beine gaben nach, trugen mich nicht mehr. Immer wieder blieb ich an Ästen und Gestrüpp hängen, stolperte, richtete mich wieder auf, rannte weiter. Ich traute mich nicht, meinen Kopf zu drehen, wollte nicht sehen, wie nah die Bestie schon gekommen war. Das Gebrüll kam immer näher, er musste mich fast eingeholt haben.
Bären sind schneller als Menschen, war mein letzter Gedanke, der mir endgültig die Hoffnung raubte. Erneut stolperte ich über eine riesige Wurzel vor mir, hatte jedoch nicht mehr die Kraft aufzustehen. Ich zog die Beine an, legte die Arme schützend über meinen Kopf, war überwältigt von der Todesangst, die mich durchfloss. Ich wimmerte und zitterte, als ich das Gebrüll des Tiers unmittelbar neben mir vernahm und schloss bereits mit meinem Leben ab, als mich plötzlich ein starker Schlag an der Seite traf, mich einige Meter weit in das Gebüsch schleuderte und ich schließlich das Bewusstsein verlor.
Langsam öffnete ich die Augen. Das grelle Licht blendete mich.
Bin ich im Himmel?
Ich fühlte mich sicher und geborgen, lag auf einem weichen Untergrund, das konnte ich spüren. Es war warm und roch vertraut.
Aber wo bin ich?
Mein Herzschlag hatte sich normalisiert, ich atmete ohne Hast. Nichts war mehr zu spüren von den Anstrengungen, die ich eben noch durchlebt hatte.
Endlich hatte ich die Kraft, meine Augen ganz zu öffnen, und stellte mit Entsetzen fest, dass ich mich in meinem eigenen Zimmer befand. Ich lag in meinem Bett, war ordentlich zugedeckt worden und jemand schien mir den Dreck von Armen und Beinen gewischt zu haben. Sofort dachte ich an meine Eltern, doch als ich durchs Haus nach ihnen rief, blieb es still.
Wie bin ich aus dem Wald in mein Bett gekommen? Habe ich alles nur geträumt? Das war eindeutig ein Bär hinter mir, aber … Das ist unmöglich! Hier im Wald?
Langsam versuchte ich mich aufzurichten, doch sofort überkam mich ein stechender Schmerz an meiner rechten Seite. Ich zog die Kleidung ein Stück weit hoch und begutachtete die schmerzende Stelle. Ich hatte einen richtig fiesen Bluterguss, der meine ganze Rechte in allen Farben des Regenbogens erstrahlen ließ. Also doch kein Traum.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte ich mich zur anderen Seite, um die digitale Uhr sehen zu können. Sie zeigte 11 Uhr morgens an, aber wie war das möglich? Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass ich wohl einen ganzen Tag verschlafen hatte, denn es war bereits Sonntag.
Mir war schwindelig und in meinem Kopf drehte sich alles, als ich versuchte, aus dem Bett zu steigen. Nur mühselig schaffte ich es die Treppe runter. Alles sah so aus, wie ich es verlassen hatte. In der Küche steckte sogar der Toast, den ich am vorigen Morgen hatte essen wollen, noch immer im Toaster. Ich erschrak, als ich plötzlich das leise Miauen von Cleopatra unter mir hörte und sah, wie sie sich an meine Beine schmiegte.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. So vieles sprach dafür, dass ich alles nur geträumt hatte, und doch waren der Toast und die Schmerzen sichere Indizien dafür, dass ich wirklich gestern von einem Bären verfolgt worden war. In Gedanken versunken, füllte ich Cleopatras Napf mit ihrem Lieblingsfutter, vergewisserte mich, dass die Wohnzimmertür verschlossen war und legte mich mit Kopfschmerzen zurück in mein Bett. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles möglich war und würde mir wahrscheinlich noch tagelang den Kopf darüber zerbrechen. Da meine Eltern mich nur für verrückt erklärt hätten, beschloss ich, ihnen nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das Einzige, worum ich sie bitten wollte, war einen hohen Zaun an der Grenze zum Wald zu errichten.