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Unter dem Klavier – über dem Meer – Transsexualität – das Rätsel in mir
Ich war drei oder vielleicht vier Jahre alt, als mir aufging, dass ich im falschen Körper geboren war und in Wirklichkeit eigentlich ein Mädchen sein sollte. Ich erinnere mich an diesen Augenblick genau, es ist meine früheste Erinnerung.
Ich saß unter dem Klavier, meine Mutter spielte, und ihre Musik ging rings um mich nieder wie stürzende Wasser, sie schloss mich ein wie in einer Grotte. Die kurzen runden Klavierbeine waren wie drei schwarze Stalaktiten, der Resonanzboden ein hohes schwarzes Gewölbe über mir. Meine Mutter spielte vermutlich Sibelius, sie war damals in einer finnischen Phase, und Sibelius kann, wenn man als Zuhörer unter dem Klavier sitzt, ein sehr lautstarker Komponist sein; aber mir gefiel es dort unten, ich saß oft dort, zeichnete manchmal Bilder auf Notenblätter, die in Stößen um mich herum lagen, oder hielt meine unglückliche Katze fest im Arm.
Wie ich auf einen so bizarren Gedanken gekommen bin, habe ich längst vergessen, aber es war vom ersten Augenblick an eine feste Überzeugung. Von außen betrachtet war es reiner Unsinn. Für die meisten Leute war ich ein ausgesprochen unkompliziertes Kind, das sich einer glücklichen Kindheit freute. Ich liebte und wurde geliebt, man zog mich freundlich und vernünftig auf, in angenehmem Maße verwöhnt, schon in frühem Alter mit Huck Finn und Alice im Wunderland vertraut gemacht, man brachte mir bei, meine Tiere gernzuhaben, bei Tisch zu beten, stolz auf mich zu sein und mir vor dem Essen die Hände zu waschen. Ich konnte mir gewiss sein, dass ich immer ein Publikum hatte. Ich lebte in vollkommener Sicherheit. Wenn ich auf meine frühe Kindheit zurückblicke, wie man eine windbewegte Allee hinunterschauen mag, sehe ich dort nur eitel Sonnenschein – denn natürlich war damals das Wetter noch um vieles besser, da waren die Sommer noch echte Sommer, und wenn ich mich recht erinnere, regnete es so gut wie nie.
Um bei meinem Thema zu bleiben, aus jedem vernünftigen Blickwinkel betrachtet war ich ein Junge. Ich hieß James Humphry Morris, Kind männlichen Geschlechts. Ich hatte den Körper eines Jungen. Ich trug die Kleider eines Jungen. Es ist wahr, meine Mutter hatte sich eine Tochter gewünscht, aber sie hat mich nie als Mädchen behandelt. Wahr ist auch, dass Besucherinnen mich bisweilen überschwänglich an ihren lavendelduftenden Fuchspelz drückten und dabei raunten, dass ich mit meinem Lockenkopf doch eigentlich ein Mädchen hätte sein sollen. Als jüngster von drei Brüdern in einer Familie, die schon bald ihren Vater verlieren sollte, wurde ich zweifellos verhätschelt. Als verweichlicht hingegen galt ich nicht. Im Kindergarten hat mich keiner wegen so etwas gehänselt. Keiner starrte mich auf der Straße an. Hätte ich damals laut gesagt, was mir unter dem Klavier durch den Kopf ging, wäre meine Familie zwar kaum schockiert gewesen (Virginia Woolfs androgyner Orlando stand bei uns im Regal), aber doch wohl verblüfft.
Allerdings dachte ich nicht im Traum daran, das bekannt zu machen. Es war ein Geheimnis, das ich sorgsam hütete; zwanzig Jahre lang teilte ich es mit keiner Menschenseele. Anfangs schien es mir auch nicht weiter von Bedeutung; was das Geschlechtliche anging, hatte ich genauso wenig Ahnung wie jedes andere Kind, und ich stellte mir vor, dass es einfach nur ein weiterer Punkt war, in dem ich anders war. Denn dass ich in manchem anders war, das merkte ich. Niemand hat mich je gedrängt, zu sein wie andere Kinder; Konformismus war keine Eigenschaft, die bei uns zu Hause geschätzt wurde. Wir hatten, das wussten wir alle, ein paar merkwürdige Gestalten unter unseren Ahnen, seltsame Verbindungen, Waliser, Normannen, Quäker, und ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich genauso war wie alle anderen.
Das führte dazu, dass ich als Kind viel allein war, und heute sehe ich, dass meine allenfalls halb bewussten inneren Konflikte mich noch umso einsamer machten. Wenn meine Brüder in der Schule waren, ging ich einsam über Berg und Tal, wanderte zwischen den Felsen, platschte durch den Uferschlamm, durchstöberte die Gezeitentümpel des Bristolkanals, manchmal fischte ich Aale in den trüben Wassergräben des Moors oder beobachtete durch mein Fernrohr die Schiffe, die nach Newport oder Avonmouth fuhren. Wenn ich den Blick nach Osten schweifen ließ, sah ich die Hügelkette der Mendips, auf deren Leeseite die Sippschaft meiner Mutter lebte, Landadel in bescheidenen Verhältnissen, zu Lebzeiten zufrieden, im Tode unter Messingplatten gesteckt. Blickte ich nach Westen, sah ich, weit aufregender für mich, die bläulichen Gesteinsmassen der walisischen Berge, an deren Fuß die Familie meines Vaters seit Ewigkeiten lebte – »anständige, stolze Menschen«, wie ein Cousin sie mir einmal beschrieb; dort erinnerte man sich noch an die letzten, die Walisisch gesprochen hatten, und alle miteinander verband über Generationen die Liebe zur Musik.
Beide diese Ausblicke waren, wie es mir damals vorkam, mein eigen, und der Stolz auf diesen zwiefachen Besitz gab mir bisweilen das Gefühl, mir gehöre die ganze Welt, ich könne schauen, wohin ich wolle, und immer würde ich darin etwas von mir finden – ein ungesunder Hochmut, wie ich seither festgestellt habe, denn er führte dazu, dass mir später kein Land und keine Stadt den Besuch wert schien, wenn ich nicht ein Haus dort besaß oder ein Buch darüber schrieb. Und wie bei allen Napoleonfantasien fühlte man sich ziemlich einsam damit. Denn auch wenn all diese Gegenden mir gehörten, gehörte ich keiner bestimmten davon an. Die Menschen, die ich von meinem Hügel aus sehen konnte, die ihre Felder bestellten, ihre Läden versorgten, sich beim Ferienflirt am Meer vergnügten, lebten in einer anderen Welt. Sie alle lebten in Gemeinschaft, ich war ganz allein. Sie gehörten zum Club, ich war draußen. Sie redeten miteinander in Worten, die sie alle verstanden, über Dinge, die sie alle interessierten. Ich sprach eine Sprache, die allein mir gehörte, und was mir durch den Kopf ging, hätte sie nur gelangweilt. Manchmal fragte jemand, ob er durch mein Fernrohr sehen dürfe, und das machte mir großes Vergnügen. Dies optische Instrument spielte eine wichtige Rolle in meinen Tagträumen und Reflexionen, vielleicht weil es mir schien, als bekäme ich damit einen ganz persönlichen Einblick in fremde Welten, und als ich mit acht oder neun Jahren die ersten Seiten eines Buches schrieb, nannte ich es Auf Reisen mit dem Fernrohr – gar kein schlechter Titel, wenn man sich das überlegt. Und so war ich immer stolz, wenn jemand nach ein paar launigen Bemerkungen – »Das ist aber ein großes Fernrohr für einen kleinen Jungen! Wonach hältst du denn Ausschau – nach Gandhi?« – selbst hindurchsehen wollte. Zum einen war ich ein schrecklicher Angeber und stellte es immer mit einer einzigen Handbewegung für sie auf das Feuerschiff im Kanal scharf, das English and Welsh Grounds. Zum anderen kam ich mir durch den kurzen Kontakt normaler vor.
Immer stand ich sozusagen neben mir und beobachtete mich genau, wie ich dort über die Hänge stolperte oder im weichen Gras in der Sonne lag. Der Hintergrund war, oder ist es zumindest in meiner Erinnerung, strahlend und klar, wie auf einem Gemälde der Präraffaeliten. Der Himmel mag nicht immer so blau gewesen sein, wie ich ihn im Gedächtnis habe, aber auf alle Fälle war er kristallklar, und der einzige Rauch mochte von einem Kohlenschiff kommen, das sich den Kanal hinaufarbeitete, oder in der Ferne die Schlieren, die immer über den Tälern von Swansea hingen. Habichte und Lerchen gab es in Massen, überall Kaninchen, Wiesel flitzten durch das Farnkraut, und manchmal kam über die Kuppe, gemächlich mit einem tiefen Brummen, der tägliche De-Havilland-Doppeldecker auf seinem Flug nach Cardiff.
Weit weniger klar und eindeutig war dagegen das, was in meinem Inneren vorging. Die Vorstellung, dass ich das falsche Geschlecht hatte, war nur ein unbestimmtes Gefühl, und das in den Tiefen meines Verstandes verstaut; ich war nicht unglücklich, aber den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte, hatte ich die ganze Zeit. Selbst da schon kam mir diese stille, frische Kindheit hoch über dem Meer seltsam unvollkommen vor. Es war eine Sehnsucht, aber ich wusste nicht wonach, als fehle aus meinem Muster ein Stück, oder als sei etwas an mir, das fest und dauerhauft sein sollte, statt flüchtig und diffus. Alles schien irgendwie eindeutiger für die Leute unten am Fuß des Hügels. Für sie schien das Leben vorbestimmt, als hielten sie wie die alte de Havilland unbeirrbar und zufrieden an ihrer täglichen Route fest, brummten friedlich vor sich hin. Ich war eher ein Segelflugzeug, leicht und anmutig vielleicht, aber doch ohne Richtung.
Diese Verwunderung verließ mich nie, und heute sehe ich darin die Keimzelle zum Dilemma meines Lebens. Meine Landschaften waren Millais oder Holman Hunt, aber was in meinem Inneren zu sehen war, war reiner Turner, als ließe sich meine innere Unsicherheit nur in Wirbeln und Farbwolken malen, ein Nebel in mir. Wo dieses Bild sich befand, hätte ich nicht sagen können – in meinem Kopf, im Herzen, in meinen Lenden, im Blut. Ebenso wenig wusste ich, ob ich mich dessen schämen sollte, stolz darauf sein, dankbar dafür oder es verachten. Bisweilen schien mir, ohne es wäre ich glücklicher, zu anderen Zeiten stellte ich mir vor, dass es gewiss ein entscheidender Bestandteil meines Wesens war. Vielleicht würde ich eines Tages, wenn ich groß war, genauso massiv sein, wie andere Leute es anscheinend waren; andererseits war es mir aber vielleicht auch bestimmt, für immer ein ätherisches Wesen zu bleiben, ein Geschöpf aus Gischt, das fast gegenstandslos daherschwebte und sich jeder Berührung entzog.
Ich beschreibe die Verwirrung in den Begriffen eines Rätsels, und etwas Geheimnisvolles bleibt. Im Grunde weiß keiner, warum manche Kinder, Jungen oder Mädchen, irgendwann in sich die durch nichts mehr zu vertreibende Überzeugung entdecken, dass sie, allen äußeren Anzeichen zum Trotz, eigentlich zum anderen Geschlecht gehören. Das geschieht schon im frühkindlichen Alter. Oft zeigen sich erste Anzeichen bereits beim Baby, und im Allgemeinen ist die Vorstellung, wie bei mir, mit vier oder fünf Jahren fest verankert. Manche Theoretiker gehen davon aus, dass das Kind damit geboren ist: Vielleicht gibt es noch unentdeckte körperliche oder genetische Faktoren, oder der Fötus ist während der Schwangerschaft fehlgeleiteten Hormonen ausgesetzt, wie amerikanische Forscher kürzlich zur Diskussion stellten. Weitaus größer ist jedoch die Zahl derer, die davon ausgehen, dass allein Faktoren der frühen Lebensumwelt beteiligt sind: zu große Identifizierung mit einem Elternteil, eine dominante Mutter oder ein übermächtiger Vater, ein Junge, der zu mädchenhaft aufwächst, ein Mädchen, das ein Raufbold ist. Andere stellen sich eine Mischung aus ererbten und Umwelteinflüssen vor – niemand wird mit rein weiblichen oder rein männlichen Merkmalen geboren, und manche Kinder mögen empfindlicher als andere gegenüber dem sein, was die Psychologen die »Prägung« durch äußere Einflüsse nennen.
Wie dem auch sei, heute gibt es Tausende, womöglich Hunderttausende von Menschen, die von diesem Phänomen betroffen sind. Neuerdings wird es als Transsexualität bezeichnet, und in seiner klassischen Ausprägung unterscheidet es sich deutlich sowohl vom Transvestitentum als auch von der Homosexualität. Transvestiten und Homosexuelle glauben beide bisweilen, sie könnten glücklicher leben, wenn sie ihr Geschlecht änderten, aber in den meisten Fällen ist dies ein Irrtum. Ein Transvestit bezieht seine Befriedigung ja gerade daraus, dass er Kleider des anderen Geschlechts trägt, und würde dieses Vergnügen verlieren, wenn er dem anderen Geschlecht tatsächlich angehörte; und der Homosexuelle zieht per definitionem gleichgeschlechtliche Liebe vor und würde sich durch einen Wandel sich selbst und seinen Partnern nur entfremden. Transsexualität ist etwas grundsätzlich anderes. Es geht dabei überhaupt nicht um Sex. Es ist keine sexuelle Einstellung oder Vorliebe. Es ist eine leidenschaftliche, unauslöschliche, lebenslange Überzeugung, und keinen echten Transsexuellen hat man je davon abbringen können.
Ich habe versucht, meine Emotionen als Kind zu analysieren, dahinterzukommen, was ich meinte, als ich mich zum Mädchen im Körper eines Jungen erklärte. Wie bin ich darauf gekommen? Was hatte ich als Beleg? Fand ich einfach nur, dass ich mich wie ein Mädchen betragen sollte? Fand ich, die anderen sollten mich als eines behandeln? Hatte ich beschlossen, dass ich, wenn ich groß war, lieber eine Frau als ein Mann sein wollte? Hatte irgendein grässliches Erbe des Weltkriegs, der meinen Vater zum Krüppel gemacht hatte und ihn schließlich umbrachte, mir die Leidenschaften und Instinkte der Männer widerwärtig werden lassen? Oder hatte einfach in den Monaten, die ich im Mutterleib zugebracht hatte, etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, die Hormone waren falsch gemischt, und es steckte überhaupt nichts Verstandesmäßiges dahinter?
Freudianer und Freudgegner, Analytiker der Gesellschaft und der Umwelt, engste Freunde und bloße Bekannte, Verleger und Agenten, Männer Gottes und Männer der Wissenschaft, Zyniker und Empathiker, Lüstlinge und Tugendbolde – alle haben sie mir seither diese Fragen gestellt, und sehr oft schlugen sie auch Antworten vor, aber für mich ist und bleibt es ein Rätsel. Nicht zu ändern. Ich habe meine Kindheit hier in ein paar kurzen Impressionen beschworen, wie ein Ballett, das man durch einen Gazevorhang betrachtet; unbestimmt, weil ich mich daran nur noch erinnere wie an einen Traum, aber auch deswegen, weil ich ihr nicht die Schuld an meinem Dilemma geben will. In allem anderen war es eine bezaubernde Kindheit, und ich bin dankbar dafür bis zum heutigen Tag.
Ich selbst sehe dieses Dilemma – ein Rätsel, einen Zwiespalt, wie immer man es nennen mag – in einer anderen Perspektive, denn für mich sind seine Ursprünge wie seine Bedeutung etwas Höheres. Für mich ist es gleichbedeutend mit der Frage nach der Seele, nach dem Ich, und ich sehe es nicht einfach nur als Rätsel der geschlechtlichen Identität an, sondern als das Streben nach Einheit. Für mich ist jeder Aspekt meines Lebens bedeutsam für dieses Streben – nicht nur die sexuellen Impulse, sondern all die Bilder, Klänge, Gerüche, an die wir uns erinnern, die Rolle, die Bauwerke spielten, Landschaften, Kameradschaften, die Macht der Liebe und der Trauer, die Befriedigung der Sinne ebenso wie die des Körpers. In meiner Vorstellung ist es ein Thema, das weit über Sexuelles hinausgeht: Es hat für mich nichts mit Lust zu tun, und in letzter Konsequenz ist es ein Dilemma weder des Körpers noch des Verstands, sondern eines der Seele.
Aber es war natürlich doch etwas Sexuelles, was die vierzig Jahre nach diesem Rendezvous mit Sibelius beherrscht, was mich von anderem in meinem Leben abgehalten und mich gequält hat: das tragische und unvernünftige Streben danach – instinktiv auf den Begriff gebracht, doch mit vollem Bewusstsein verfolgt –, meiner männlichen Identität zu entkommen und meine weibliche zu finden.