Читать книгу Anjuli Aishani - Janina Gerlach - Страница 6
PROLOG
ОглавлениеLange lange Zeit zuvor in der Unterwelt am Portal zu Rumänien:
Der Saal ist brechend voll. Alle sind sie zusammengekommen in der schwarzen Festung am Rande des Portals, gerufen durch ihre Meister. Ahnungslos sitzen sie in kleinen Grüppchen zusammen, gespannt darauf, was verkündet werden wird. Das Stimmengewirr erfüllt die Luft wie das Rauschen eines Wasserfalls. Der Raum ist riesig und die steinernen Mauern ragen weit in den Himmel hinauf. Trotzdem haben einige sogar auf den schweren hölzernen Querbalken an der Decke Platz nehmen müssen, da es sonst zu eng geworden wäre.
Erst vor ein paar Jahrhunderten ist der Erste von ihnen geschaffen worden und schon jetzt zählen sie fast fünfhundert ihrer Art. Wirklich alle haben sich an diesem Tag versammeln müssen. Nicht nur wie üblich die Familienältesten, nein, heute tummeln sich auch Frauen und unbeholfene Kinder im Gedränge.
Mit einem lauten Schlag fliegt plötzlich das massive Eingangsportal auf. Der eintretende Windstoß bringt die Fackeln an den Wänden zum Flackern. Sofort verstummt das Gemurmel im Saal. Jeder starrt gespannt zur Tür. Im nächsten Moment treten sie ein, zwanzig an der Zahl. Allesamt sind sie in lange schwarze Kutten gehüllt, die ihren Körper und sogar das Gesicht vollständig verdecken. Majestätisch schreiten sie in der altbewährten Formation durch den Gang, den die Umstehenden ehrfürchtig für sie geräumt haben, bis sie sich schließlich in einem Halbkreis vor der Menge aufbauen. Einer von ihnen tritt einen Schritt nach vorne und ergreift das Wort.
»Seid gegrüßt!«, schreit er in die Menge und sofort ertönt ein lautes Jubeln. Ein kleines Handzeichen des Sprechers genügt und es ist sofort wieder verstummt. Sie lauschen gespannt seinen Worten. Die Älteren erkennen, dass es der alte Radu ist, der spricht.
»Wir haben uns heute hier versammelt, um den größten Triumph unserer Geschichte zu zelebrieren!« Die eingelegte Pause bedeutet der Menge in erneutes Jubeln auszubrechen, dann donnert seine Stimme weiter.
»Vor wenigen Stunden ist es mir und meinen Männern«, er deutet auf die Gestalten hinter sich, »gelungen, die Hexen zu einem weiteren, ja zu einem gigantischen Entgegenkommen zu zwingen. Seht nur!«
Er greift mit beiden Händen die Ränder seiner Kapuze und die Männer hinter ihm tun es ihm gleich. Bedächtig langsam zieht er den schwarzen Stoff nach hinten und entblößt Stück für Stück seinen Kopf. Zum Vorschein kommt das Gesicht eines alten, grauhaarigen Mannes. Man würde ihn auf um die sechzig Jahre schätzen. Er hat buschige weiße Augenbrauen, die seinen Ehrgeiz verraten, und ein paar Falten spielen um seinen leicht lächelnden Mund. Seine weit aufgerissenen blauen Augen blicken Stolz erfüllt in die Menge.
Für einen Menschen wäre dieser Anblick nichts Besonderes gewesen, doch aus den Mienen der Zuschauer sprechen Entsetzen und Verblüffung. Sofort erfüllt lautes Gemurmel und Getuschel den Raum.
»Wie ist das möglich, Herr?«, ruft einer.
»Das will ich dir sagen«, spricht Radu weiter und der Saal liegt wieder in Totenstille vor ihm. »Ihr alle kennt den Brunnen im großen Saal der Festung.« Ein paar nicken eifrig, der Rest lauscht, traut sich kaum zu atmen. »Wir haben die Hexen dazu zwingen können, ihn in eine unversiegbare verzauberte Quelle zu verwandeln. Derjenige, der sich ihr Wasser über sein Haupt ergießen lässt, soll menschliche Gestalt annehmen und in der Menschenwelt leben können, ohne erkannt zu werden.«
Ein Raunen geht durch die Menge, die meisten tauschen ungläubige Blicke, doch keiner protestiert, denn der lebende Beweis steht ja dort vor ihnen. Plötzlich beginnt einer in der hinteren Reihe lautstark zu jubeln und bald stimmt der ganze Saal in die Freudenschreie ein. Es wäre wahrscheinlich den ganzen Abend so weiter gegangen, hätte der alte Radu nicht wieder das Wort ergriffen: »Halt!«, ruft er mit drohender Stimme, die den ganzen Saal erfüllt. Mit schnellen Schritten geht er auf die erste Reihe zu, die augenblicklich ehrfürchtig ein Stück zurückweicht. Er hebt seinen Finger mahnend in die Höhe.
»Ihr werdet die Vorzüge dieses neuen Zaubers sicherlich genießen, doch ich warne euch: Wenn auch nur ein Mensch hinter das Geheimnis kommt und ihr ihn nicht sofort beseitigt, wird das mit euch passieren!«
Ohne Vorwarnung tritt er noch ein Stück näher an die Masse heran, greift wahllos nach einem jüngeren Alters und haut ihm die nun wieder an seinen Fingern erschienenen langen Klauen in die Schultern. »Dies soll euch allen eine Lehre sein!«, ruft er aus und übertönt damit den verzweifelten Angstschrei des Opfers. Mit einer schnellen Bewegung hat der Meister den Hals des Jungen nach hinten überstreckt und rammt seine spitzen Zähne in seinen Hals. Blut spritzt, dann noch ein kurzes Zucken und der Körper fällt schlaff zu Boden. Die Umstehenden treten hastig noch weiter zurück, dann schreit Radu: »Und jetzt geht hinaus, Brüder und Schwestern und genießt die Freiheit!«
Er richtet das blutverschmierte Gesicht gen Himmel und lacht laut und voller Triumph.