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Einleitung

Dieses Buch ist schon historisch, ein Zeitdokument. Es ist in den 1970er Jahren entstanden, und es gehört eindeutig in die Siebziger. Die Welt hat sich seitdem sehr verändert, und mehr als alles andere haben sich Vorstellungen von sexueller Identität verändert, und um die geht es ja zumindest vordergründig in diesem Buch. Frauen haben heute ein anderes Bild von sich, Männer haben ein anderes Bild von Frauen, und jener gar nicht so kleine Prozentsatz der Population, der sich damals von den gängigen Kategorien des Sexuellen ausgeschlossen fühlte, kann heute um vieles unbefangener leben.

Besonders das, was man gemeinhin unter dem Begriff Geschlechtsumwandlung kennt und was jahrzehntelang der Regenbogenpresse Material für schlüpfrige Geschichten lieferte, ist heute beinahe alltäglich geworden. Inzwischen haben Tausende von Männern und Frauen die Möglichkeit gehabt, das jeweils andere Geschlecht anzunehmen, aus den verschiedensten Gründen. Einige sind in ihrem Beruf zu Ansehen gekommen, einige haben sich zum Narren gemacht, einige sind hässlich, einige schön, einige führen ein ausschweifendes Liebesleben, einige sind keusch, einige haben das Licht der Öffentlichkeit gesucht, einige sind bescheiden für sich geblieben – kurz, die Menschen, die man heute Transsexuelle nennt, haben sich in den meisten Dingen des Alltags als nicht anders erwiesen als alle anderen auch.

Hinzu kommt, dass die Wissenschaft ein wenig Licht ins Dunkel ihrer Verfassung gebracht hat. Holländische Wissenschaftler konnten an den Gehirnen von sechs transsexuellen Männern Autopsien vornehmen und stellten fest, dass in allen Fällen ein bestimmter Bereich des Hypothalamus, am unteren Gehirnende, abnorm klein für einen Mann war, ja kleiner als bei den meisten Frauen. Dies könnte ein erstes Indiz dafür sein, dass es tatsächlich körperliche, nicht nur psychologische Ursachen für dieses Phänomen gibt. Es ist also doch nicht nur eine Sache der Psyche, und das dürfte erklären, warum es in so vielen Jahren nie gelungen ist, auch nur einen einzigen Transsexuellen mit psychiatrischen Mitteln zu »heilen«. Außerdem setzt sich die Vorstellung immer mehr durch, dass jeder von uns aus männlichen und weiblichen Elementen zusammengesetzt ist, in den verschiedensten Mischungsverhältnissen.

Doch auch wenn manches an meinem Buch auf eine fast schon verschrobene Art altmodisch wirkt, ändert das nicht das Geringste an seinen grundsätzlichen Einstellungen. Ich habe nur einige wenige Wörter für diese neue Ausgabe verändert, und dies ausschließlich in Sachfragen. Ich selbst habe das Rätsel in mir nie für eine wissenschaftliche Frage oder eine gesellschaftlicher Konventionen gehalten. Für mich war es eine Frage des Geistes, eine Art göttlicher Allegorie, und deshalb fand ich, dass Erklärungen nicht weiter wichtig dafür waren. Wichtig war, dass wir alle zusammen die Freiheit hatten, zu leben, wie wir leben wollten, zu lieben, wie wir lieben wollten, und das im Bewusstsein, dass wir, wie eigentümlich, fremdartig oder unklassifizierbar wir auch waren, eins waren mit den Göttern und den Engeln.

Bei seinem ersten Erscheinen erregte das Buch einiges Aufsehen und fand bald auch in anderen Sprachen Verbreitung – die deutsche und die schwedische Ausgabe hießen beide wie im Englischen Conundrum, die spanische und italienische Enigma, im Portugiesischen hieß es Conundrum oder Enigma, und in Japan hatten sie etwas Wunderschönes als Titel. Briefe kamen zu Tausenden, massenhaft Einladungen stellten sich ein – ein halbes Leben fleißiger, sorgfältiger Arbeit hatte mir nie so viel Aufmerksamkeit eingebracht wie nun allein der Wandel meines Geschlechts!

Denn alles in allem waren die Reaktionen freundlich, und ich hatte Glück, dass all dies in einer gesellschaftlichen Epoche ans Licht kam, die heute abfällig als »permissiv« bezeichnet wird, die für mich aber trotz aller Exzesse eine Zeit der Freiheit, der Befreiung und der Lebensfreude überall in der westlichen Welt war. Fast alles, was damals an radikalen Bewegungen zu neuem Leben erwachte, das Streben nach persönlicher Freiheit in jeglicher Form, die Sorge um den Zustand unseres Planeten und das Wohl der Tiere, fand seinen kleinen Niederschlag in meiner eigenen Entwicklung. Ich spürte in meinen persönlichen Belangen ein mythisches oder mystisches Streben nach Ganzheit, nach weltweiter Versöhnung, und damals gab es viele, die genauso dachten wie ich.

Seitdem ist die Welt härter geworden, aber meine Ansichten sind dieselben geblieben. Ich liebe, was ich seit jeher geliebt habe: meine Familie, meine Arbeit, ein paar Freunde, meine Bücher und meine Tiere, mein Haus zwischen Bergen und Meer, die Stimmung meiner walisischen Heimat rings um mich her. Habe ich denn nun, mag man fragen, den wahren Zweck meiner Pilgerreise gefunden, das letzte Rätsel meines Dilemmas oder Zwiespalts gelöst? Manchmal unten am Fluss scheint es mir beinahe, als hätte ich es; aber dann wechselt das Licht, der Wind schlägt um, eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und dann entgleitet mir die Antwort auf die Frage nach dem Sinn doch wieder.

Trefan Morys, 2001 Jan Morris

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