Читать книгу Fünf ungleiche Reiter - Jannis B. Ihrig - Страница 11
6. Kapitel – Prüfung des Dschungelgottes
ОглавлениеNorden im Dschungel des Südens
Morgen des drittens Tages nach dem Fall von Erlin
Schimascha fluchte. Ausgerechnet heute, am Tag ihrer Prüfung, musste sie auf die seltenen Pisakmücken stoßen, die ihren Namen zu Recht trugen. Als einzige Mückenart waren sie in der Lage, die grünliche, dicke, aus Schuppen zusammengesetzte Haut der Tarborianerin zu durchdringen und die hellgraue Schamanenkutte bot auch keinen Schutz. Sie schlug nach dem Schwarm, der sie überfiel, doch zum Überfluss waren die Plagegeister auch flink. Als sie einsah, dass es keinen Sinn hatte, machte sie sich wieder auf den Weg zu der Lichtung des Dschungelgottes, eine heilige Stätte, die im Norden des Dschungels lag und von jeden angehenden Schamanen besucht werden musste.
Schimascha musste an ihre Eltern denken und an ihre Augen, die voller Stolz geglänzt hatten, als sie erfuhren, dass ihre Tochter als Schamanin auserwählt worden war. Nur ein Bruchteil aller der zu Schamanen auszubildenden Lehrlinge wurde erwählt, um sich mit dem Dschungelgott zu vereinen. Die anderen wurden Heilkundige, auch eine hoch angesehene Tätigkeit. Doch nur durch die Vereinigung mit dem Dschungelgott erlangte man die Kraft, die Natur um sich herum zu beeinflussen. Viele ihres Volkes gierte es nach dieser Kraft. Schimascha selber hatte nie das Verlangen danach gespürt, sie lernte nur, damit sie später anderen helfen konnte. Sie vermutete, dass sie genau deshalb erwählt wurde. Der Gott konnte keine habgierigen Diener gebrauchen.
Sie trat weiter durch den Wald, bis auf einmal die Pisakmücken aufhörten zu stechen und zurückflogen. Sie erkannte sofort den Grund dafür: Sie hatte die Lichtung des Dschungelgottes erreicht, ein heiliger Ort, den selbst die kleinsten Tiere ehrfürchtig mieden.
Man hatte ihr alles genau gesagt, was sie tun musste, weshalb sie langsam auf den Meditationsstein, der in der Mitte der Lichtung lag, zutrat. Als sie vor ihm stand, stieg sie hinauf, setzte sich hin und meditierte. Da saß sie nun, völlig ruhig und voller Konzentration. Dann kam der entscheidende Moment: Sie spürte die Anwesenheit eines körperlosen, aber mächtigen Wesens. Sie spürte, wie die kräftigen Wurzeln der Bäume sich aus dem Boden gruben. Sie spürte, wie der Stein von ihnen angehoben wurde. Sie war eins mit dem Dschungel. Sie öffnete die Augen und sah, wie die Wurzeln, die jetzt mindesten hundert Meter lang sein mussten, den Stein umschlangen und sich dann um sie herum gerade in den Himmel reckten. Wie in Trance stand sie auf und breitete die Arme waagerecht aus. Sie wartete, bis sie eine Stimme in Geiste vernahm: „Bist du bereit für die Vereinigung?“
„Ja, mein Gott.“ Zwei Wurzeln bewegten sich, bis ihre Enden auf die Schultern der Tarborianerin zeigten. Dann verformten sich die Enden zu Spitzen. Einen Moment lang verharrten sie. Danach rasten sie mit voller Wucht auf sie zu. Sie schrie, als ihre Arme abgetrennt wurden. Der Schmerz war trotz der Vorwarnung der anderen Schamanen überwältigend. Sie weinte und schämte sich wegen ihrer mangelnden Selbstbeherrschung. „Schäme dich nicht, niemand ist gegen Schmerzen immun, selbst ich nicht“, tröstete sie die Stimme in ihrem Geist. Zwei andere Wurzeln bewegten sich nun an den frischen Wunden der Armstümpfe und setzen jeweils einen Samen in diese ein. Dann zuckten die Wurzeln wieder zurück. Schimascha spürte, wie die Samen ihr Blut aufnahmen, aufquollen und schließlich platzten. Wurzeln drangen in ihr Fleisch und verbanden sich mit den Blutbahnen und Nervensträngen. Zwei Stämme ohne Äste und Blätter entstanden und wuchsen zu Armen, die Hände mit je fünf Fingern hatten. Während das Abtrennen schmerzvoll gewesen war, fühlte sich das Wachsen der Armpflanzen, Schimascha nannte sie so, schmerzlos, ja sogar gut an. Als die Pflanzen ausgewachsen waren, wurde der Stein langsam herabgelassen. Schimascha stieg ab und betrachtete ihre neuen Arme. Sie waren aus braunem Holz und jetzt konnte sie einzelne kleine Blätter entdecken. Am außergewöhnlichsten waren die fünf Finger. Ein Tarborianer hatte nur drei krallenförmige Finger, von denen der eine wie ein Daumen fungierte. Plötzlich war sie unglaublich müde. Sie sackte zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Als sie aufwachte, war es immer noch heller Tag. „Guten Morgen. Naja, eigentlich ist es ja schon Mittag. Wie fühlst du dich?“ Schimascha, trotz des Wissens, dass der Dschungelgott über den Geist mit einem sprach, erschreckte sich. Dann aber fasste sie sich wieder und antwortete: „Für ein kleines Nickerchen war er sehr erholsam, der Schlaf.“
„Nickerchen? Du hast vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen.“
„Was? Oje, dann sollte ich zurück ins Dorf gehen, bevor sich noch jemand Sorgen macht.“
„Das geht nicht.“
„Warum, Mächtiger?“
„Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ich kann nur sagen, dass schreckliche Dinge geschehen werden. Du muss nach Norden, zu den Zwergen.“
„Aber …“
„Ich weiß, es kommt überraschend. Ich wünschte ich hätte mehr Zeit zum Erklären. Du wirst es aber schon von selbst verstehen.“ Als diese Worte verklungen waren, raschelte es hinter Schimascha. Sie drehte sich um und sah einen Rabämus, ein bärenähnliches Reptil. An der Haltung des Tieres erkannte sie, dass es keine feindlichen Absichten hatte. Als es näher kam, ließ es ein großes, grünes Ei aus seinen Krallen fallen. „Nimm es mit in den Norden. Nein, fragt nicht, die Zeit drängt. Du musst los.“ Ohne weiter zu fragen nahm Schimascha das Ei und packte es in ihren Beutel. Dann machte sie sich auf den Weg.