Читать книгу Grundlagen der Funktionswerkstoffe für Studium und Praxis - Janko Auerswald - Страница 28

2.5 Vertiefende Betrachtung der plastischen Verformung

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AufmikroskopischerEbenebewegensichVersetzungenaufmöglichstdichtgepack-ten Ebenen in möglichst dicht gepackte Richtungen. Die Sprungweite eines Versetzungsschrittes (Burgersvektor) und damit die zum Gleiten benötigte Energie sind gering. Die Gleitrichtungen für vollständige Versetzungsschritte entsprechen in den dichtest gepackten Ebenen den dichtest gepackten Richtungen.

Ein tieferes Verständnis von Versetzungen und plastischer Kristallverformung erfordert ein profundes Wissen über Kristallstrukturen und ein gutes dreidimensionales Vorstellungsvermögen. Da sich Versetzungen als Ringe oder gebogene Linien auf einer Gleitebene im Kristall oder Korn ausbreiten, ist die Wanderungsrichtung der Versetzungslinie nur an bestimmten Stellen identisch mit der Sprungrichtung der Atome bei der plastischen Verformung - nämlich dort, wo die Versetzungslinie Stufencharakter hat. Besitzt das betrachtete Segment der Versetzungslinie Schraubenoder gemischten Charakter, ist dies nicht der Fall.

Diefolgende Abb.2.15 beschreibt die Entstehung und Ausbreitung einer Versetzung nach dem Frank-Reed-Mechanismus - allerdings aus Gründen der Vereinfachung in einem kubisch primitiven Gitter. Nur das radioaktive Element Polonium, von Marie Curie entdeckt, kristallisiert in dieser einfachen Gitterstruktur. Die meisten Metalle besitzen eine kfz, krz oder hdp Struktur. Für Verständniszwecke ist die folgende Betrachtung trotzdem ausreichend.

Die Versetzung breitet sich zwar kreisförmig in alle Richtungen auf der Gleitebene aus. Die Atome, über die die Versetzungslinie hinweggeht - egal in welche Richtung -, machen aber alle den gleichen Sprung in die gleiche Richtung des Burgersvektors (Gleitrichtung in der Gleitebene). Hat also ein Versetzungsring überall im Kristall die Korngrenzen erreicht, ist der Kristall auf dieser Ebene komplett um

Abb. 2.15 Tieferes Verständnis der plastischen Verformung durch Versetzungsgleiten. Entstehung (Frank-Reed-Quelle) und Ausbreitung von Versetzungen auf einer Gleitebene in einem Kristall unter einer SchubSpannung r. Versetzungen sind in Metallen nach der Kristallisation bereits in großer Zahl vorhanden. Unter Schubspannung wandern sie auf ihren Gleitebenen. Bleiben sie zwischen zwei Hindernissen hängen, z. B. an Fremdatomen, baucht sich die Versetzungslinie aus und krümmt sich unter der Schubspannung so stark, dass sie die Hindernisse komplett umschließt und einen Kreis bildet. Eine neue Versetzung entsteht dabei, während die alte Versetzungslinie zwischen den beiden Hindernissen durch Zusammenklappen der konkaven Segmente auf der Rückseite des sich neu bildenden Versetzungsrings wiederhergestellt wird. Wo der Burgersvektor, d. h. die Sprungrichtung der Atome(roter Pfeil), senkrecht auf der (blauen) Versetzungslinie steht, hat die Versetzung Stufencharakter (3-Uhr- und 9-Uhr-Position imBild). Woerparallelzur Versetzungslinie verläuft, hatsie Schraubencharakter (6-Uhr- und 12-Uhr-Position) und dazwischen gemischten Charakter. Zwischen den zwei Hindernissen bleibt das ursprüngliche Versetzungssegment zurück und der Mechanismus beginnt von Neuem, viele Tausende Male (Versetzungsmultiplikation). Die neu entstandenen Versetzungen breiten sich auf ihren Gleitebenen im Kristall wie konzentrische Wellen auf einer glatten Wasseroberfläche aus, bis sie auf die Korngrenzen oder auf die Werkstückoberfläche treffen. Dort treten die Versetzungen aus dem Kristall aus. Der Kristall hat sich dann um jeweils einen Atomabstand in Richtung des Burgersvektors plastisch verformt.

Abb. 2.16 Die zwölf Gleitsysteme im kfz Gitter. Es gibt vier Gleitebenen vom Typ {111}, rot markiert. In jeder Gleitebene existieren drei Gleitrichtungen vom Typ ⟨110⟩, blau markiert. Das ergibt zwölf Gleitsysteme vom Typ 1/2 ⟨110⟩ {111}. Die Atome an der Versetzungsfront springen dabei um die halbe Länge der Flächendiagonalen vom Typ ⟨110⟩, d. h. um einen Abstand direkt aneinandergrenzender Atome. Das Symbol 1 steht für minus 1.

einen Atomabstand in Richtung des Burgersvektors abgeglitten. So ist jede Versetzung eindeutig charakterisiert über ihre Gleitebene, ihren Burgersvektor und über die Sprungweite der Atome. Gleitebene und Burgersvektor einer Versetzung sowie die Linienrichtung und damit der Charakter (Stufe, Schraube, gemischt) eines Versetzungssegments lassen sich im Beugungskontrast eines Transmissionselektronenmikroskops (TEM) bestimmen. Die Lage der Atome lässt sich sogar direkt im Phasenkontrast des TEM betrachten.

Im kfz Gitter (Gold, Aluminium, Kupfer, γ-Eisen) gibt es zwölf Gleitsysteme auf vier Gleitebenen mit jeweils drei möglichen Gleitrichtungen (Abb. 2.16). Die Gleitsysteme sind vom Typ 1/2 ⟨110⟩{111}. Die Atome an der Versetzungslinie springen in dem Moment, in dem die Versetzungslinie über sie hinweggleitet, um die Hälfte einer Flächendiagonalen der kfz Elementarzelle in einer Richtung vom Typ ⟨110⟩, was einem Atomabstand im kfz Gitter in dieser dichtest gepackten Richtung entspricht, auf einer dichtest gepackten Ebene vom Typ {111}.

Im krz Gitter (a-Eisen) gibt es zwölf Hauptgleitsysteme vom Typ ⟨111⟩ {110}. In den sechs Gleitebenen vom Typ {110} existieren jeweils zwei Gleitrichtungen vom Typ (111). Die Atome an der Versetzungsfront springen dabei um einen Abstand direkt aneinandergrenzender Atome entlang der halben Raumdiagonale vom Typ ⟨111⟩ auf Gleitebenen vom Typ {1 10}. Abbildung 2. 17 zeigt die zwölf Hauptgleitsysteme des krz Gitters.

Da es sich beiden Ebenen vomTyp{110} nicht um wirklich dichtest gepackte Ebe-nen wie im kfz und hdp Gitter handelt, können geringfügig höhere mechanische Spannungen als die Fließgrenze auch zum Versetzungsgleiten auf anderen ähnlich dicht gepackten Ebenen führen, in denen die dichtest gepackten Richtungen vom Typ⟨111⟩ enthalten sind. Im krz Gitter sind das weitere zwölf Gleitebenen vom Typ {112} und 24 weitere Gleitebenen vom Typ {123}, die jeweils eine dichtest gepackte Gleitrichtung vom Typ ⟨111⟩ enthalten (Abb. 2.18). In dieser Gleitrichtung springen die Atome an der Versetzungsfront wiederum um einen Abstand aneinandergrenzender Atome bzw. um Länge der Raumdiagonale. Es gibt also zwölf weitere GleitSysteme vom Typ ⟨111⟩ {112} und 24 weitere Gleitsysteme vom Typ 1/2 ⟨111⟩ {123}. So kommt das krz Gitter auf insgesamt 48 Gleitsysteme.

Abb. 2.17 Die zwölf Hauptgleitsysteme im krz Gitter. Es gibt sechs Gleitebenen vom Typ {110}, blau markiert. In jeder Gleitebene existieren zwei Gleitrichtungen vom Typ ⟨111⟩, rot markiert. Das ergibt zwölf Gleit systeme vom Typ ⟨110⟩ {111}. Die Atome an der Versetzungsfront springen dabei um die halbe Länge der Raumdiagonale vom Typ ⟨111⟩, d.h. um einen Abstand direkt aneinandergrenzender Atome.


Abb. 2.18 Im krz Gitter gibt es noch zwölf weitere Gleitsysteme des Typs 1/2 ⟨111⟩ {112} und 24 weitere Gleitsysteme vom Typ 1/2 ⟨111⟩ {123}. Es ist je eines dieser Systeme exemplarisch gezeigt. Die Gleitebene ist jeweils blau markiert, die Gleitrichtung vom Typ ⟨111⟩ rot.

Abb. 2.19 Die drei Gleitsysteme auf nur einer Gleitebene im hdp Gitter. Die rot markierten dichtest gepackten Ebenen sind kris-tallographisch identische Gleitebenen. Die dichtest gepackten Richtungen sind blau markiert. Die Atome an der Versetzungsfront springen dabei um einen Abstand direkt aneinandergrenzender Atome.


Abb. 2.20 Zeichnung zur Erläuterung des Schmid’schen Schubspannungsgesetzes (a). Dabei ist A (rot) eine Gleitebene, b die Richtung des Burgersvektors in dieser Gleitebene (Gleitrichtung, blau) und N die Ebenennormale der Gleitebene A. (b) Sichtbare Gleitebenenstufen (oben im Bild) an einer einkristallinen polierten Zugprobe. An diesen Stufen ist der Austritt Tausender Versetzungen auf Gleitebenen an der Oberfläche sichtbar. Gemäß Schmid’schem Schubspannungsgesetz sind die Gleitebenen aktiv, deren Neigung nahe 45° zur Normalkraft F liegt, auf denen also die größten Schubspannungen wirken.

Im hdp Gitter gibt es nur eine Gleitebene (001) mit drei Gleitrichtungen ⟨100⟩, ⟨010⟩ und ⟨110⟩. Das ergibt drei Gleitsysteme in nur dieser einen Gleitebene (Abb. 2.19).

Bei angelegter Normalkraft F (z. B. Zugkraft) lässt sich die auf ein Gleitsystem wirkende Schubspannung gemäß dem Schmid’schen Schubspannungsgesetz berechnen (Abb. 2.20).

Die Scherkraft Fb auf der Gleitebene A in Richtung des Burgersvektors b ergibt sich zu:


Die Schubspannung τ auf der Gleitebene A in Richtung des Burgersvektors b ist:


Mit


und der Normalspannung


ergibt sich durch Einsetzen das Schmid’sche Schubspannungsgesetz


Die Schubspannung t wird maximal, wenn die Winkel a und ß den Wert von 45° annehmen. Dann gilt


Die Gleitsysteme, die sehr nahe bei dieser Orientierung der maximalen Schubspannung liegen, werden (als erste) aktiviert. In kfz und krz Strukturen mit ihren vielen Gleitsystemen ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf eines oder mehrere dieser Gleitsysteme bei Einwirkung einer äußeren Kraft F eine hohe Schubspannung τ wirkt, relativ hoch. In hdp Strukturen mit ihren wenigen Gleitsystemen ist diese Wahrscheinlichkeit eher gering. Auf Gleitsystemen ohne oder mit geringer Schubspannungskomponente ist plastische Verformung schwierig. Daher sind hdp Strukturen i. Allg. schlecht plastisch verformbar.

Im kfz Gitter haben die Atome aufgrund der Stapelfolge der {111}-Gleitebenen die Möglichkeit, statt in ⟨110⟩-Richtung auch in eine ⟨112⟩-Richtung zu springen. Man spricht dann nicht von einer vollständigen, sondern von einer partiellen Versetzung. Diese verursacht einen Stapelfehler der dichtest gepackten {111} Ebenen, also statt ABC ABC ABC gibt es nun eine Stapelfolge ABCACA BCA. Die rot markierte Ebene A vom Typ {111} soll dabei die Gleitebene der Versetzung sein. Bei drei übereinander folgenden Stapelfehlern spricht man von einem Zwillingsfehler. Solche Stapel-und Zwillingsfehler sind typisch für die kfz Austenitstruktur von rostfreiem ChromNickel-Edelstahl, aber auch für plastisch verformte Ausscheidungen der intermetallischen Phase Ni3Al mit L12-Struktur in Nickelbasis-Superlegierungen, die auf der kfz Struktur basieren, oder in Formgedächtnislegierungen aus Nitinol (NiTi). Abbildung 2.21 zeigt Stapelfehler in Ni3Al-Ausscheidungen von Turbinenschaufeln.

In Formgedächtnislegierungen wie Nitinol (NiTi) ist die sogenannte Zwillingsbildung ein wichtiger plastischer Verformungsmechanismus bei Raumtemperatur, wenn die sogenannte martensitische Phase vorliegt. Wird die Legierung erwärmt, so dass sich die martensitische Struktur in eine austenitische Struktur umwandelt, verschwinden die durch mechanische Verformung erzeugten Zwillinge wieder und damit auch die plastische Verformung, bevor die Legierung durch Abkühlen wieder in den martensitischen Zustand übergeht. Die Legierung hat sich an ihre ursprüngliche Form vor der plastischen Verformung ,,erinnert“.

Abb. 2.21 Drei Stapelfehler in Ni3Al-Ausscheidungen einer einkristallinen Nickelbasis-Superlegierung für Turbinenschaufeln nach Verformung bei 950 °C (flächige Streifenmuster in der linken Aufnahme mit dem Transmissionselektronenmikroskop TEM mit Einstrahlrichtung [001]). Die Partialversetzung, die den Stapelfehler oben links verursacht hat, ist auf einer (111)-Ebene in die Ausscheidung eingedrungen, hat dann die Gleitebene gewechselt und die Ni3Al-Ausscheidung über eine (111)-Ebene wieder verlassen. Die Partialversetzung, die den Stapelfehler unten rechts hinterlassen hat, ist komplett auf einer (111)-Ebene durch die Ausscheidung durchgelaufen und hat einen großen Stapelfehlerbereich hinterlassen. Die Partialversetzung unten links ist noch innerhalb der Ni3Al-Ausscheidung sichtbar. Sie befindet sich aufderGleitebene (111) und erzeugt gerade einen Stapelfehler. Damit sind alle vier Gleitebenen an der plastischen Verformung bei dieser hohen Temperatur beteiligt. In der rechten Aufnahme wurde die Probe so gekippt, dass der Elektronenstrahl parallel zur [011] Richtung liegt und zwei der vier Gleitebenen, nämlich (111) und (111), auf Kante stehen. So konnten alle vier Gleitebenen vom Typ {111} eindeutig identifiziert werden.

Bei hohen Temperaturen wird die plastische Verformung verstärkt durch Diffusion. Dabei diffundieren die Atome und nehmen neue Plätze ein, um der äußeren mechanischen Spannung auszuweichen. Die Diffusion erfolgt sehr stark entlang der Korngrenzen, wo eine größere Unordnung als im Kristallgitter und damit mehr Platz für die Atome vorliegt. Das ist der Grund, warum im heißen Bereich einer Flugzeug- oder Gasturbine direkt hinter der Brennkammer einkristalline Turbinenschaufeln ohne Korngrenzen verwendet werden.

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