Читать книгу Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell - Страница 11
2003
ОглавлениеChris: „Chris, Mann, altes Haus, alles Gute zum Zwanzigsten!“
„Danke, Lukas“, sagte ich, während ich einhändig versuchte, meinen leicht angebrannten Toast mit Butter zu bestreichen. Es klappte nicht ganz so
gut, das Brot rutschte mir vom Teller und landete auf meinem Schoß. Heiß! „Au, verdammt!“, fluchte ich verärgert und beförderte das Teil schnell zurück auf den Teller, wo es hingehörte.
„Und wie sieht’s aus, steigt heute ’ne fette Sause bei euch oder was?“, textete Lukas mich weiter zu, während ich das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmte, mich mit dem Ellbogen auf das Toastbrot stützte und mit der zweiten Hand Butter draufschmierte.
„Ehrlich gesagt, weiß ich noch gar nicht ... äh ... was heute Abend so abgeht, Luke, ich muss erst mal arbeiten gehen“, erklärte ich einem meiner neuesten Kumpel und beglückwünschte mich im Stillen dazu, dass es mir gelungen war, sowohl Butter als auch Nutella erfolgreich aufs Toastbrot zu schmieren. Der Kaffee lief soeben gurgelnd in die Kanne und allmählich breitete sich das Gefühl in mir aus, diesen Tag doch noch in den Griff zu kriegen. Und das, nachdem Marvin mich heute Morgen um sechs stinksauer aus dem Bett geschmissen hatte, weil unser Klo verstopft gewesen war und er irgendwie mir die Schuld dafür gegeben hatte. Anschließend war ich in der Küche auch noch in die Pisse von Muschi, Marvins Katze, getreten, damit war der Tag schon ziemlich im Eimer gewesen. Dass Marvin kein Geschenk für mich und meinen Geburtstag so gut wie vergessen hatte, überraschte mich nicht weiter. Ich hatte keinen Kuchen oder so was erwartet, aber irgendwie enttäuscht war ich schon darüber, dass mein runder Geburtstag ein Tag wie jeder andere war, noch dazu sogar ein ziemlich beschissener.
„Sag nicht, du arbeitest immer noch in diesem schwulen Klamottengeschäft“, stieß Luke ungläubig hervor.
Ich rollte mit den Augen und biss ins Toastbrot. Schmeckte genial. „Also, erstens kann der Laden nicht schwul sein, weil wir nur Mädchensachen verkaufen“, erklärte ich kauend, „und zweitens arbeite ich da, weil ich von irgendwas leben muss, Luke. Ich brauche ’nen Job, verstehst du? Ich hab keine Mutti, die mir die Wäsche macht, für mich einkauft und mir den Arsch abwischt, nachdem ich aufm Klo war.“
Lukas war 21 Jahre alt und wohnte noch immer bei seinen Eltern, keine Ahnung, wieso. Soweit ich das beurteilen konnte, war er eigentlich ein cleverer Kerl, er hatte eine abgeschlossene Ausbildung zum Schlosser vorzuweisen, hockte aber den ganzen Tag zu Hause und spielte Konsole. Seine Ma, eine spindeldürre Blondine, ließ ihn kommentarlos gewähren, während der Vater regelmäßig Tobsuchtsanfälle deshalb bekam.
„Ey, Mann, das ist nicht fair“, beschwerte Luke sich gekränkt. „Es ist gar nicht so leicht, hier in Berlin ’ne günstige Wohnung zu finden, außerdem hab ich euch gefragt, ob ich in eure Männer-WG einziehen darf, aber ihr wolltet ja nicht.“
Falsch. Marvin wollte nicht. Ich hätte kein Problem damit gehabt, Luke hier aufzunehmen, aber mein Mitbewohner konnte ihn nicht leiden. „Der schaut mich immer so komisch durchdringend an und irgendwie hat der was Irres im Blick. Außerdem reichen mir die ganzen Weiber, die du dauernd anschleppst, da brauch ich nicht noch diesen Kerl hier.“
Wenn man an den Teufel dachte ...
In diesem Moment kam Marvin mit saurer Miene in die Küche gelatscht und sah mich vorwurfsvoll an. „Ich hab grad einen vollgesaugten Tampon aus dem Klo gezogen, deshalb war da alles verstopft. Ekelhaft! Und hier“, er hängte mir einen roten Spitzen-BH ans Ohr, „kannst du die Scheiße vielleicht mal in deinem Zimmer behalten? Der lag in der Badewanne.“ Kein Wunder, da hatten Michelle und ich es ja vorletzte Nacht auch getrieben. Sah so aus, als wäre die Gute ohne BH nach Hause gegangen ...
Ich fischte das Ding aus meinem Gesicht, strich anzüglich über die Körbchen und grinste Marvin süffisant an.
Der schlurfte rüber zur Kaffeemaschine, das blonde Haar völlig verzottelt, in einem viel zu großen schwarzen T-Shirt und roten Boxershorts, und sah mich kopfschüttelnd an. „Du bist ein Schwein, Waldoff“, ließ er mich wissen.
„Weiß ich“, erwiderte ich achselzuckend.
„Ach ja“, Marvin schenkte sich Kaffee ein und sah mich düster an, „wäre cool, wenn du die benutzten Kondome mal in den Müll schmeißen würdest, anstatt sie im ganzen Flur zu verteilen. Irgendwann stolpert mal so ’ne hohle Trulla drüber und ist dann gleich schwanger. Und eins sag ich dir, dein Balg ziehst du nicht in dieser Wohnung groß! Wenn du eine schwängerst, schmeiß ich dich raus, Chris, bei aller Freundschaft.“ Seine Miene war todernst.
Ich hob beschwichtigend eine Hand. „Ganz ruhig, Alter, komm runter. Ich pass schon auf, dass ich nicht Daddy werde, keine Angst.“
„Das Kind wäre eh gestraft mit einem Vater wie dir“, schnaubte Marvin.
Damit verletzte er mich unabsichtlich. Ich wollte nie Kinder haben aus Angst, sie genauso schlecht zu behandeln, wie mein Vater mich behandelt hatte. Ich hätte ihnen das nicht antun wollen, hätte mich dafür gehasst, sie wie Dreck zu behandeln oder sie und meine Frau gar zu schlagen. Ich wusste nicht, ob die Veranlagung dazu nicht auch irgendwo tief in mir verborgen war. Mein Alter konnte sie mir vererbt haben. Wie sollte ich damit klarkommen, ein Monster zu sein? Um meinen Schmerz zu überspielen, sagte ich „Fick dich, Marvin“, woraufhin er mir mit der Faust drohte.
Dann stimmte er einen versöhnlicheren Ton an. „Willst auch ’nen Kaffee?“
Ich zeigte ihm meinen erhobenen Daumen und Marvin holte eine zweite Tasse aus dem Schrank. Der Henkel war abgebrochen, aber wen interessierte das schon? Man konnte auch ohne Henkel trinken.
Luke am Telefon, den ich ganz vergessen hatte, prustete und sagte: „Oh, Chris, du Tier, bumst du immer noch so viele Mädels?“ Ich machte ein bejahendes Geräusch.
Marvin hatte den Ausruf bis zur Kaffeemaschine hinüber gehört und sah mich fragend an. „Ist da etwa der Psycho dran?“ Ich nickte bestätigend, Marvin rollte mit den Augen, knallte mir die bis zum Rand gefüllte Kaffeetasse hin und verzog sich.
„Ich verstehe nicht, warum der mich immer Psycho nennt“, sagte Lukas beleidigt.
„Ich auch nicht“, behauptete ich und trank einen großen Schluck Kaffee, wobei ich mir prompt die Zunge verbrannte und fluchte wie ein Bierkutscher.
„Was’n los?“, wollte Luke wissen.
„Ach, nichts.“ Allmählich ging mir dieses Gequatsche auf die Nerven. „Pass auf, ich will jetzt in Ruhe meinen Kaffee trinken, bevor ich mich für die Arbeit fertig machen muss, okay?“
„Na schön.“ Luke gähnte. „Ich glaub, ich geh wieder ins Bett. Bin noch ziemlich fertig von dem nächtlichen Fernsehmarathon. Wusstest du eigentlich, dass nachts haufenweise Pornos im Fernsehen laufen?“
„Nee, Luke, im Gegensatz zu dir hab ich richtigen Sex“, erwiderte ich trocken. Klar hatte ich mir auch mal Pornos reingezogen, aber mittlerweile bevorzugte ich doch echte Mädchen.
Außerdem hatte mir ein Mädel aus meiner alten Klasse mal ein richtig schlechtes Gewissen bereitet, was diese schmutzigen Filmchen anging, nämlich als sie ihren Kumpel deswegen anbrüllte: „Verdammt, diese Mädchen sind auch jemandes Tochter, Schwester, Enkelin, Freundin! Sie sind nicht nur billige Spielfiguren, die ihr für eure perversen Fantasien benutzen könnt. Außerdem haben Pornos nichts mit Liebe zu tun, sondern hauptsächlich mit Unterwerfung und irgendwelchen total krassen, unrealistischen und vor allem für Frauen sehr schmerzhaften, versauten Praktiken, die sich sicher irgendein Schwachkopf ausgedacht hat, der Viagra nehmen und sich an so was aufgeilen muss, um überhaupt einen hochzukriegen. Ganz ehrlich, wenn du dir so was öfter reinziehst, war’s das mit unserer Freundschaft!“
Ich hatte lange darüber nachgedacht, hatte mich gefragt, wie ich mich fühlen würde, wenn ich eine Schwester hätte, die in so einem Film mitspielte, wie es für mich wäre, wenn massenhaft Männer sich das ansehen und sich dabei einen runterholen würden, und ich fand die Vorstellung absolut ätzend.
„Du solltest dir endlich ’ne Freundin suchen, Lukas“, sagte ich und schob zwei weitere Brote in den Toaster.
„Ich weiß.“ Er seufzte tief. „Aber irgendwie bin ich immer noch nicht über Linda hinweg.“
Linda war nach eigener Aussage seine erste große Liebe gewesen, allerdings hatte ich sie nie zu Gesicht bekommen, sie hatten Schluss gemacht, bevor ich Luke kennengelernt hatte. Anscheinend hatte sie ihn verlassen, um mit einem seiner besten Kumpel eine Beziehung anzufangen, weil der ihr in jeder Hinsicht mehr zu bieten hatte.
„Doch, Alter, du bist über sie hinweg“, behauptete ich, obwohl ich keinen blassen Dunst hatte, wie das war, wenn man ständig an ein und dasselbe Mädchen dachte, sich nach der Kleinen sehnte, nach ihrer Stimme, ihren Berührungen. Ich war noch nie in meinem Leben richtig verliebt gewesen, manchmal fragte ich mich, ob ich überhaupt in der Lage war, so stark für jemanden zu empfinden. Vielleicht war Liebe auch nur eine Illusion ... eine Erfindung aus Seifenopern und kitschigen Liebesromanen.
„Nein, bin ich nicht“, protestierte Luke, der fest entschlossen zu sein schien, an seinem Liebesleid festzuhalten. „Du hast keine Ahnung, was für ein tolles Mädchen sie war, Chris. Sie war eine von der Sorte, die man selten irgendwo am Straßenrand findet.“
„Ach so. So eine also.“ Ich hatte keinen Plan, wovon er sprach, und auch keine Lust mehr auf diese Gefühlsduselei. Außerdem waren meine Brote fertig und mein Kaffee wurde kalt. „Pass auf, Mann, ich muss jetzt echt los“, erklärte ich ungeduldig und warf einen Blick auf die Uhr, die an der schmutzig weißen Küchenwand laut vor sich hin tickte. Halb neun. In einer Stunde musste ich bei der Arbeit sein.
„Okay, viel Spaß beim Arbeiten, Kumpel. Und hey, falls ihr später ’ne Party feiert, vergiss nicht, mir ’ne SMS zu schreiben. Du kannst mich auch anklingeln, ich hab das Telefon in Reichweite. Und, äh, lad ein paar heiße Feger ein, okay?“
„Alles klar“, murmelte ich. So viel also zum Thema Linda und Liebeskummer. „Ciao.“
„Yeah, tschüss.“
Ich drückte das Gespräch weg und machte mich daran, meine Brote dick mit Butter und Nutella zu bestreichen. Dabei machte ich mir Gedanken darüber, wie ich den heutigen Abend verbringen sollte, und stellte fest, dass ich überhaupt keinen Bock auf eine Party hatte, obwohl ich sonst eigentlich stets in Feierlaune war. Ich aß meine Brote, trank drei Tassen pechschwarzen, bitteren Kaffee, duschte anschließend kurz, schlüpfte in schlabbrige Jeans und einen neuen, warmen und gemütlich weichen hellgrauen Kaschmirpullover, zog mir Schuhe und eine Jacke an, stopfte meinen Geldbeutel in die Gesäßtasche, brüllte: „Tschüss, Marvin“, und machte mich auf den Weg zur Arbeit.
Seit dem letzten Sommer wohnte ich nun bei Marvin, irgendwann im Herbst war ich offiziell sein Mitbewohner geworden und wir teilten uns die Miete. Das war mit ein Grund gewesen, mir einen Job zu suchen. Grund zwei war das Gefühl der Nutzlosigkeit, das mich befallen hatte, nachdem ich wochenlang untätig in der Wohnung gehockt war und nichts zustande gebracht hatte.
Die ersten Wochen waren rasend schnell vergangen, ich übte immer die gleichen Tätigkeiten aus: fernsehen, Konsole spielen, Fast Food und Bier in mich reinstopfen beziehungsweise -kippen. Am Abend ging ich dann entweder mit Marvin auf die Piste oder lud irgendein Mädel zu mir ein.
Mein Vater, dieses Arschloch, hatte die Versicherung für meinen Wagen gekündigt, was bedeutete, dass ich nicht mehr damit fahren durfte. Außerdem hätte ich den Wagen auf Berlin ummelden müssen, aber mir fehlten die Papiere. Nach einigem Hin und Her wurde mir klar, dass ich selbst mir all die Versicherungen niemals leisten könnte, und so blieb mir nichts anderes übrig, als den Wagen meinem Vater zurückzugeben. Selbst verkaufen konnte ich ihn nicht, weil mein Alter mir den Wagen zwar geschenkt hatte, aber, wie gesagt, alle Papiere besaß und das gute Stück zurückforderte. Da ich keine Lust auf einen Kampf hatte, ging ich auf die Forderungen ein und brachte Marvin dazu, mit mir nach Köln zu fahren. Ich stellte das Auto kurzerhand bei meinem Alten ab, stieg sofort bei meinem Mitbewohner ein und wir fuhren gemeinsam zurück nach Berlin. Marvins uralter Golf klapperte und schnaufte angestrengt und ich vermisste meinen luxuriösen Mercedes mit Klimaanlage, Radio und Getränkehalter schmerzlich. Also stand ich ohne Auto da und musste ständig Bahn fahren.
Marvin, der mir klarmachte, dass er nicht mehr lange dabei zusehen würde, wie ich untätig in seinen vier Wänden abhing, alles mit meinem Müll belagerte und meinen Hintern nicht hochbekam, entdeckte schließlich die Anzeige in der Zeitung:
Schülerjob zu vergeben. Verkäufer im Paradies, einem ziemlich beliebten Klamottenladen. Auf 450-Euro-Basis.
„Bewirb dich da“, sagte er sofort, nachdem er mir die Anforderungen vorgelesen hatte. Offenheit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Freude am Kontakt mit anderen Menschen.
Ich hatte mich kaputtgelacht, als er schwer atmend mit der Aufzählung fertig war. „Alter, so bin ich ganz und gar nicht“, hatte ich ausgerufen. „Zuverlässig? Pünktlich? Ha, da kennst du mich aber schlecht.“
„Tja, dann lernst du es eben“, hatte er unbeeindruckt erwidert. „Wenn du weiter hier wohnen bleiben willst, musst du endlich in die Gänge kommen, Mann. Hast du dir so dein neues Leben vorgestellt, nutzlos in Berlin rumgammeln?“ Nein, so hatte ich es mir tatsächlich nicht vorgestellt. Aber ehrlich gesagt hatte ich mir gar nichts vorgestellt. Das tat ich nie, wer Erwartungen hatte, wurde ohnehin immer nur enttäuscht.
„Ich bin kein Schüler mehr“, erinnerte ich Marvin, doch dem war das egal.
„Bewirb dich einfach mal. Die sind doch um jeden Bewerber froh“, hatte er gemeint.
Ich hatte mich, wenn auch unfreiwillig, tatsächlich beworben und war mir sicher gewesen, nie mehr von diesem Laden zu hören. Doch schon eine Woche später trudelte die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch ein. Nun war ich doch ziemlich aufgeregt und wollte auf keinen Fall versagen. Marvin war begeistert davon, dass ich eine Chance bekam, und coachte mich, so gut er konnte. Sämtliche Benimmregeln wurden durchgesprochen, die Verhaltensweise im Allgemeinen, der Kleidungsstil im Besonderen.
„Du kannst da natürlich nicht in zerfetzten Jeans und ausgeleierten T-Shirts aufkreuzen“, machte er mir klar.
Und am nächsten Tag gingen wir zusammen einkaufen. „Shoppen“, würden Mädels sagen.
Marvin war genau der Richtige, wenn es um die etwas vornehmere, elegante Garderobe ging. Ihn selbst sah man selten im T-Shirt, meist trug er faltenfreie Hemden, und wenn es doch mal ein Shirt war, dann ein eng anliegendes, das dezent auf seinen muskulösen Waschbrettbauch hinwies. Seine Jeans waren ohne Löcher, stets sauber und gebügelt, wurden von einem Gürtel auf seiner schmalen Taille gehalten und komplettierten das Bild des gepflegten, freundlichen, anständigen Jungen. Er brauchte täglich etwa zwei Stunden im Bad, bis er seine Haare anständig hinbekommen hatte, denn er benutzte Gel und Pflegespülungen und drei verschiedene Kämme. Wenn er das Badezimmer verließ, hatte er die Haare ordentlich zurückgegelt und nach hinten gekämmt, keine Strähne stand ab, alles lag ordentlich und wie hingebastelt an Ort und Stelle, kein Härchen wagte es, sich im Laufe des Tages von seinem Platz zu entfernen.
Eigentlich ein Wunder, dass ein Kerl wie er seine Zeit mal mit Drogendealern und harten Jungs aus irgendwelchen Gangs verbracht hatte, dass er Pillen eingeworfen hatte und jedes Wochenende high gewesen war. Das Ganze hatte sich schlagartig geändert, als er Laura aus Berlin kennenlernte, die in Köln ihre Schwester besuchte und eines Samstagabends mit alten Freunden in dieselbe Disco ging, in der auch Marvin herumhing. Ich war dabei gewesen an jenem denkwürdigen Abend, der sein Leben für immer verändern sollte.
Es war hochromantisch gewesen mit den beiden, so romantisch, dass ich jedes Mal einen Brechreiz verspürte, wenn ich daran zurückdachte.
Die beiden waren an der Bar recht unsanft zusammengestoßen, dabei hatten sich ihre Blicke getroffen, und noch ehe einer der beiden den Mund aufgemacht hatte, waren sie schon ineinander verliebt gewesen. Ich hatte neben Marvin gestanden und meinen Augen nicht getraut. Noch nie hatte ich meinen Kumpel so gesehen. Seine Augen wurden, obwohl er an diesem Abend noch nichts eingeworfen hatte, groß wie Murmeln und leuchteten, er grinste völlig grenzdebil und hätte um ein Haar angefangen zu sabbern. Zum ersten Mal kapierte ich, was dieser Spruch bedeutete, dass zwischen zwei Leuten die Funken flogen. Denn zwischen den beiden explodierte an jenem Abend gleich ein ganzes Feuerwerk.
Irgendwann im Verlauf des Abends stellte ich fest, dass Marvin spurlos verschwunden war. Ich dachte mir gleich, dass es irgendwas mit dem Mädel an der Bar zu tun hatte, war mir sicher, dass er sich irgendwo mit ihr vergnügte. Ich konnte es kaum fassen, als er mir drei Tage später erzählte, er habe nur mit ihr geredet, die ganze Nacht über, nicht mal geküsst hätten sie sich. Und dennoch behauptete er, sie wäre die Frau seines Lebens und er würde um sie kämpfen, weil man das Herz einer solchen Frau im Sturm erobern müsse. Sie wäre kein leichtes Mädchen, keine, die man einfach flachlegen könne.
Laura ließ Marvin eine ganze Weile zappeln, obwohl es offensichtlich war, dass sie ebenfalls total auf ihn abfuhr. Aber, wie gesagt, sie war eben nicht leicht zu haben. Noch nie hatte ich einen Mann so um eine Frau kämpfen sehen. Es war für mich kaum mit anzusehen, wie Marvin sich reinhängte.
„Alter, einem Mädchen nachzurennen, ist voll uncool“, behauptete ich mal, doch da warf er mir nur gereizt an den Kopf: „Weißt du, Chris, dir rennen vielleicht alle Mädchen die Bude ein und wollen von dir flachgelegt werden, aber Laura ist bereit, mir ihr Herz zu schenken. Und dafür werde ich verdammt noch mal alles tun, auch wenn das bedeutet, dass ich ihr einmal um die Welt nachrennen muss.“
Rote Rosen, Pralinen, nächtelange Telefongespräche, Picknicks, Einladungen ins Kino oder ins Theater, eine Reise nach Paris, all das organisierte Marvin für seine Laura. Dabei wirkte er total glücklich, weil er seinem Ziel Schritt für Schritt immer näher kam und Zeit mit seiner wundervollen Angebeteten verbringen konnte. Ich fragte mich, was dieses Mädchen an sich hatte, dass es ihn ohne einen einzigen Kuss so sehr in seinen Bann ziehen konnte. Laura war nicht mal sonderlich hübsch, jedenfalls meiner Meinung nach. Gut, sie hatte eine tolle Figur, aber es gab massenhaft schönere Mädchen. Doch Marvin wollte nur sie.
„Das wirst du erst verstehen, wenn du dich selbst mal verliebt hast, Alter“, erklärte er mir eines Nachmittags auf der Skateboardbahn, als er frühzeitig abbrach, um mit Laura schwimmen zu gehen.
Schließlich eroberte er ihr Herz, küsste seine Laura zum ersten Mal und hörte eigentlich nie wieder damit auf. Wann immer ich die beiden zusammen sah, knutschten sie rum. Über den Sex mit ihr sprach er niemals, verlor kein Wort darüber, dabei hatten wir bisher immer darüber gesprochen. Nicht ohne Stolz hatten wir einander berichtet, wie viele Mädels wir flachgelegt und wie viele Orgasmen wir ihnen beschert hatten.
„Ein Gentleman genießt und schweigt“, war die einzige Äußerung, zu der er sich hinreißen ließ. Daraus schloss ich, dass der Sex wohl ziemlich gut war.
Schließlich ging Marvin mit Laura nach Berlin und kehrte seinem alten Leben in Köln den Rücken. Er kontaktierte unseren Dealer nicht mehr, sagte sich von seinen Gangkollegen los und trichterte mir vor seinem Abgang ein, all diesen finsteren Gestalten nie zu verraten, wohin er sich verzogen hatte.
„Kapiert, Chris?“ Er sah mich eindringlich an. „Kein Wort zu ihnen! Sie werden es nicht besonders witzig finden, dass ich mich einfach so verpisse, und über ein paar von ihnen weiß ich Sachen, für die sie jahrelang in den Knast wandern würden.“
„Okay, Mann“, hatte ich genickt, „ich halte die Klappe, Ehrenwort.“
Ich selbst hing zwar auch hin und wieder mit Gangmitgliedern ab, allerdings war ich nicht in der Gang. Ich skatete mit ihnen, betrank mich ab und zu mit ihnen, aber von ihren kriminellen Machenschaften wusste ich nichts und es interessierte mich auch nicht. Unser Dealer, dessen wahren Namen keiner kannte und den man immer nur Meck nannte, wurde ein paar Wochen nach Marvins Abgang bei einer Drogenrazzia geschnappt und eingebuchtet. Ich glaubte nicht, dass Marvin was damit zu tun hatte, aber wissen konnte ich es natürlich nicht.
Drei Jahre war das jetzt her. Seither gab es keine Zigaretten, keinen übermäßigen Alkoholkonsum und keine zerfetzten Skaterklamotten mehr in Marvins Leben. Stattdessen kleidete und verhielt er sich wie ein Musterknabe aus einem reichen Elternhaus irgendwo in der vornehmen Vorstadt, dabei war sein Vater ein arbeitsloser Säufer und seine Mutter arbeitete im Bordell. Marvin hatte beide komplett aus seinem Leben gestrichen und den Kontakt mit ihnen abgebrochen, und das alles nur, um Lauras Eltern zu gefallen. Diese nämlich war behütet und abgeschirmt von allem Bösen auf der Welt in Charlottenburg aufgewachsen, ihre große Schwester hatte ihr das Schminken beigebracht und sie gelehrt, die Bad Boys von den lieben, braven Buben zu unterscheiden. Es wurmte sie ziemlich, dass ihre kleine Schwester sich trotz allem in Marvin verliebte, der ja nun zuvor ein waschechter böser Junge gewesen war und fast noch mehr Mädchen gehabt hatte als ich.
Marvin hatte in Berlin seine Schule fertig gemacht, vor zwei Jahren hatte er ein astreines Abitur geschrieben, was er größtenteils Laura verdankte, und nun studierte er im vierten Semester Maschinenbau. Er hatte die Kurve und sein Leben auf die Reihe gekriegt, er hatte seine große Liebe gefunden und führte ein anständiges Leben.
Laura studierte Psychologie in Heidelberg. Sie hatte unbedingt in dieser Stadt studieren wollen, auch wenn es jetzt Marvin in ihrem Leben gab. Das war schon immer ihr Traum gewesen und dem wollte Marvin natürlich nicht im Wege stehen. Also führten die beiden momentan eine Fernbeziehung, und wann immer sie etwas Freizeit zur Verfügung hatten, fuhr er entweder nach Heidelberg oder sie kam nach Berlin.
Das Gute daran war, dass in Marvins Studentenbude somit genug Platz für mich war, ich bekam das leer stehende Zimmer und so lebten wir in friedlicher Eintracht nebeneinanderher. Na ja, meistens. Ab und zu bekam ich Ärger mit ihm wegen all meiner Frauengeschichten und weil er es absolut nicht witzig fand, wenn ich zwei Mädchen gleichzeitig bei mir hatte und eine von ihnen sich an ihn heranmachte.
„Warum?“, hatte ich ihn mal lachend gefragt. „Hast du Angst, dass du doch mal in Versuchung kommst?“
Daraufhin hatte er mir eine verpasst, dass ich zwei Wochen lang mit einem violetten Veilchen durch die Gegend gelaufen war und fortan solche Fragen nicht mehr stellte.
Das Vorstellungsgespräch lief ganz gut, obwohl ich ein wenig enttäuscht davon war, dass Tanja, die Filialleiterin, so ganz und gar nicht auf meinen Charme ansprang. Sie war Ende dreißig, Mutter von zwei kleinen Töchtern, glücklich geschieden, ernst, stets adrett gekleidet und sie lachte nie. Sie war wohl die humorloseste Person, die mir jemals untergekommen war. Sie kniff während des gesamten Gesprächs die Augen zusammen, presste ständig die Lippen aufeinander und blätterte in meinen Unterlagen herum. Sie wollte wissen, warum mein Zeugnis so unterdurchschnittlich war, ob es an mangelnder Klugheit oder doch eher an Faulheit lag, warum ich mir keinen Ausbildungsplatz suchte, sondern einen Schülerjob haben wollte, warum ich ausgerechnet für sie arbeiten wollte, ob ich Ahnung im Umgang mit Kunden hatte, woraufhin ich antwortete, ich hätte viel Ahnung im Umgang mit Frauen. Das fand sie nicht sonderlich witzig, schnaubte, dass ihre kleinen Nasenlöcher sich aufblähten, und fragte, ob ich denn schon Erfahrungen in der Arbeitswelt gesammelt hätte, in meinem Lebenslauf stände irgendwas von mexikanischer Küche. Ich erzählte ihr von meinem Job im Restaurant des Onkels meines Kumpels, schwärmte davon, wie gut ich mit den Gästen klargekommen war und dass ich stets eine Menge Trinkgeld bekommen hatte. Sie fragte, ob ich ein Arbeitszeugnis vorzuweisen hätte, was ich verneinen musste. Der Onkel hätte mir sicher sofort ein Arbeitszeugnis geschrieben, allerdings war nicht auszuschließen, dass sich darauf mehrere Rechtschreibfehler und Fettflecken tummeln würden, weshalb ich beschloss, es lieber wegzulassen. Ich verbarg meine Unsicherheit hinter einem selbstsicheren Lächeln, konzentrierte mich darauf, Haltung zu bewahren und die Arme locker im Schoß zu behalten, wie Marvin es mir beigebracht hatte, dabei hätte ich sie viel lieber vor der Brust verschränkt.
Schließlich seufzte Tanja tief, musterte mich von oben bis unten und nickte. „Na schön“, sagte sie kühl. „Versuchen wir es. Sie sehen ja ... ganz passabel aus, das könnte unseren Kundinnen gefallen. Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen“, sie hob drohend einen Zeigefinger, „ich erwarte von Ihnen absolute Professionalität, Herr Waldoff. Kein Geflirte mit den Kundinnen, keine peinlichen Anmachsprüche und keine albernen Witzchen! Ich verzeihe keine Unpünktlichkeit oder Faulheit, wenn Sie schludern wollen, so tun Sie es woanders, aber nicht hier in meinem Laden. Haben wir uns verstanden, junger Mann?“
Ich nickte artig, obwohl ich jetzt schon genervt davon war, dass sie so von oben herab mit mir sprach und mich behandelte, als wäre ich ein kleiner Junge, der ständig irgendwelche blöden Streiche ausheckte.
„Na dann.“ Sie holte tief Luft, als kostete es sie enorme Überwindung, die kleine Schublade an ihrem Schreibtisch aufzuziehen. Sie schob mir einen Stoß Papiere zu, ich betrachtete ihre feinen, langen Finger mit den sorgfältig manikürten Fingernägeln und fragte mich, ob ich wirklich für so eine Frau arbeiten wollte. „Dies ist der Arbeitsvertrag, Christopher“, ließ sie mich wissen. „Lesen Sie ihn sich gründlich durch. Sie können nächste Woche anfangen und ihn mir dann wiederbringen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“
„Nein, vorerst nicht, vielen Dank“, sagte ich höflich, schüttelte ihre Hand und wünschte ihr noch einen angenehmen Tag, ehe ich flotten Schrittes ihr nach süßlichem Parfum riechendes Büro verließ, zwei Stufen hinabstieg und eine Tür öffnete, die direkt in den Laden führte.
Dort standen drei Mädchen hinter den drei Kassen, an denen sich lange Schlangen von Mädchen und jungen Frauen gebildet hatten, in deren Armen sich Klamotten türmten. Mit schnellen, geübten Bewegungen tippten die Kassiererinnen die Preise ein, entfernten die Alarmbuttons von den Klamotten, falteten sie ordentlich zusammen und schoben sie in Plastiktüten mit dem Logo des Ladens drauf. Ich musste kurz schlucken. Oh je, das würde stressig werden. Eine wild gewordene Horde Mädchen in einem Geschäft voller Kleider und ich mittendrin. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Doch ich würde nicht den Schwanz einziehen. So schnell gab ich nicht klein bei. Im Gegenteil, ich würde der beste Verkäufer aller Zeiten werden.
Zügig durchquerte ich den Laden und verschwand durch die Glastür, atmete erleichtert durch und machte mich auf den Weg nach Hause.
Marvin ging mit mir den Vertrag durch und beschloss, dass er okay war. Also unterschrieb ich, brachte ihn in der darauffolgenden Woche Tanja zurück und damit begann mein Job in einem Kleidergeschäft.
Es war gar nicht so übel, ganz im Gegenteil, ich mochte meine Rolle als Hahn im Korb eigentlich ganz gerne. Innerhalb weniger Tage war ich eingearbeitet, kam sowohl mit der Kasse als auch mit meinen drei hübschen Kolleginnen bestens klar und flirtete doch ab und zu mal mit einer Kundin, Tanja sah es ja nicht. Und schaden tat es auch nicht, im Gegenteil. Wenn ich da war, war der Laden von morgens bis abends proppevoll. An meiner Kasse war die Schlange immer am längsten und es gab oft Stau, weil viele der jungen Damen mich entweder stundenlang anschmachten oder mit mir turteln wollten.
Die drei Mädels, meine Mitstreiterinnen, fanden das nicht weiter schlimm, hatten sie so doch oftmals die Gelegenheit, schnell aufs Klo zu flitzen oder was zu trinken. Außerdem mochten sie mich, wir alberten oft zusammen herum, es herrschte ein angenehmes Arbeitsklima und ich war froh, dass ich den Job hatte.
Nun arbeitete ich seit Anfang Oktober dort, also seit fast einem halben Jahr, mittlerweile war ich mit Tanja per Du, scherzte mit den Lieferanten, die uns oftmals neue Ware brachten, und entwickelte mich nach und nach zum Topverkäufer und Superheld des Ladens. Ich sauste hin und her, sortierte Kleider um, füllte die Ständer auf, verkaufte, flirtete und scherzte, fing umfallende Schmuckständer auf, bevor sie polternd zu Boden stürzen konnten, legte in Rekordzeit Klamotten zusammen und beriet Damen beim Kauf ihrer Reizwäsche. In unserem Laden gab es sicher den besten Service der Stadt, unsere Einnahmen stiegen stetig, ich hatte im letzten Monat einen fetten Bonus wegen erstklassiger Kundenbetreuung aufs Konto gekriegt, alle liebten mich.
„Sicher wirst du Mitarbeiter des Monats“, meinte Layla, eine meiner Kolleginnen, letzten Monat nicht ohne Spott und tätschelte mir die Schulter. „Chris, der Experte in Sachen Stringtanga. Sie wissen nicht, welchen BH Sie nehmen sollen? Fragen Sie Chris, unseren Sexperten!“
„Sehr witzig, Layla.“ Ich kniff ihr in den Po, was sie zu einem kleinen Hopser und einem erschrockenen Quieken verleitete. Kurz darauf verpasste sie mir eine doch recht kräftige Kopfnuss.
„Pfoten weg, Waldoff, dieser Hintern ist zu gut für dich.“ Sie grinste mich an und ich grinste zurück.
Ich liebte es, mit ihr Scherze zu machen. Layla war ziemlich groß, mindestens 1,80 Meter, hatte Beine bis in den Himmel, ein schmales Gesicht und strähnige blonde Haare. Sie hatte Schimpfwörter drauf, die alles andere als jugendfrei waren, und ich fand sie zum Schreien komisch. Sie war ein echter Kumpeltyp. Ich wusste, dass sie auf mich stand, aber das war nichts Neues. Das Angenehme an ihr war, dass sie es nicht darauf anlegte, etwas mit mir anzufangen. Sie stand eben auf mich und gab das offen zu, aber ich war mir sicher, dass sie nie mit mir ins Bett gehen würde.
Dann gab es da noch Amanda. Sie war klein, pummelig, hatte rabenschwarzes, streichholzkurzes Haar und machte der Sonne Konkurrenz, wenn sie lächelte. Sie plapperte eigentlich am laufenden Band und sie war so witzig, dass ich stundenlang ihren Geschichten lauschen könnte. Auch hatte sie immer eine große Tüte Gummibärchen dabei, von denen sie uns großzügig welche abgab, solange wir nur nicht die grünen aufaßen, das waren nämlich ihre Lieblinge.
Amanda hatte ein herzförmiges Gesicht, große blaue Augen und trug ständig Ohrringe, die ihre Ohrläppchen schier bis zum Boden in die Länge zogen. Sie war lebenslustig und aufgeweckt, immer gut gelaunt und verknallt in mich, weshalb sie mich ständig abknutschte, umarmte oder an mir klebte wie ein hartnäckiges Fangirl. Ich mochte sie wirklich gerne, aber mit ihr schlafen würde ich nie. Ich hatte keine Lust, das gute Arbeitsklima zu verderben, indem ich ihr das Herz brach.
Sophia war die Jüngste von uns, gerade mal 17, und sie war einfach nur süß und lieb und umwerfend. Sie hatte große braune Augen, durch die man direkt in ihre Seele gucken konnte, auf ihr Herz aus Gold. Ihr Lächeln war zurückhaltend, schüchtern, unsicher. Sie war wunderschön, aber das war ihr nicht bewusst. Sie hatte langes kastanienbraunes Haar, das ihr bis über den süßen, knackigen Po reichte, war zierlich und klein und wirkte zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. Sie weckte vom ersten Moment an meine Beschützerinstinkte und ich wusste, ich würde jedem Typen, der ihr wehtat, eine verpassen. Das Problem war nur, dass sie in mich verliebt war, und zwar so richtig. Nicht kumpelhaft wie Layla oder neckisch wie Amanda, sondern richtig. Auf der Ebene, auf der es wehtat.
Immer wenn ich sie ansah, lief sie knallrot an, und wenn ich ihr zulächelte, glühten ihre Ohren. Sie stotterte, wenn ich sie direkt ansprach, und stolperte manchmal über ihre eigenen Füße, weil sie so auf mich fixiert war, dass sie ihre Umgebung nicht richtig wahrnahm.
Ich fühlte mich beschissen deswegen, weil ich ihr nicht wehtun, ihr keine Hoffnungen machen wollte, und gleichzeitig wollte ich nett zu ihr sein, sie nicht im Abseits stehen lassen. Seitdem ich versuchte, zu ihr auf Distanz zu gehen, ohne dass es jemand mitbekam, schien sie mich allerdings nur noch mehr zu lieben. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte, weil die Mädels, die bisher in mich verliebt gewesen waren und denen ich das Herz gebrochen hatte, mir egal gewesen waren. Aber Sophia war mir nicht egal. Zum ersten Mal überhaupt gab es ein Mädchen, das mir nicht egal war. Ich fand sie auf körperlicher Ebene nicht anziehend, da war keinerlei erotische Spannung zwischen uns, aber dennoch fühlte ich mich irgendwie zu ihr hingezogen. Was ziemlich verwirrend war.
Ich hatte mir mal überlegt, ob ich mit ihr darüber reden sollte, ihr sagen, dass ich sie wirklich mochte auf einer rein freundschaftlichen Ebene und dass es mir sehr leidtat, aber zwischen uns würde nie etwas laufen. Aber dann würde sie sicher in Tränen ausbrechen und ich hatte keine Ahnung, ob ich das verkraften konnte. Also hielt ich vorerst die Klappe und beschloss abzuwarten.
„Na, sieh mal einer an, da ist ja der Liebling aller Frauen“, begrüßte Layla mich grinsend, als ich, fünf Minuten bevor wir öffneten, schwer atmend zur Tür hereinschlüpfte und mich aus meinem Wintermantel schälte.
Es war für Anfang März noch ziemlich kalt draußen, dreckige Schneehaufen türmten sich links und rechts der Straße, matschige Pfützen lauerten in den Schlaglöchern, ein beißender Wind ließ mein Gesicht taub vor Kälte werden und meine Finger waren ganz klamm. Die dünnen Sonnenstrahlen waren nicht stark genug, um zu wärmen, sie machten nicht mal richtig hell. Die Welt sah grau und trist aus heute und es roch nach Schnee. Sicher würde es später noch mal schneien.
„Hey“, sagte ich knapp und wischte meine schmutzigen Wanderschuhe am Fußabtreter ab. „Wie geht’s?“
„Och, bestens.“ Layla steckte sich ihr Namensschildchen an und band die langen blonden Haare zu einem Knoten zusammen. „Und selbst? Wie fühlt man sich als alter Knacker?“
Ach, verdammt, sie wussten, dass ich Geburtstag hatte! Klar, es stand im Kalender, dennoch hatte ich gehofft, sie würden es vielleicht vergessen.
„Ich fühle mich großartig, danke der Nachfrage“, knurrte ich und schob die Sicherheitsnadel meines Namensschilds durch den weichen Kaschmirstoff meines Pullis. „Noch gar nicht alt und gebrechlich.“
„Ach, wie schön!“ Layla lachte und umarmte mich unvermittelt. Überrascht erwiderte ich ihre Umarmung. Sie hielt mich ewig lange fest und ich fragte mich, ob die Chance bestand, dass sie mich heute überhaupt noch mal losließ. „Alles Gute, Chrissi“, hauchte sie mir ins Ohr, woraufhin ich ihr auf den Hintern klapste und sie von mir schob.
„Nenn mich nicht Chrissi, Babe, okay?“, sagte ich und sah sie gespielt finster an.
Layla kicherte und salutierte, dann stürzte sich Amanda auf mich, sprang an mir hoch und schlang mir die Beine um die Hüfte. Ich wankte ein wenig, hatte Mühe damit, sie festzuhalten. Sie war nicht gerade ein Leichtgewicht, außerdem war es mir ein bisschen unangenehm, dass sie mich abknutschte, während Sophia dastand und uns zusah. Als ich ihr zulächelte, grinste sie scheu und sah schnell zu Boden. Verdammter Mist, ich hatte die Tränen in ihren Augen gesehen.
„Guten Morgen, allerseits!“ Tanja kam hereingeschneit, wie immer perfekt gekleidet und frisiert, ihr Blick fiel auf mich und Amanda, wie wir eng umklammert dastanden, auf Layla, die vor dem blinden Spiegel an ihren Haaren herumfummelte, und auf die zu Boden starrende Sophia. Missbilligend tönte sie: „Was steht ihr hier denn so herum? Los, los, es ist halb zehn, schließt den Laden auf! Da.“ Sie warf Sophia den Schlüsselbund zu. „Christopher, Amanda, lasst diesen Unsinn, ihr verknittert bloß eure Klamotten. Außerdem, Amanda, ist das ein furchtbarer Lippenstift, er ist total verwischt. Es sieht aus, als hättest du vergessen, dir den Mund zu waschen. Mach den bitte weg, ja? Und um Himmels willen, Layla, was ist denn mit deinen Haaren los?“
„Keine Ahnung“, jammerte diese und zog zum hundertsten Mal ihren Gummi heraus, ihr Haar war völlig verknotet. „Ich hab heute furchtbare Haare, das liegt am Wetter, bei dieser Luftfeuchtigkeit kräuseln die sich so.“
„Liebe Zeit!“ Tanja schnaubte. „So kannst du unmöglich rausgehen. Also, Layla, Amanda, ab ins Bad und macht euch gesellschaftstauglich. Christopher, geh bitte Sophia im Laden zur Hand, das arme Mädchen ist ja allein völlig überfordert. Ich bin in meinem Büro, Buchhaltung machen. Ach ja, Christopher ... alles Gute zum Geburtstag.“ Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht, dann verzog sie sich in ihr Büro und machte die Tür fest zu.
Amanda und Layla verschwanden kichernd auf der Toilette, die eigentlich viel zu klein für zwei Personen war, während ich tief durchatmete und rüber in den Laden ging.
Sophia hatte bereits die Tür aufgeschlossen, das Geöffnet-Schild umgedreht, alle Kassen angeschaltet und blickte mir nun schüchtern lächelnd entgegen. Ich lächelte zurück, fragte mich, ob ich irgendetwas zu ihr sagen sollte.
Sie biss sich auf die Lippe, als ich mich an ihr vorbeischob und dabei ihre Schulter mit meiner streifte. „Sorry“, murmelte ich unbehaglich.
„Alles gut“, erwiderte sie etwas zittrig.
Sekundenlang standen wir steif und schweigend nebeneinander und ich kam mir absolut bescheuert vor. Draußen trieben sich die ersten Leute herum, die sich an diesem windigen Samstagmorgen auf die Straße gewagt hatten, und bald würden sich die ersten Mädels im Laden einfinden, um kräftig zu shoppen. Wir hatten noch eine Menge Wintersachen hier, die Frühlingskollektion verstaubte irgendwo hinten im Lager in ihren Kartons, aber die würden wir sicher bald mal raushängen müssen.
„Äh, Chris ...“ Sophia räusperte sich und ich war so erleichtert, dass sie mich ansprach, dass ich viel zu schnell zu ihr herumwirbelte und viel zu laut „Ja?“ sagte.
Gleich darauf war es mir peinlich. Wie uncool! Gut, dass Layla und Amanda das nicht mitbekommen hatten, die hätten sich sonst schlappgelacht.
„Also, hm ...“ Sie räusperte sich, ich sah sie erwartungsvoll an und wünschte, sie würde endlich etwas sagen. Schließlich schaffte sie es: „Also, ich ... hab eine Kleinigkeit für dich. Ich hoffe, es gefällt dir.“ Sie zog den Taschenreißverschluss ihrer weiß-schwarz karierten Strickjacke auf und förderte ein kleines, in dunkelblaues Papier eingewickeltes Päckchen zutage. Es passte locker in eine Hand. Dennoch war ich gerührt, dass sie mir ein Geschenk gemacht hatte. Geschenke bedeuteten immer auch Gefühle. Wer beschenkt wurde, konnte davon ausgehen, dass dem Schenkenden etwas an ihm lag. „Alles Gute zum Geburtstag“, murmelte sie und überreichte mir mit gesenktem Blick das Päckchen.
„Danke, Sophia“, sagte ich sanft, nahm ihr das Präsent ab, hielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig fest, räusperte mich und löste vorsichtig die Klebestreifen. Ich hoffte, dass jetzt kein Kunde reinkam und die anderen beiden Mädels nicht hereinplatzten, dieser Moment sollte nur Sophia und mir gehören. Ich schlug das Papier auseinander und betrachtete das Lederarmband, an dem ein aus feinem Holz geschnitzter Vogel baumelte. Nein, nicht nur ein Vogel. Ein Adler. Der König der Lüfte.
Ich lächelte. Adler waren schon immer meine Lieblingstiere gewesen, früher, als ich noch ein Kind gewesen war, hatten Mama und ich oft Ausflüge in die Berge unternommen, weil meine Mutter in München aufgewachsen war, nahe den Alpen, und weil sie es liebte zu wandern. Dort hatte ich zum ersten Mal eines dieser Tiere gesehen ‒ groß und mächtig, mit breiten Schwingen, stechenden kleinen Augen, dem spitzen gelben Schnabel, der sich zum Schrei öffnete. Von da an war ich fasziniert gewesen von diesen majestätischen Vögeln. Sie symbolisierten alles, was ich mir wünschte: Stolz, Stärke, Schönheit, Freiheit, Unbezwingbarkeit.
Ich hatte im Laden beiläufig mal darüber gesprochen, irgendwann im Dezember, als wir Pullover mit Adleraufdruck auslegten. „Adler sind meine Lieblingstiere“, hatte ich gesagt, „sie symbolisieren so viele Werte, die mir wichtig sind, wisst ihr.“ Layla und Amanda hatten mich komisch angesehen. „Also, meine Lieblingstiere sind Delfine“, erzählte Amanda mir, woraufhin Layla sagte: „Ich finde Pferde am coolsten.“
Sophia hatte sich nicht dazu geäußert. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie dieses Gespräch überhaupt mitbekommen hatte, und nun musste ich feststellen, dass sie sich selbst drei Monate später noch daran erinnerte und sich Gedanken gemacht hatte.
„Gefällt’s dir?“, fragte sie jetzt unsicher.
Ich wandte den Blick von dem fein gearbeiteten, wunderschönen Vogel in meiner Hand ab, der trotz seiner Zierlichkeit und zwergenhaften Größe stolz und mächtig aussah, blickte sie an, lächelte, machte einen Schritt auf sie zu und zog sie kurzerhand in meine Arme. Ich war gerührt und hatte so ein liebevolles Gefühl für sie in meiner Brust, dass ich sie einfach an mich drücken musste. Nachdem sie erst erschrocken zusammengefahren war, schmiegte sie sich nun fest an mich, legte ihre Arme um mich und ließ sich fallen. Es fühlte sich gut an, sie im Arm zu halten, und ich hoffte, dass sie sich behütet und geborgen fühlte. Ein wenig wunderte ich mich schon über mich selbst ‒ eigentlich war ich nicht der Typ für so was. Kein Kuscheltyp. Unwillkürlich dachte ich an jene Nacht vor knapp acht Monaten zurück, als ich bei diesem Rotschopf übernachtet und den Arm um die Kleine gelegt hatte. Wie hatte sie noch gleich geheißen ... Ayla, Eva, Emma, Ella? Irgendwie so. Zuvor hatte ich sie kaum gesehen und dann hatte ich den Arm um sie gelegt und mich gegen sie gedrückt. Auch damals hatte es mir gefallen. Hm, vielleicht war ich doch der Kuscheltyp ...
Sophia bewegte sich sanft in meinen Armen und ich ließ sie los. Wieder mal war sie knallrot wie eine überreife Tomate, was total süß aussah, ihre Augen glitzerten und ihre Knie zitterten wie Wackelpudding. Wirklich, sie war niedlich. Wenn ich mich selbst nicht so gut kennen würde, würde ich mich vielleicht auf sie einlassen, es mit ihr versuchen. Aber ich war nun mal ein Mistkerl, ob ich wollte oder nicht. Keine Ahnung, ob ich überhaupt zu echten Gefühlen fähig war. Was, wenn ich auch zum Schläger wurde, wenn ich eine feste Beziehung einging? Was, wenn ich genauso war wie mein Vater und es nur noch nicht gemerkt hatte?
Vielleicht hatte meine Mutter es gewusst und war deshalb abgehauen. Vielleicht hatte sie gewusst, dass ich mal werden würde wie er, und hatte beschlossen, uns beiden zu entrinnen, anstatt später, wenn ich stärker war als sie, mich an der Backe zu haben. Dabei war es eine absurde Vorstellung, dass ich ihr wehtun könnte. Niemals würde ich die Hand gegen meine Mutter erheben.
Ich schüttelte die Gedanken ab. Ich hatte im Sommer halbherzig nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Sie stand nicht im Telefonbuch, Recherchen im Internet blieben auch erfolglos und bei der Auskunft kannte keiner den Namen Maria Waldoff. Ich probierte es mit Maria Stein, vielleicht hatte sie nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen, aber es fruchtete nicht. Wahrscheinlich wollte sie einfach nicht gefunden werden. Von niemandem, nicht mal von ihrem eigenen Sohn. Ich war erst frustriert, dann wütend, später enttäuscht, zum Schluss blieb die Traurigkeit. Vielleicht war es mir vorherbestimmt, ein Leben ohne Mutter zu führen. Ich war auch die letzten zehn Jahre ganz gut klargekommen. Mehr oder weniger ...
Außerdem, dachte ich immer wieder, wenn sie mich sehen wollte, würde sie den Kontakt zu mir herstellen. Ich war schließlich nicht schwer zu finden. Und jetzt, da ich erwachsen war, konnte sie sich denken, dass ich von meinem Vater weg war und von ihm keine Gefahr mehr für sie ausging.
Gut möglich, dass sie damit abgeschlossen hatte. Dass sie mich nicht mehr wollte, mich nicht brauchte in ihrem Leben. Vielleicht hatte sie eine neue Familie, einen neuen Sohn, den sie mehr liebte als mich. Mir wurde schlecht, wenn ich zu lange darüber nachdachte. Meine Mutter hatte mich verlassen und mein Vater hatte mich verstoßen. Ich war ein Kind, das keiner wollte. Wäre ich nicht so stark, würde ich in Selbstmitleid zerfließen. Aber ich hatte es nicht nötig. Ich war erwachsen. Ich brauchte keine Eltern.
„Äh“, Sophia schnappte hektisch nach Luft und strich sich eine wirre Strähne aus der Stirn, „möchtest du das Armband anlegen? Oder lieber nicht?“, fügte sie schnell hinzu, ehe ich überhaupt auf die erste Frage antworten konnte. Gott, sie war so verdammt unsicher.
Auffordernd hielt ich ihr mein Handgelenk hin. „Klar, mach’s dran! Darum werden mich mit Sicherheit alle beneiden, glaub mir.“
Mit einem prüfenden Blick vergewisserte sie sich, dass ich das nicht ironisch meinte. Ich sah ihr fest in die Augen und signalisierte ihr, dass ich mich ehrlich über ihr Geschenk freute und es mit Stolz tragen würde. Da lächelte sie, machte einen weiteren Schritt auf mich zu und legte mir das Armband ums Handgelenk. Sie fummelte am Verschluss herum, wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser und fluchte leise. Ich hielt ganz still, mich störte unsere Nähe nicht, eher im Gegenteil. Ich konnte ihr süßliches Parfum riechen, ein blumiger, unaufdringlicher Rosenduft.
„Dieses blöde Ding ... entschuldige, Chris“, sagte sie zunehmend verzweifelt.
„Hey, alles cool“, beruhigte ich sie und hätte ihr am liebsten die Schulter getätschelt, doch ich befürchtete, dass sie dann in Ohnmacht fiel.
Als es ihr fast gelungen war, das Armband zu schließen, platzten Amanda und Layla lachend und schnatternd herein. „Endlich hab ich meine Haare wieder im Griff. Danke für das Haarspray, Süße“, tönte Layla lauthals.
Sophia zuckte erschrocken zusammen und ließ das Armband fallen, es schlitterte über den Boden und rutschte unter den Verkaufstresen. Das arme knallrote Mädchen bekam jetzt auch noch rote Flecken am Hals und schlug sich die Hände vors Gesicht.
„Alles klar bei euch?“, rief Layla neugierig, während sie sich hinter ihre Kasse klemmte. Sie grinste wissend. „Oder habt ihr hier irgendwas Unartiges getrieben, während wir weg waren?“ Sie verstellte ihre Stimme und flötete: „Stören wir?“
Amanda rollte mit den Augen, warf Sophia einen mitleidigen Blick zu und stellte sich hinter ihre Kasse. „Halt die Klappe, Layla“, wies sie ihre Freundin streng zurecht.
Ich ging in die Knie, robbte halb unter den staubigen Verkaufstisch und tastete mit der Hand nach dem Lederarmband.
In diesem Moment ertönte die Glocke des Ladens, ein sanftes Bimmeln, gefolgt von einer hohen Quietschstimme: „Guten Morgen, allerseits!“
Och nö. Ich schloss gequält die Augen und verharrte in meiner Position. Das war unverkennbar die Stimme von Frau Hartmann, der wohl anstrengendsten Kundin dieses Universums. Sie arbeitete bei einer Werbeagentur zwei Straßen weiter, kam regelmäßig hierher zum Shoppen und hatte mich als ihren persönlichen Berater auserkoren.
„Chris, Schatz, du weißt doch, was Männer wollen“, schnurrte sie mir bei jedem Treffen lasziv ins Ohr, ihre Hand landete dabei direkt auf meinem Hintern, während sie mich mit viel Gewackel zur Dessousabteilung führte, in der sich kein Mann aufhalten konnte, ohne sich schmutzigen Fantasien hinzugeben. Hatte ich schon oft genug gemacht, in den Mittagspausen, wenn der Laden leer war.
„Guten Morgen, Frau Hartmann“, säuselten Amanda und Layla unisono, gespielt freundlich.
„Morgen“, brummte Sophia verspätet und klang alles andere als begeistert. Ich hielt die Klappe, kauerte weiter halb unterm Tresen, während der Staub mich in der Nase kitzelte.
Schritte näherten sich, das Klappern von Plateauabsätzen hallte laut auf dem Laminatboden. Tanja ärgerte sich regelmäßig über all die Dellen im Boden, Narben, verursacht durch Absatzschuhe. Layla, Amanda und Sophia durften ausschließlich flaches Schuhwerk tragen, Tanja hatte sogar mal gemeint: „Zuwiderhandlungen werden bestraft, für mich ist das ein Kündigungsgrund.“
Bis heute waren wir uns nicht schlüssig, ob das ein blöder Witz oder ihr Ernst gewesen war, aber da Tanja eigentlich nie scherzte, nahmen die Mädchen diese Drohung ernst und hielten sich strikt an die Regel, auch wenn Amanda und Layla laut eigener Aussage liebend gern Absatzschuhe trugen.
„Nanu?“ Frau Hartmanns süßliches Zwitschern verursachte mir einen unangenehmen, kalten Schauer. „Heute nur zu dritt? Wo steckt denn Christopher, der Gute?“
Verdammt!
„Äh ...“, sagte Amanda und blickte auf mich hinab. Ich schüttelte panisch den Kopf, rollte mit den Augen und deutete das Durchschneiden meiner Kehle an. „Äh, der ...“, stotterte sie unsicher, sah mich fragend an.
Ich packte Layla, die neben mir stand, am Fuß und drückte fest zu. Sie quiekte erschrocken auf und sah zu mir hinunter, eine Hand fest ans Herz gepresst. „Chris“, rief sie ärgerlich und ich sah schon alle Felle davonschwimmen, als Sophia, mein Goldmädchen, mir den Arsch rettete.
„Der ist heute leider krank“, brachte sie Laylas Ausruf zu einem logischen Ende. „Ganz schlimmer grippaler Infekt, leider, er liegt mindestens zwei Wochen flach.“ Wow, die konnte aber gut flunkern. Ich war beeindruckt und grinste vergnügt vor mich hin.
„Ach, wie schade“, fand Frau Hartmann und klang wahrhaftig enttäuscht. „Ich kaufe so gerne hier ein.“
„Nun, das können Sie auch ohne Chris“, meinte Layla trocken, „außer Sie haben Ihr Portemonnaie vergessen.“ Ich verkniff mir nur mit Mühe das Lachen. Ganz schön ruppiger Tonfall, in dem Layla da redete.
Auch Frau Hartmann klang irritiert. „Nun ja, sicher, aber ... ich nehme Chris’ Service unheimlich gerne in Anspruch. Er ist so wahnsinnig ... geschmackvoll, wissen Sie. Und kompetent.“
„Und sexy obendrein“, merkte Amanda an. Ich schmunzelte und schob meine Hand langsam weiter in Richtung Armband. Mittlerweile hatte ich es ertastet.
„Nun ja“, Frau Hartmanns Stimme bekam einen rauen Unterton, der mich unangenehm berührte, „das auch. Das auch, meine Lieben. Aber er ist entschieden zu jung für mich, noch nicht mal zwanzig ... wirklich tragisch.“ Sie seufzte, als könne sie so viel Ungerechtigkeit nicht fassen. Meine Finger schlossen sich um das Armband.
„Ja, nicht wahr?“, meinte Amanda mitfühlend. „Manchmal ist das Leben total gemein. Männer sind entweder zu alt, zu jung, besetzt oder beschissen.“
„Oder zu dumm für diese Welt“, gab Layla ihren Senf dazu, „so dumm wie Brot, sodass du dich mit ihnen gar nicht in die Öffentlichkeit wagen kannst. Ich will Ihnen ja keine Illusionen rauben, Frau Hartmann, aber Chris ist auch nicht die hellste Kerze auf der Torte.“ Na, herzlichen Dank! Dafür drückte ich noch mal fest ihren Fuß und zog ihn zurück, sodass sie fast hinfiel. Halt suchend klammerte sie sich an Amanda. „Huch, haha, das ist aber auch alles wacklig hier heute Morgen.“
„Ah ja.“ Frau Hartmann klang wenig überzeugt, wühlte in ihrer Handtasche herum. „Nun, ich habe was für den lieben Christopher ...“
Die Türglocke bimmelte erneut, mehrfach hintereinander. Verdammt, nun kam ein Haufen Kunden und ich kauerte nutzlos unterm Tresen.
„Äh, ja.“ Layla und Amanda machten Anstalten, Frau Hartmann möglichst schnell abzukanzeln.
„Das können wir ihm ja geben. Also, wenn er wieder zur Arbeit kommt“, schlug Layla vor. „Guten Morgen, Frau Otto.“
„Oder auch im Laufe der Woche. Wenn wir ihm Hühnersuppe vorbeibringen“, kicherte Amanda vergnügt. „Morgen, Luisa, hi Patricia.“
Das Türklingeln nahm kein Ende, binnen kürzester Zeit hielten sich um die zwölf Kunden im Laden auf. Ich wurde nervös, in meinen Handflächen sammelte sich der Schweiß. Wie lange würde ich hier noch kauern müssen? Mir tat schon der Rücken weh.
„Ist eine ziemlich große Sache“, erklärte Frau Hartmann mit vertraulich gesenkter Stimme, „eine große Chance für ihn. Er soll sich auf jeden Fall bei mir melden, wenn er will, und auch, wenn er nicht will ... dann werde ich auf jeden Fall versuchen, ihn zu überreden.“
„Okay“, sagte Amanda gedehnt, „klingt so, als wäre er auserwählt, um die Welt zu retten.“
Frau Hartmann gab ein zustimmendes Geräusch von sich und fast hätte ich laut gelacht. Wichtigtuerin!
„Verzeihung, ich bräuchte mal professionelle Beratung“, rief eine weibliche, noch ziemlich junge Stimme. „Ist Chris gar nicht da?“
„Nein, Schätzchen“, antwortete Frau Hartmann eisig, ehe eine der anderen etwas sagen konnte. „Der ist krank. Grippaler Infekt, der arme Kerl. Außerdem ist er viel zu alt für dich, Mäuschen.“ Um Himmels willen, schwang da etwa Eifersucht in ihrer Stimme mit?
„Und wer sind Sie? Seine Mutter?“, erwiderte das Mädchen angriffslustig. Nun hatte ich die Stimme identifiziert. Cora, eine süße 18-Jährige, mit der ich schon mal was trinken gewesen war, anschließend hatten wir rumgeknutscht. Ha, guter Konter!
„Mutter? Also, so eine Unverschämtheit!“, rief Frau Hartmann, Ende dreißig, empört.
„Äh, ja, klar, ich kann dich beraten“, rief Layla hastig und wollte lossprinten, dabei stolperte sie leider über mich und kreischte erschrocken auf, hielt sich im letzten Moment jedoch an meinen Schultern fest.
„Großer Gott, Kindchen, was ist denn heute mit Ihnen los?“, fragte Frau Hartmann verdattert.
Coras Gesicht erschien überm Tresen, sie blickte direkt auf mich hinab. Ich sah, wild mit den Augen rollend, zu ihr auf und hoffte, dass sie die Klappe hielt. Sie schien zu verstehen, nickte unmerklich und grinste Frau Hartmann gehässig an. Layla schwang ein Bein über mich und kauerte nun breitbeinig über mir. Wenn ich den Kopf ein bisschen drehte, konnte ich unter ihren kurzen schwarzen Rock blicken, durch die Seidenstrumpfhose hindurch ... sie trug rote Wäsche. Wow, sehr scharf!
„Ich schlage vor, Sie lassen die Unterlagen für Chris einfach hier, wir geben sie ihm“, sagte sie.
Ich machte mir einen Spaß daraus, mit den Fingern an ihrer Wade entlangzustreifen, bis sie erschauerte und mit dem anderen Fuß nach mir trat. Ich verkniff mir mit Mühe das Kichern. Amanda drängte sich an Layla vorbei, stieg über mich hinweg, warf mir einen strafenden Blick zu und zog die grinsende Cora am Arm mit sich fort.
Frau Hartmann händigte Layla endlich die Unterlagen aus und verabschiedete sich umständlich. „Er soll mich anrufen, ja? Meine Nummer steht unten auf den Formularen.“
„Ja, sicher“, sagte Layla seufzend, „er ruft Sie an, Frau Hartmann, ganz sicher. Schönen Tag noch!“
Sie schien endlich zu gehen, denn die Türglocke bimmelte.
Layla sah auf mich herab und lächelte mir zu, als wären wir Verbündete. Das waren wir irgendwie auch. „Die Luft ist rein“, teilte sie mir mit und stieg über mich hinweg. Dann trat sie mir ziemlich fest in die Seite und ich stöhnte leise. „Und wenn du das nächste Mal unter meinen Rock glotzt, du alter Lustmolch, trete ich dir in die Eier. Kapiert?“
Anzüglich grinste ich sie an und rappelte mich auf, meine Knochen knackten unheilvoll. „Klar, Babe. Du kannst mit meinen Eiern machen, was immer du willst“, sagte ich verführerisch.
„Danke, sehr großzügig“, erwiderte Layla schmunzelnd.
Als ich mich aufrichtete, sah ich mich direkt einer schönen Blondine gegenüber, die mir einen Haufen hautenger Röhrenjeans, zwei Pullover und einen Stapel heißer Stringtangas hinlegte.
„Gilt das auch für mich?“, fragte sie und leckte sich lasziv über die Lippen. Wow, die war mal ein Hammergerät!
Augenblicklich, und ohne nachzudenken, schaltete ich in den Flirtmodus. „Natürlich. So eine schöne Frau wie Sie darf so gut wie alles mit mir machen.“
„Ja?“ Sie strich wie zufällig über mein Handgelenk. „Was für ein Angebot ...“
„Hey, Casanova“, Layla bedachte mich mit einem scharfen Blick, „du sollst abkassieren, nicht abschleppen. Komm in die Puschen, da wollen noch mehr Leute bezahlen. Frau Otto, kommen Sie zu mir, ich bin frei.“
Frau Otto löste sich nur äußerst ungern aus der Schlange und schenkte mir ein bedauerndes Lächeln, ehe sie ihre Beute vor Layla hinlegte.
Ich scannte die Preise der Blondine in die Kasse ein, drückte ein paar Knöpfe, dabei streckte ich die Brust raus und spannte die Muskeln an, um meinen Sixpack in Szene zu setzen. Gut, es war noch kein wirklich beeindruckender Sixpack, aber auch nicht von schlechten Eltern.
Erst nachdem ich Blondie ihre Tüte voller Zeug hingeschoben und ihr versichert hatte, dass ich auch am Montag wieder hier arbeiten und nicht vom grippalen Infekt dahingerafft sein würde, fiel mir ein, dass Sophia die ganze Zeit neben mir gestanden und alles mit angehört hatte. Und dass ich ihr Armband leichtfertig in meine Hosentasche geschoben und es anschließend dort vergessen hatte. Mann, ich war so ein Idiot! Allein deshalb konnte ich niemals, unter keinen Umständen und auf keinen Fall zulassen, dass sich zwischen ihr und mir etwas entwickelte. Sie war zu empfindlich und ich war zu unsensibel. Zu sehr Arschloch.
Meinen entschuldigenden Blick ignorierte sie, achtete vielmehr den Rest des Vormittags darauf, mir nicht mehr in die Augen zu sehen, und als es nach gefühlten hundert Stunden endlich Zeit für die Mittagspause war, schloss sie ihre Kasse ab, drängte sich an Amanda vorbei und raste davon, als wäre der Teufel selbst hinter ihr her.
Am Abend dieses anstrengenden, aber sehr erfolgreichen Tages war nichts mehr wie zuvor.
Bei den Unterlagen, die Frau Hartmann für mich abgegeben hatte, handelte es sich um das Angebot, als Model für ein Duschgel in der Fernsehwerbung aufzutreten. Ein kleiner gelber Notizzettel verriet mir, dass Frau Hartmann mich für genau den Richtigen hielt, was Gesicht und Körper betraf.
„Die Frau hat echt ’nen Dachschaden“, meinte ich kopfschüttelnd, nachdem ich Amanda und Layla, mit denen ich draußen eine Rauchpause einlegte, die Unterlagen vorgelesen hatte. „Einen kompletten Vogel hat die Frau. Ich bin doch kein Model!“
Layla riss mir die Unterlagen aus der Hand und überflog sie noch mal, während Amanda ganz aufgeregt auf mich einredete: „Aber du könntest eines sein. Ganz ehrlich, Chris, du bist einer der heißesten Jungen dieses Planeten. Ja, verdammt, du siehst überdurchschnittlich gut aus, hast ein sehr symmetrisches Gesicht, bist durchtrainiert, hast das gewisse Etwas und einen Charme, dem alle Frauen verfallen. Du könntest in dieser Werbung für Duschgel dein volles Potenzial entfalten.“
„Welches Potenzial?“, lachte ich sie aus. „Amanda, ich muss nichts weiter tun, als unter einer Dusche zu stehen und mir die Genitalien abzurubbeln.“
„Ja, und? Es gibt einen Haufen Kohle. Ich finde, das solltest du machen“, mischte sich Layla ein und ließ die Unterlagen sinken. „Du könntest entdeckt werden, Chris. Als Model verdienst du wesentlich mehr als bei Tanja. Der Batzen Geld, den du für diesen einen Auftritt kassierst, beläuft sich auf etwa drei Monatsgehälter. Mann, sei nicht blöd!“
„Ja, Chris, sei nicht blöd!“ Amanda knuffte mich gegen die Schulter. „Auch wenn du nicht die hellste Kerze auf der Torte bist. Diesen Vorteil musst doch sogar du sehen.“
„Hm.“ Nachdenklich ließ ich meine Kippe in den Schneehaufen neben mir fallen und schob mit dem Fuß etwas Schnee darüber. „Ihr glaubt nicht, dass ich mich zum Gespött der Leute mache?“
„Nö“, sagten die beiden im Chor und langsam dämmerte mir, dass das hier gerade wirklich passierte.
Mir war ein Job als Model angeboten worden. Gut, erst mal nur für dieses Duschgel, aber wenn ich richtig gut war, würden die mich in Zukunft vielleicht öfter buchen. Ich konnte als internationales Model weltbekannt und steinreich werden, alle Zeitungen würden über mich schreiben, im Radio würden sie über mich reden und gleichzeitig würde ich meinem Vater quasi den Mittelfinger zeigen. Das war schon eine geile Vorstellung.
Das nötige Selbstbewusstsein hatte ich auch. Ich wusste, dass ich gut aussah, dass ich einen guten Körper hatte und dass ich bei Frauen gut ankam. Ich wusste, dass ich diese Aufgabe locker meistern konnte. Und eigentlich war es auch egal, ob ehemalige Klassenkameraden über mich lachen oder sich das Maul zerreißen würden. Ich wäre dann schließlich reich, berühmt und von Mädchen umzingelt und all die blassen Sesselpupser mit ihrem Einserabitur würden sich vor Neid schwindelig ärgern. Olivia würde sich in den Arsch beißen, weil ich einer anderen Diamanten und schicke Kleider kaufen würde und sie bei ihrem alten, abgesoffenen Schlägertypen festsaß ... haha. Das kam davon, wenn man nicht wertschätzte, was ich bereit war zu geben.
„Na schön, Mädels, also gut“, sagte ich entschlossen zu den beiden. „Ich mach’s. Ich melde mich morgen bei Frau Hartmann und sage für diesen Werbespot zu.“ Grinsend strich ich mir das Haar aus der Stirn und gab mich meinen Tagträumereien hin. „Und bald schon wird mein Plakat Litfaßsäulen und Wände zieren, ich werde in aller Munde sein, ganz Deutschland wird bei der Werbung dranbleiben, um bloß nichts zu verpassen ...“
„Oh Gott.“ Layla verdrehte die Augen. „Er wird größenwahnsinnig. Bevor er überhaupt berühmt ist. Meine Fresse!“
Amanda lachte nur fröhlich. „Ich finde das super, dann kann ich allen sagen: Hey, das ist mein Arbeitskollege.“
„Ehemaliger“, fügte Layla hinzu, „wenn er erst mal MODEL ist, wird er sich doch nicht mehr in die Niederungen eines einfachen Klamottengeschäfts begeben.“
„Hey.“ Ich legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. „So ein arroganter Sack werde ich niemals. Ehrenwort.“
„Ja, ja, das sagen sie alle“, seufzte Layla resigniert.
„Wer, alle?“, fragte ich und Amanda schnaubte: „Wieso, wie viele Models kennst du denn?“
„Viele“, erwiderte Layla spitz.
„Ich meine persönlich“, machte Amanda deutlich.
Layla winkte ab. „Ist doch scheißegal. Hauptsache, ich kenne Chris. So, und jetzt müssen wir mal reingehen. Ich häng noch die restlichen Wintersachen raus, es ist echt was weggekommen heute Vormittag. Einer von euch könnte den Kaugummi wegkratzen, den jemand ins Schalregal geklebt hat. Ach ja, und dann müssen wir dir auch noch dein Geschenk geben, Chris.“ Layla huschte zurück in den Laden. „Bis gleich, ich fang schon mal an.“
Amanda rauchte in Frieden fertig, ich leistete ihr dabei Gesellschaft und pustete kleine Atemwölkchen in die Luft. Es war immer noch so kalt, dass man sehen konnte, wie sie dem Mund entwichen.
Schließlich war Amanda fertig, ich wollte schon wieder in den Laden gehen, doch sie hielt mich am Arm fest. „Chris“, sie biss sich nervös auf die Lippe, „ich ... also ... äh ... ich hab gesehen, dass Sophia ziemlich in dich verliebt ist. Und, versteh mich bitte nicht falsch, also, ich weiß, dass du eigentlich ein ganz netter Kerl bist, der halt gut bei Frauen ankommt. Aber“, sie holte tief Luft, „also, ich wollte dich bitten ... tu ihr nicht weh, Chris. Sophia ist noch sehr jung und hat wenig Erfahrung in Sachen Liebe. Dass sie sich ausgerechnet in dich verliebt hat ...“
„... ist Pech für sie, ich weiß“, beendete ich Amandas Satz und fuhr mir nervös durchs Haar, ich hätte nicht gedacht, dass es so offensichtlich war, wie Sophia für mich empfand. Hätte nie vermutet, dass Amanda es wusste. Und was war mit Layla? „Weiß Layla auch davon?“, wollte ich angespannt wissen.
Amanda biss sich auf die Lippe und nickte. „Ja. Wir haben schon öfter drüber gesprochen. Haben uns gefragt, wie das Mädel das aushält, dich zu sehen, dir beim Flirten mit all den Weibern zuzugucken ... das muss wie eine Folter für sie sein.“ Amandas Gesicht war von Mitleid gezeichnet.
Ich bedachte sie mit einem düsteren Blick und brummte: „Keine Sorge, Amanda, ich lass die Finger von ihr. Ich hab ihr nie Hoffnungen gemacht und das werde ich auch in Zukunft unterlassen. Ich meine, du siehst ja, was für ein Scheißkerl ich bin. Ich weiß, dass sie auf mich steht und flirte trotzdem mit anderen Frauen.“
„Ach, Chris.“ Amanda stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Du bist kein Scheißkerl. Du kannst halt einfach nicht anders. Eigentlich bist du schwer in Ordnung.“
Na, das freute mich aber ... Doch meine Freude fand ein jähes Ende, als ich Sophia vor uns stehen sah, leichenblass im Gesicht, mit geröteten Augen, als hätte sie geweint. Und nun hatte sie auch noch mitbekommen, wie Amanda mich auf die Wange küsste.
Diese starrte schuldbewusst auf den Boden, ich probierte es mit einem kleinen Lächeln. „Hey, Sophia ... na, schöne Mittagspause gehabt?“
„Sicher“, erwiderte sie kläglich und starrte stur geradeaus, „war zwar bestimmt nicht so schön wie eure, aber egal. Ich muss rein.“
Mit gesenktem Kopf stürmte sie an uns vorbei in den Laden, wobei sie vergaß, ihre Schuhe abzuputzen, und den nassen Schneematsch im Inneren verteilte.
Amanda seufzte. „Du lieber Himmel“, murmelte sie, „die arme Kleine ist völlig durch den Wind. Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden.“
„Untersteh dich!“, fuhr ich sie aufgeregt an. „Ehrlich, das wäre nur noch peinlicher für sie. Lass einfach gut sein. Wenn ich den Job als Model bekomme, bin ich eh weg.“ Ich hob die Unterlagen hoch, an denen auf einmal meine ganze Hoffnung hing.
Amanda sah mich ungläubig an. „Du glaubst jetzt aber nicht ernsthaft, dass du durch einen einzigen Auftritt Millionär wirst, oder?“
„Nee“, ich schüttelte den Kopf, „aber ich werde dafür sorgen, dass ich entdeckt werde. Frau Hartmann hat doch einen Narren an mir gefressen, das kann ich bestimmt ausnutzen.“ Ich grinste, wie ich wusste, ziemlich hinterhältig und Amanda schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Du willst deine männlichen Vorzüge einsetzen, um dir einen Platz an der Sonne zu sichern?“
„Bingo, Ludwig.“ Ich grinste breit. „Und jetzt lass uns reingehen. Ich kümmere mich um den Kaugummi und du kannst Sophias Fußabdrücke aufwischen, bevor Tanja was merkt.“
„Guter Plan“, stimmte Amanda zu.
„Ich hab immer gute Pläne. Ah, warte mal.“ Mir war noch etwas eingefallen, ich fasste in meine Hosentasche und zog das Armband mit dem kleinen Adler heraus. Mir war, als würden seine dunklen Augen mich fast vorwurfsvoll ansehen, weil ich ihn so lange in eine dunkle Hosentasche verbannt hatte. Ich hielt Amanda das Lederband vor die Nase. „Kannst du mir das bitte mal dranmachen? Der Verschluss ist ein bisschen blöd.“
„Och, wie niedlich!“ Gerührt nahm Amanda mir das Armband ab, betrachtete den filigranen Adler auf ihrer Handfläche eine ganze Weile und hob den Kopf. „Hat Sophia dir das geschenkt?“ Ich nickte stumm, sie pfiff anerkennend durch die Zähne. „Donnerwetter, das Mädchen ist echt voll verschossen in dich.“
Ich war nicht stolz drauf, ehrlich nicht. „Komm, mach schon!“ Auffordernd hielt ich ihr mein Handgelenk hin, sie legte mir das Armband um und hatte den Verschluss in weniger als zwei Sekunden zu. Himmel, Sophia musste in meiner Nähe echt heftiges Händezittern haben. Obwohl ich nichts dafür konnte, dass sie ausgerechnet in mich verknallt war, fühlte ich mich schuldig.
„Hey, ihr beiden.“ Layla, die gerade das Türschild umgedreht hatte, sodass nun wieder „Geöffnet“ dastand, sah uns fragend an. „Wollt ihr hier festfrieren oder was? Schwingt eure Knackärsche mal rein, es gibt viel zu tun.“
Wir taten wie uns befohlen.
Der restliche Nachmittag verging wie im Flug. Während ich den angeklebten Kaugummi abrubbelte, neue Klamotten an die Stangen hängte, Kundinnen beriet und bediente, träumte ich von meiner Blitzkarriere als Model. Warum hatte ich nur selbst nie dran gedacht, das zum Beruf zu machen? Es war mir wirklich nie in den Sinn gekommen. Vermutlich hätte ich das Ganze noch vor einem Jahr für eine peinliche Spinnerei gehalten, aber inzwischen ... warum eigentlich nicht? Um die Welt reisen, mit heißen weiblichen Models halb nackt vor der Kamera posieren, massig Kohle scheffeln und aller Welt meinen Körper präsentieren. Die anderen hätten also auch noch was von meinem Erfolg. Klang doch nur fair.
Am Abend erhielt ich meine Geschenke von Amanda und Layla sowie von Tanja, die mir einen Scheck mit einem hübschen Sümmchen ausstellte. „Zum Geburtstag. Und weil du der tollste männliche Mitarbeiter bist, den wir je hatten“, verkündete sie und klang sogar richtig leidenschaftlich.
Von Amanda und Layla bekam ich einen Gutschein für drei Stücke Reizwäsche. „Wenn du mal ein Mädel hast, das du beglücken willst, kannst du ihr Wäsche schenken, die du bei uns gratis bekommen hast. Und es ist natürlich in erster Linie ein Geschenk für dich“, grinsten die beiden.
Sophia war schon weg und bekam davon zum Glück nichts mehr mit. Ich war auch viel zu guter Stimmung, um noch an sie zu denken. Mit einem Mal hatte ich doch Lust auf Party.
Zum Abschied bekamen die Mädels von mir je einen Kuss auf die Wange und das feste Versprechen, dass ich sie mal zum Essen ausführen würde, worüber sich besonders Amanda wahnsinnig freute. Anschließend machte ich mich auf den Weg zur nächsten Bar, unterwegs kam ich an einer Telefonzelle vorbei, von der aus ich zu Hause anrief und Marvin mobilisierte.
„Hey, Alter, hast du Bock, was trinken zu gehen? Es gibt was zu feiern.“
„Was denn?“ Mit einem Mal schien es ihm zu dämmern: „Scheiße, Alter, du hast ja heute Geburtstag!“ Er klang entsetzt, dass er das tatsächlich vergessen hatte.
Ich lachte nur und meinte gut gelaunt: „Vergiss es, Mann, es gibt was viel Besseres. Ich bin nämlich in Kürze steinreich.“
„Wieso, was hast du vor, Mann?“ Marvin klang besorgt. „Du willst hoffentlich keine Bank ausrauben, oder? Ich glaube nicht, dass die Bullen ein Auge zudrücken, nur weil du heute Geburtstag hast.“
„Ach, red keinen Stuss, Marvin, komm einfach her, okay?“ Ich nannte ihm den Namen der Bar. „Dann erzähle ich dir alles ausführlich. Bis gleich, ciao.“
Ich war schon halb wieder aus der Telefonzelle draußen, als mir einfiel, dass Luke darum gebeten hatte, informiert zu werden, falls wir noch was trinken gehen würden. Doch als ich gerade kehrtmachen und zurück in die Telefonzelle schlüpfen wollte, bemerkte ich die beiden jungen Frauen, die bereits fest in ihre Mäntel gekuschelt dastanden und darauf warteten, die Telefonzelle zu benutzen. Ich checkte sie rasch ab, während sie ihrerseits mich von oben bis unten musterten.
Das eine Mädchen war etwas größer als das andere, ich schätzte es auf Anfang zwanzig. Es hatte ein wirklich außergewöhnlich hübsches Gesicht, niedliche Grübchen und tolles, dickes kastanienbraunes Haar. Die schlanken Beine wurden von der engen Lederhose gut präsentiert und unter dem dicken Mantel verbargen sich, den Ausbeulungen nach, fantastische Brüste. Die Kleinere der beiden war ebenfalls hübsch, reichte allerdings bei Weitem nicht an das gute Aussehen ihrer Freundin heran. Ihr semmelblondes Haar trug sie streichholzkurz, ihre Nase war ein wenig zu groß, die blauen Augen, die an einen wolkenlosen Himmel erinnerten, standen einen Tick zu weit auseinander. An ihrer Figur gab es absolut nichts auszusetzen, sie war üppig, kurvig und hatte einen tollen, knackigen Po.
Ich beschloss, die beiden einzuladen, mit mir zu feiern.
Verführerisch lächelte ich ihnen zu und strich mir meine Lockenpracht aus dem Gesicht. „Hi. Was machen zwei so schöne Mädchen wie ihr denn so alleine hier draußen?“, eröffnete ich den Flirt.
Die Kleinere der beiden strahlte sofort übers ganze Gesicht, als könne sie nicht fassen, dass ich sie wahrhaftig angesprochen hatte. Die andere lächelte ebenfalls offen und erklärte: „Na ja, wir sind erst vor zwei Wochen nach Berlin gezogen und kennen uns noch nicht so gut aus. Irgendwie kriegen wir das mit der S-Bahn nicht so gut hin ... typische Landeier eben.“ Verlegen lächelte sie einen Punkt über meinem Kopf an, während die Kleinere vorwurfsvoll schnaubte.
Wow, wenn solche Mädchen aufm Land zu finden waren, sollte ich mich da vielleicht mal öfter rumtreiben.
„Na ja, jetzt wollten wir uns eben ein Taxi rufen. Ganz großstadtmäßig“, sprach die Größere lächelnd weiter, während ihre Freundin ein Gesicht machte, als würde sie sich am liebsten die Hand vor die Stirn schlagen. War es ihr etwa peinlich zuzugeben, dass sie vom Land kam?
„Ah, verstehe. Aber wisst ihr, vielleicht ist ein Taxi gar nicht mehr notwendig“, erklärte ich großspurig, trat zwischen sie und legte jeder einen Arm um die Schultern. Die Große, die mir im Übrigen bis zum Kinn reichte, schnappte hörbar nach Luft, während die Kleinere offenbar gar nicht mehr atmete. Typische Reaktionen der Frauenwelt auf mich. Gott, war ich ein toller Hecht. Ich stellte mir vor, wie Tausende Frauen abends frustriert von ihren Jobs, ihren Männern, ihren Lebensumständen vorm Fernseher saßen und plötzlich mich auf dem Bildschirm erblickten, wie ich unter der Dusche stand und mich einseifte, mein Gesicht in den Wasserstrahl hielt, mir das Shampoo aus den Haaren wusch ... und sie würden sich alle unsterblich in mich verlieben. Sie würden alle sofort was mit mir anfangen wollen. Ich müsste nur noch das Haus verlassen und schon würden Frauenscharen auf mich zurennen.
Was für ein geiler Traum! Bald könnte er Wirklichkeit sein.
Ich überprüfte, ob die Mappe noch da war, die ich zusammengerollt in die Innentasche meines Mantels gesteckt hatte, anschließend sprach ich weiter mit den atemlosen Mädchen. „Ich mache euch einen Vorschlag: Ich lade euch auf einen Drink ein. Oder zwei, wie ihr wollt. Heute ist nämlich mein Geburtstag, wisst ihr? Und es ist mein großer Wunsch, zwei so bezaubernde Damen wie euch auszuführen.“
„Oh, wie nett“, quiekte die Kleinere entzückt und legte die Hände an die apfelroten Bäckchen.
„Herzlichen Glückwunsch“, krächzte die Größere. Ihre Beine zitterten wie Wackelpudding. „Aber die Einladung können wir nicht annehmen.“
„Wieso denn nicht?“, fragte die Kleinere entgeistert.
„Ich bestehe darauf“, erwiderte ich unnachgiebig. Ich würde diese beiden Mädels bekommen, sie heute Abend auf einen Drink ausführen. Ich war sexy, jung, durchtrainiert und charmant.
Nach einigem Hin und Her ließ auch die Hübschere sich erweichen. „Und Sie ... kennen sich hier wirklich aus in Berlin? Und können Tessa und mich nach Hause bringen?“
„Klar“, sagte ich wegwerfend, „das ist meine leichteste Übung. Übrigens könnt ihr mich duzen, Baby. Und jetzt lasst uns gehen und Spaß haben.“ Marvin musste mir eben später sein Auto leihen. Oder den Fahrer spielen. Hoffentlich fuhr er nicht Bahn ...
Als mir einfiel, dass er natürlich Bahn fahren würde, weil er, genau wie ich, was trinken wollte, war es schon zu spät. Tessa und Emily waren bis über beide Ohren in mich verliebt und buhlten um meine Aufmerksamkeit, außerdem hatten wir die verräucherte, rammelvolle Kneipe bereits betreten. An Lukas dachte ich kein einziges Mal mehr an diesem Abend.
Marvin saß schon an der Bar und winkte wie wild mit beiden Armen. „Hey, Alter, hierher!“ Ich bahnte mir einen Weg zu ihm, die beiden Mädchen folgten in meinem Kielwasser. Nachdem ich Marvin und die Mädels einander vorgestellt hatte, orderte ich für jeden einen Drink. „Geht auf mich!“, brüllte ich, während ich den Wodka Tonic verteilte. „Auf euer Wohl, Leute!“
„Nein, auf dein Wohl, Chris! Immerhin bist du hier das Geburtstagskind.“
Einige Runden später hatte ich mit der halben weiblichen Gästeschar der Kneipe Bekanntschaft gemacht und so ziemlich jedem hier drin einen ausgegeben. Ich hatte schon mit ein paar Mädels rumgeknutscht und rumgemacht, meine Telefonnummer großzügig verteilt und allen erzählt, ich wäre Model, besäße einen Porsche, einen Ferrari und einen Lamborghini und würde in einer Villa in Schöneberg leben. Marvin hörte das alles zum ersten Mal, aber das machte nichts. Er war trotzdem mein bester Freund, wie ich ihm in meinem angetrunkenen Zustand mehrfach versicherte.
Irgendwann fühlte ich mich federleicht und schwerelos, frei und ungebunden, absolut glücklich mit meinem Leben, und inzwischen glaubte ich selbst, dass ich ein steinreiches Model mit drei ultraschnellen, teuren Autos war.
Irgendwann zogen wir alle in einen Nebenraum der Bar um, ein finsteres, muffiges Loch, in dem wir knutschten, fummelten und Wasserpfeife rauchten, die irgendjemand mitgebracht beziehungsweise hereingeschmuggelt hatte. Ich hatte mich selten so wohl in meiner Haut gefühlt und zu meiner großen Überraschung ließ auch Marvin sich ziemlich gehen, wahrscheinlich hatte er irgendwann im Laufe des Tages Streit mit Laura gehabt. Schließlich pennte er in irgendeiner Ecke ein und ein leicht bekleidetes schwarzhaariges Mädchen legte sich zu ihm, um zu schmusen. Ich beschloss, dass man davon allein nicht schwanger wurde, und ließ mich willig von einem blonden Mädchen mit langen Fingernägeln in ein weiteres Nebenzimmer führen. Hier spielten wir Strip-Poker, johlten, zogen einander aus, tranken, bespritzten uns mit Champagner und knutschten herum.
Als ich merkte, dass mein Portemonnaie leer war und ich keinem mehr irgendeinen Drink spendieren konnte, war sowieso schon alles egal. Die Stimmung war von ausgelassen zu wohlig schläfrig gekippt, alle zogen sich zurück, suchten sich einen Platz zum Schlafen. Die Blondine, die nichts weiter trug als champagnerfarbene Unterwäsche und mich mit ihrer blassen Haut und den dünnen Haaren ein wenig an ein gerupftes Huhn erinnerte, schmiegte sich eng an mich und schob ihre Zunge in meinen Mund.
„Ich hab Kondome dabei“, raunte sie mir ins Ohr, während ihre Zunge eine feuchte, heiße Spur auf meinem Hals hinterließ.
Ich packte sie an den schmalen Schultern, drehte sie herum und drückte sie mit dem Rücken gegen die Wand. „Das ist sehr gut, Baby, denn ich kann dir keine Sekunde länger widerstehen“, behauptete ich schwerfällig, beugte mich zu ihr hinab und begann, sie zu küssen.
Wir kamen nicht mal dazu, das Vorspiel zu beenden, denn sie schlief in meinen Armen ein. Resigniert hob ich sie hoch, brachte sie in eine abgelegene Ecke des Raumes, wo noch keiner lag, ließ mich neben ihr nieder und deckte sie mit meinem Wintermantel zu. Allmählich legte sich bleischwere Müdigkeit auf meine Glieder, meine Lider wurden schwer und ich dämmerte weg.
***
Edda: Ich bohrte meine Zehen in den weichen, von der Nachmittagssonne noch warmen Sand, lehnte mich auf meiner Liege zurück und schlürfte genüsslich an meinem alkoholfreien Bananen-Erdbeer-Cocktail, der einfach köstlich schmeckte. Je-
der Schluck war purer Genuss. Süß, frisch, kühl und irgendwie tröstlich.
Mein Tag war nicht sonderlich schön gewesen. Bereits vormittags hatte ich mich am Telefon heftig mit Timo gestritten, so arg wie nie zuvor. Es war mittlerweile ein ganzes Jahr vergangen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Im August des vergangenen Jahres waren wir zusammen auf Ibiza gewesen, jetzt war wieder August und ich saß hier um halb neun Uhr abends in einer Strandbar in Barcelona ‒ ohne Timo, dafür aber mit einem Haufen Kummer. Was sollte nur aus uns werden?
Letztes Jahr hatte alles noch so rosig ausgesehen, die Zukunft war vor uns gelegen, golden, aufregend, verheißungsvoll. Ich war mir so sicher gewesen, dass Timo und ich dieses eine Jahr, das wir getrennt verbringen mussten, packen würden. Schließlich kannten wir uns nicht erst, seit wir ein Paar waren, sondern bereits seit der fünften Klasse. Seit der sechsten Klasse waren wir Freunde gewesen, in der zwölften hatte ich mich in ihn verliebt und am Anfang der dreizehnten Klasse waren wir zusammengekommen. Und in diesem einen Jahr Beziehung waren wir glücklich und verliebt ineinander gewesen, ich hatte ihm vertraut, er hatte mir vertraut, wir hatten Spaß zusammen gehabt, konnten über alles reden, miteinander lachen, wir hatten gemeinsam für die anstehenden Abschlussprüfungen gelernt, uns gegenseitig motiviert und unterstützt, wir waren quasi eine Einheit gewesen. Ich hatte mir eingebildet, das würde so bleiben, auch wenn wir uns zwölf Monate lang nicht sehen würden.
„Was ist schon ein Jahr?“, hatte ich gesagt, als ich mich am Flughafen von Timo verabschiedet hatte. „Das ist gar nichts, Schatz. Nur 365 Tage, dann sehen wir uns wieder.“
„Ja“, hatte er geantwortet und mich so lange geküsst, bis mir die Luft wegblieb, „nur 365 Tage. Das ist ein Witz, gemessen an der Zeit, die wir danach zusammen verbringen können.“
„Genau. Ich liebe dich, Timo.“
„Und ich liebe dich, Edda.“
Auf dem Flug nach Südafrika hatte ich geweint. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich die Tage zählen und sehnsüchtig auf den Moment warten würde, an dem wir uns endlich wiedersähen. Und dann waren wir in Kapstadt gelandet. Ich hatte mich im ersten Augenblick in die Stadt, das Land, den Kontinent verliebt. Die Bewohner Südafrikas wurden auch Regenbogennation genannt, weil hier so viele unterschiedliche Menschen lebten ‒ verschiedene Hautfarben, verschiedene Religionen, verschiedene Traditionen und Bräuche, hier traf alles aufeinander. Die Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Wärme der Menschen berührte sofort mein Herz, legte sich wie ein warmer, schützender Mantel um mich, und obwohl ich vor Aufregung zitterte, fühlte ich mich geboren und gut aufgehoben.
Ich wurde unglaublich freundlich und lieb in dem Kinderheim aufgenommen, in dem ich für das nächste halbe Jahr als Freiwillige helfen würde und in dem Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre lebten, die meisten stammten aus zerrütteten Familien. Die Kinder kamen trotzdem sofort offen auf mich zu, fragten, wie ich hieße und woher ich käme und ob es in meinem Land wirklich so oft Schnee gäbe. Ich malte mit ihnen Schneemänner und erzählte ihnen von wilden Schlittenfahrten, vom Ski- und Snowboardfahren und vom kalten deutschen Winter, ich brachte ihnen ein Gedicht über Schneeflocken bei, im Gegenzug vertrauten sie mir immer öfter ihre Lebensgeschichten an. Viele waren so hart, dass ich meine Tränen nicht immer zurückhalten konnte. Von Schlägen über Vernachlässigung bis hin zu sexuellem Missbrauch war alles dabei.
Robert, mein österreichischer Betreuer vor Ort, und Tayo, Mitarbeiter des Projekts und mein erster Ansprechpartner, boten mir stets eine starke Schulter und ein offenes Ohr, wann immer ich ihnen das Leid klagen wollte, das diesen armen, unschuldigen Kindern widerfahren war.
Tayo und ich verstanden uns besonders gut, zu ihm baute ich eine sehr enge Beziehung auf in diesem halben Jahr, das ich in Südafrika verbrachte. Sein Name bedeutete übersetzt der Glückliche oder geboren, um glücklich zu sein, und auf meinen Tayo traf das haargenau zu. Es gab keinen Tag, an dem ich ihn nicht strahlen sah, an dem das Lebensglück ihm nicht aus den Augen leuchtete, an dem er nicht sprühte vor Energie, Gesundheit und Kraft. Tayo war bald schon mein engster Vertrauter, mein bester Freund. Vielleicht hatte ich mich sogar ein bisschen in ihn verliebt, doch ich gestand ihm nie meine Gefühle.
Tayo war schon 25, groß gewachsen, schlaksig, mit schmalen Hüften und Schultern. Er trug immer jede Menge Ketten, bestehend aus Muscheln oder Steinen, und Armschmuck aus bunten, geflochtenen Bändern.
Recht bald bat mich eine Mitarbeiterin des Kinderheims namens Jala, was übersetzt die Glänzende oder die Besondere hieß und ebenfalls zutraf, darum, mein „tolles, feuerrotes Haar“ flechten zu dürfen, und da es mir ohnehin ständig im Weg umging und ich meine Haargummis andauernd verlor, stimmte ich zu. Sie flocht mein Haar zu Tausenden kleinen Zöpfen und befestigte sie mit kleinen Gummis, die sich nur schwer wieder aus den Haaren ziehen ließen.
Ich wurde von den Heimkindern reich beschenkt, jeden Tag erhielt ich eine andere Kette, Armbänder in Massen, sogar Ohrringe. Wir kuschelten viel oder ich las ihnen vor, half ihnen bei den Hausaufgaben, dachte mir Spiele aus. Wir bemalten uns gegenseitig mit Fingerfarben, gründeten eine Trommler- und Gitarrengruppe, jeden Abend machte ich mit ein paar Kindern einen Abstecher hinunter zum Strand, genauer gesagt zum Boulders Beach, an dem man Brillenpinguine beobachten konnte, wenn man sich nur geduldete und stillhielt.
„Wisst ihr, was das Tolle an Pinguinpärchen ist?“ Ich streichelte einem kleinen Jungen mit schwarzen Wuschellocken durchs Haar. „Sie trennen sich niemals. Wenn sie einmal einen Partner gefunden haben, bleiben sie ein Leben lang zusammen.“
„Das will ich auch mal“, rief ein kleines Mädchen und klammerte sich an meinem Arm fest.
Und ein älterer Junge von zwölf Jahren fragte mich bittend: „Edda, willst du mein Pinguin sein?“
Es gab massenhaft schöne Erlebnisse in dieser Zeit ‒ Safaris, Schlafen unter freiem Himmel, Essenseinladungen, bei denen ich mit landestypischen Spezialitäten überhäuft wurde, Ausflüge in andere Städte, Discobesuche, Wanderungen zum Tafelberg, Strandspaziergänge im charmanten Camps Bay, Besuche in den Weinbergen und, und, und.
Als in Deutschland der Winter begann, hatten wir in Südafrika Höchsttemperaturen. An Weihnachten ging ich mit der ganzen Rasselbande schwimmen, wir bauten Sandburgen und vergruben einander im heißen Sand, ehe die traditionelle Weihnachtsfeier begann. An Silvester feierte ich mit Scharen von Menschen an der Waterfront, wir grillten und stießen mit Sekt auf das neue Jahr 2003 an und auf alles, was es bringen mochte.
Als ich im Februar abflog, flossen nicht nur bei mir dicke Tränen. Tayo und Jala versprachen, mich auf jeden Fall auf dem Laufenden zu halten, wir würden uns Briefe schreiben und einander niemals vergessen. Und ja, wir würden uns ganz, ganz bald wiedersehen. Ich hatte fest vor, Südafrika in den nächsten Jahren auf jeden Fall wieder einen Besuch abzustatten, nicht umsonst war es als das schönste Ende der Welt bekannt, und wer einmal dort war, wollte nie wieder weg. bvbbbbbbbbbbbbbb
In diesem halben Jahr hatte ich kaum an Timo gedacht, all das Neue, Aufregende hatte mich völlig in den Bann gezogen. Außerdem war ich von morgens bis abends mit den Kindern zusammen gewesen, an den Wochenenden hatte ich mir von Tayo oder Jala Kapstadt zeigen lassen, einmal waren wir sogar am Donnerstag nach Johannesburg gefahren und erst am Sonntagabend heimgekehrt. Es waren tolle Tage gewesen, denn auch Johannesburg war eine beeindruckende Stadt.
Für mich war es weiter nach Neuseeland gegangen, wo ich mich fünf Monate lang mit Work-and-Travel durchschlug. Zuvor war ich, mal abgesehen von Klassenfahrten und einer recht aufregenden Jugendreise mit Kim, noch nie ohne meine Eltern unterwegs gewesen, geschweige denn ganz allein, deshalb schlug mir das Herz auch bis zum Hals, als ich, diesmal ohne Projektleiter, auf mich allein gestellt am Flughafen stand und weder aus noch ein wusste. Doch ich sagte mir, dass ich alles schaffte, wenn ich es nur genug wollte.
Heute konnte ich sagen, dass es eine unglaublich wertvolle Erfahrung gewesen war, die ich um nichts auf der Welt missen wollte und die mir geholfen hatte zu reifen, zu wachsen. Sie hatte mich selbstständiger und selbstbewusster gemacht, lebenserfahrener. Ich wusste, wie es war, auf eigenen Beinen zu stehen, für sich selbst zu sorgen, sich durchzuschlagen.
Ich arbeitete und reiste sehr viel. Mal jobbte ich für zwei Wochen in einem Hotel an der Rezeption, mal half ich in einem Restaurant als Kellnerin aus. Ich pflückte Mangos und ließ mich dabei von der Sonne verbrennen, ich hütete Kinder, erledigte den Haushalt, ich ging für ein altes Pärchen regelmäßig einkaufen, das mich anstatt mit Geld mit Schokolade bezahlte.
Ich fuhr per Anhalter, anfangs voller Angst, mir könnten unsägliche Dinge zustoßen, dann begegnete ich Philipp und Miriam, einem Paar aus Duisburg, das ebenfalls durch Neuseeland reiste. Wir taten uns zusammen, mit ihnen gelangte ich unbeschwert von Ort zu Ort. Die beiden traten manchmal als Zauberkünstler auf und brachten mir eine Menge cooler Tricks bei, die ich anwendete, um damit Geld zu verdienen.
Die Kiwis an sich, wie Neuseeländer auch genannt wurden, waren tolle Menschen. Freundlich und bodenständig, sehr umgänglich und offen für neue Bekanntschaften. Außerdem hatte dieses Land eine Wahnsinnskultur, eine Mischung aus Maori-Traditionen sowie europäischen, pazifischen und asiatischen Einflüssen. Sie kennenzulernen und zu erleben, war ein einzigartiges Erlebnis.
Auch die Landschaft Neuseelands ließ jedes Abenteurer- und Naturfreundherz höher schlagen. Es gab eigentlich nichts, das es nicht gab. Vulkane, die wahrhaftig Feuer ausstießen. Tiefe Fjorde. Schneebedeckte Berge. Alte Wälder. Gletscher bis fast auf Meereshöhe. Ein Naturspektakel jagte das nächste, ich konnte mich kaum sattsehen.
Einer meiner größten Wünsche war es schon immer gewesen, mal das Bungeejumping auszuprobieren. Da ich dieses verrückte Jahr, in dem ich alle Möglichkeiten hatte, voll auskosten wollte, sprang ich tatsächlich von einer Brücke. Einmal tauchte ich dabei ins Wasser ein, und als ich wie ein Flummi wieder nach oben hüpfte, kreischte ich vor Begeisterung und Freude. Adrenalin jagte durch meinen Körper, es kribbelte überall und ich spürte das Leben so deutlich und intensiv, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. So musste sich das Leben anfühlen ‒ Kribbeln auf der Haut, Prickeln im Kopf und der Wunsch, vor Glück und Freude laut zu schreien.
Zu meiner Schande musste ich einräumen, dass ich auch in dieser Zeit so gut wie nie an Timo dachte ‒ es war einfach immer zu viel los, Körper, Seele und Geist waren rund um die Uhr damit beschäftigt, zu verarbeiten und abzuspeichern, was ich erlebt hatte. Hin und wieder tauchte er in meinen Träumen auf, doch zu meinem großen Schreck konnte ich mich nicht mehr genau an seine Gesichtszüge erinnern, an die Farbe seiner Augen oder den Klang seiner Stimme. Und das, obwohl wir uns seit neun Jahren kannten und seit zwei Jahren ein Paar waren. Die Erinnerungen an Timo waren irgendwo tief in meinem Inneren begraben, verschüttet von all dem Neuen. Mit dem Telefonieren war es schwierig, denn aufgrund der Zeitverschiebung, leerer Akkus oder nicht vorhandenen Guthabens auf der Karte sowie Funklöchern gestaltete sich die Kommunikation schwierig. Manchmal wenn ich in stillen Nächten am Strand von Südafrika saß und die Milliarden Sterne bewunderte oder im Zelt in Neuseeland lag und den Geräuschen draußen lauschte, fragte ich mich, ob ich ihn überhaupt noch liebte. War es denn wirklich Liebe, wenn man vergaß, an den Partner zu denken? Wenn einem irgendwann am Ende des Tages einfiel, dass es da draußen noch jemanden gab, Tausende Meilen entfernt, der zu einem gehörte? Außerdem machte mir die ausbleibende Sehnsucht nach ihm Sorgen. Klar vermisste ich ihn hin und wieder, vor allem während meiner Zeit in Neuseeland, wenn ich gerade neu irgendwo angekommen war und mich erst einfinden musste. Wenn ich einsam war, vermisste ich ihn. Aber ich vermisste auch Kim und Flocke und meine Eltern. Ich wünschte mir sehr, sie bald wiederzusehen, und wenn ich meine Geldkarte aufgeladen hatte, rief ich immer zuerst meine Eltern oder Kim an. Timo stand nie an erster Stelle. Das war wohl mehr als bedenklich ...
Nachdem die Zeit in Neuseeland um war, flog ich nach Barcelona. Hier hatte ich mir schon im Voraus ein Zimmer in einer Jugendherberge gebucht. Ich hatte genug Geld zusammen, um es dort die letzten vier Wochen meines Reisejahres auszuhalten. Anschließend würde ich mit einem Reisebus zurück nach Deutschland fahren.
Mittlerweile war ich seit zwei Wochen hier und auch die spanische Stadt gefiel mir ausgesprochen gut. Hier fand das Leben auf der Straße statt, Kultur, Strandleben, Nachtleben, Shoppingmeilen und Essen vereinten sich zu einem großartigen Gesamtpaket. In Barcelona kam wirklich jeder auf seine Kosten.
Zwei weitere Wochen lagen vor mir, bevor ich in heimatliche Gefilde aufbrechen würde, und obwohl ich mich einerseits wahnsinnig freute, alle wiederzusehen, war ich auch traurig, dass die tolle Zeit schon um war. Nun stand ich hier mit einem Koffer voller neuer Schätze und dem Herzen voller Erinnerungen und wusste nichts mit meinem Leben anzufangen. Beunruhigenderweise hatte ich nämlich nach wie vor keine Ahnung, in welche berufliche Richtung ich gehen wollte. Ich hatte viele Interessen und es gab viele Jobs, die ich gerne ausüben würde. Nun hatte ich das Problem, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Eine Weile war ich mir sicher gewesen, Fotografin werden zu wollen, dann wiederum war ich überzeugt davon gewesen, ich könnte es als Regisseurin weit bringen. Auch mit dem Gedanken, Journalistin zu werden, hatte ich gespielt oder vielleicht sollte ich Kulturwissenschaften studieren ...
Alle Türen standen offen, ich wusste nur nicht, durch welche ich gehen sollte.
Diese Woche war Kim mich besuchen gekommen und für sieben Tage hatte ich meine beste Freundin um mich herum gehabt. Wir hatten geweint, als wir uns am Flughafen in die Arme fielen, und es war mir ein Rätsel gewesen, wie ich ein Jahr lang ohne sie ausgekommen war. Die Hoffnung, dass meine Gefühle für Timo ebenso stark zum Ausdruck kommen würden, wenn wir uns wiedersahen, bestand nach wie vor. Es war die letzte Hoffnung für unsere Beziehung, fürchtete ich.
Kim genoss die Woche in vollen Zügen, ließ sich von mir die Stadt zeigen, begleitete mich jeden Morgen hinab an den Strand, wo wir ein paar Bahnen schwammen und anschließend ein wenig im Sand saßen und einfach redeten. Es tat so unendlich gut, sie nach fast einem Jahr wieder bei mir zu haben, über alles mit ihr reden zu können. Zwar hatte ich auch in Südafrika und Neuseeland Leute gehabt, mit denen ich reden, fantasieren, denen ich mich anvertrauen konnte, doch mit der besten Freundin, die ich schon mein halbes Leben kannte, war es doch was ganz anderes. Kim kannte mich in- und auswendig, so gut wie keiner sonst. Sie wusste, wie es in mir aussah, war in der Lage, Ordnung in mein Gefühlschaos zu bringen und mich zurück auf den Boden zu holen, wenn ich ausflippte und übers Ziel hinausschoss.
Kim hatte das vergangene Jahr genutzt, um Praktika in verschiedenen Berufsfeldern zu machen. Vier Monate hatte sie bei einer Frauenzeitschrift in Berlin mitgearbeitet, dann hatte sie in die Filmbranche in den Filmstudios München hineingeschnuppert. Zweieinhalb Monate hatte sie ein Praktikum bei einem Radiosender in Köln absolviert. Überall hatte sie positives Feedback bekommen, ihr wurde mehrfach versichert, dass sie in allen Bereichen Talent mitbrachte und gute Karrierechancen hätte. Schnell hatte sich herauskristallisiert, was das Richtige für Kim war: Sie würde Kommunikationswissenschaften studieren. Und zwar in Bayreuth.
„Nach dem Studium habe ich unglaublich viele Berufsmöglichkeiten“, berichtete sie mir an einem warmen Morgen, als wir nach dem Schwimmen unsere Zehen im weichen Sand vergruben. „Ich kann was mit Journalismus machen oder in die Marketingbranche einsteigen. Mal sehen, ich glaube, liegen würde mir beides.“ Sie strahlte, ihre Augen leuchteten und ich freute mich für meine beste Freundin, dass sie einen Plan, ein festes Ziel vor Augen hatte.
„Ich beneide dich, Kim“, seufzte ich. „Du hast genaue Zukunftspläne, du weißt, wo es für dich hingehen soll, wie die nächsten Schritte aussehen, du hast so viele großartige Zertifikate bei deinen Praktika bekommen. Dich nimmt bestimmt jeder mit Kusshand.“
„Ach, Süße, dich doch auch.“ Kim streichelte tröstend meine Hand. „Du hast ein bombastisches Abitur, Herzchen, und sozial engagiert bist du auch. Du hast auf dem Trip nach Neuseeland deine Selbstständigkeit trainiert, du hast bewiesen, dass du auf eigenen Beinen stehen und dich durchschlagen kannst.“
„Ja, nur leider hat mir keiner ein Arbeitszeugnis dafür geschrieben“, erwiderte ich niedergeschlagen und ärgerte mich über mich selbst, dass ich mir nicht an den jeweiligen Orten, an denen ich in Neuseeland gearbeitet hatte, ein Zertifikat hatte ausstellen lassen. Andererseits hatte ich dieses Jahr für mich gebraucht, um mich zu orientieren, neue Erfahrungen zu sammeln und etwas übers Leben zu lernen. Es war darum gegangen, an die Grenzen zu gehen, mutig zu sein, loszulassen, Neues auszuprobieren, Freiheit zu spüren. All das hatte ich getan, brauchte ich wirklich Belege dafür? Reichten die Erinnerungen und Fotos nicht aus, die ich für immer im Herzen tragen würde?
„Es ist nur ... Lücken im Lebenslauf sehen nicht so toll aus“, murmelte ich unsicher.
„Was für Lücken?“ Kim sah mich kopfschüttelnd an. „Die ersten sechs Monate hast du an einem sozialen Projekt mitgearbeitet. Dafür hast du doch ein Zertifikat, oder?“ Ich nickte. Immerhin das hatte ich. „Na also. Das andere halbe Jahr warst du auf einem Selbstfindungstrip durch Neuseeland und hast gelernt, Verantwortung für dich und andere zu übernehmen und selbstständig zu arbeiten. Fertig. Dass du einen Urlaub hier in Barcelona angehängt hast, brauchst du ja niemandem auf die Nase zu binden.“ Sie zwinkerte mir zu. Meine Beste! Bei ihr war das Leben ganz einfach.
„Und dann ist da noch Timo“, nuschelte ich, „ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, ob die Beziehung noch irgendwo hinführt ...“
„Dann mach Schluss“, sagte Kim leichthin, und als ich sie entsetzt anstarrte, seufzte sie tief und legte mir einen Arm um die Schultern. „Edda, mal ganz im Ernst. Ihr seid beide noch so jung, gerade mal 19. Ihr habt euer ganzes Leben vor euch, denkst du wirklich, dass du bis an dein Lebensende mit Timo zusammen sein wirst?“
Ich machte den Mund auf, wollte etwas erwidern, doch da bemerkte ich, dass ich die Antwort darauf nicht mehr kannte. Vor einem Jahr hätte ich Ja gesagt, voller Überzeugung. Doch jetzt war mir der Glaube daran abhandengekommen, irgendwo zwischen Südafrika und Neuseeland in den Ozean gestürzt.
Ich biss mir auf die Lippe, schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht, Kimmi, ich weiß es wirklich nicht.“
„Edda, komm schon, Süße, wach auf! Du musst Erfahrungen mit Männern sammeln, dich auf sie einlassen, Abenteuer erleben, ausprobieren. Das mit Timo und dir, das ist doch festgefahren. Ich meine, ihr kennt euch seit hundert Jahren. Ihr seid euch so vertraut, da bleibt jegliche Aufregung, alles Kribbeln auf der Strecke. Da brennt keine Leidenschaft, weißt du? Ihr seid einfach ... zu eng befreundet, um eine leidenschaftliche Beziehung zu führen. Vielleicht sollten gute Freunde einfach keine Liebhaber werden.“
Ich dachte lange darüber nach, den ganzen Tag und die halbe Nacht. Irgendwie hatte Kim recht. Unsere Liebe war nie aufregend gewesen, nie prickelnd wie überschäumender Champagner, nie wild wie ein Wirbelsturm. Dieses Zügellose, Hemmungslose hatte es in unserer Beziehung nie gegeben. Ich wusste, dass Kim seit der Trennung von Bastian viel herumexperimentiert hatte, allerdings keine feste Beziehung mehr eingegangen war. Ich fragte mich, ob ich das könnte. Mal mit dem schlafen, mal mit einem anderen, ohne feste Bindung, ohne diesen Menschen überhaupt richtig zu kennen. Reichte Sympathie allein aus, um mit jemandem ins Bett zu steigen? War das eine der Erfahrungen, die man machen musste, wenn man jung war?
Ich war Timo treu gewesen, das ganze Jahr über. Zwar hatte ich mich zu Tayo hingezogen gefühlt, doch ich hatte den Gefühlen nicht nachgegeben. Bisher war ich stolz auf mich gewesen. Nun fragte ich mich, ob ich es hätte tun sollen, loslassen, mich hingeben, mutig und verwegen sein. Hatte ich mich selbst zu stark unter Kontrolle? Stand ich mir selbst im Weg? Sollte ich ein paar Jugendsünden begehen, damit ich später ‒ mit 30 oder so ‒ auch was zu erzählen hatte?
Himmel, 30 ... dieses Alter schien mir so weit entfernt zu sein wie die Sterne. Bis dahin waren es noch elf Jahre. Die ich nutzen sollte ...
Aus irgendeinem Grund dachte ich in jener Nacht zum ersten Mal seit einem Jahr wieder an Christopher Waldoff, den einzigen Jungen, abgesehen von Timo, der mir je nah gewesen war. Der einzige außer Timo, mit dem ich je in einem Bett geschlafen hatte. Arm in Arm. Mir wurde heiß, wenn ich daran dachte, und ganz merkwürdige Dinge gingen in meinem Unterleib vor sich. Auf einmal machte sich eine solche Lust bemerkbar, dass ich es kaum aushielt. Dieses Ziehen im Unterleib war regelrecht schmerzhaft.
Ich fragte mich, ob ich womöglich den Verstand verlor. Christopher Waldoff erinnerte sich sicher nicht mal mehr an meinen Namen.
Er war jetzt Model, das hatte ich durch Kim erfahren. Und auch Timo hatte es mir heute bei unserem Telefonat erzählt, abfällig, fast angewidert, als wäre es etwas Verwerfliches, sich sein Geld als Model zu verdienen.
„Seine Visage grinst von jeder verdammten Litfaßsäule in jeder deutschen Stadt herunter“, hatte er mir berichtet und dabei halb neidisch, halb abfällig geklungen. „War ja irgendwie klar, dass der Typ Model wird. Nicht denken, nur seinen Body präsentieren, mit irgendwelchen Weibern vögeln und dafür das große Geld machen. Das passt zu ihm.“
„Na ja, ist doch eigentlich ziemlich clever von ihm“, nahm ich ihn aus mir unerklärlichen Gründen sofort in Schutz. „Er startet durch, verdient sein eigenes Geld, kann sich was leisten, sich ein Leben aufbauen. Er hat es zu was gebracht, das ist doch gut. Sein Vater wird ziemlich sauer sein, wenn er die Plakate sieht.“ Ich musste grinsen. „Er hat ja nie sonderlich viel von Chris gehalten.“
„Ganz im Gegensatz zu dir, wie mir scheint“, erwiderte Timo pampig. „Du klingst regelrecht begeistert. Weil der Typ jetzt nicht nur ’ne große Fresse, sondern auch ’ne dicke Brieftasche hat oder was? Würdest wohl sofort mit ihm in die Kiste steigen.“
Okay, jetzt wurde er gemein. Und verletzend. Was sollte das?
Ich schnappte empört nach Luft, ehe ich antwortete. „Was soll das, Timo? Du weißt genau, dass mir Geld und Bekanntheit nichts bedeuten. So oberflächlich bin ich nicht. Und ich würde auch nie was mit ihm anfangen, während ich mit dir zusammen bin.“
„Ach ja? Hm, warum glaub ich dir das jetzt nicht?“ Ich wurde feuerrot vor Ärger und wollte antworten, doch er fuhr fort: „Sehr groß kann deine Sehnsucht nach mir nicht gewesen sein. Du hast dich kaum gemeldet, Edda, das ganze Jahr über nicht. Ich weiß, Zeitverschiebung, leerer Akku und so ’n Scheiß. Aber du hättest mir wenigstens mal eine SMS schicken können. Oder ’ne Postkarte.“
„Ja, klar. Und wo genau hätte ich die hinschicken sollen, wenn du jeden Tag in einer anderen Stadt bist?“, blaffte ich wütend. Ich fragte mich, wie wir an diesen Punkt hatten gelangen können, und wollte am liebsten einfach auflegen. Hatte das alles überhaupt noch einen Sinn?
„Du hättest sie zum Beispiel an meine Eltern schicken können, Edda, die wussten immer, wie lange ich wo bin. Sie hätten mir meine Post nachsenden können. Oder zu Hause sammeln, bis ich wiederkomme. Aber darum geht’s gar nicht, Scheiße noch mal.“ Er klang wirklich wütend. „Das ganze Jahr über hab ich kaum was von dir gehört, wir haben uns nicht gesehen, nichts ... Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich vermisst hab jeden verdammten Abend, den ich allein in einsamen Hotelzimmern verbracht habe?“
„Nein, weiß ich nicht“, erwiderte ich bockig. „Du hast nämlich auch nie bei mir angerufen, mein Lieber. Hättest dich ja auch mal melden können, wenn du solche Sehnsucht nach mir hattest.“
„Oh, entschuldige bitte, dass ich nicht immer extra die Zeit nachrechnen wollte, bevor ich meine Freundin anrufe“, blaffte er mich an. „Ich hatte nämlich bei Gott auch noch was anderes zu tun, als dir hinterherzutelefonieren und mir den Kopf über Uhrzeiten zu zerbrechen.“
„Ach ja? Ist ja toll, dass ich dir so viel wert bin, dass du dir nicht mal diese Mühe machst“, sagte ich sarkastisch. „Wenn es dir denn so wichtig gewesen wäre, hättest du die Rechnerei in Kauf genommen. Und dass du dich jede Nacht einsam in den Schlaf geweint hast, kannst du deiner Großmutter erzählen, aber nicht mir.“
Nun lag etwas Lauerndes in seiner Stimme, als er entgegnete: „Was willst du damit sagen?“
Okay, ich wusste, ich begab mich auf gefährliches Terrain. Aber ich hatte es mit einem Mal satt, um den heißen Brei herumzureden, alles totzuschweigen und mich still und leise weiter mit der Frage zu quälen, ob uns diese Beziehung überhaupt noch irgendwo hinführte.
„Was ich damit sagen will?“, erwiderte ich und registrierte erstaunt, dass meine Stimme vor Anspannung und Wut bebte. „Na, dass du sicher ein paar nette Mädels gefunden hast, die dir nachts Gesellschaft geleistet haben. Wahrscheinlich fandest du es gar nicht so übel, dass ich mich eher selten gemeldet hab, so konntest du dir einreden, du hättest gar keine Freundin, dich fühlen wie ein Frauenheld und eine nach der anderen aufreißen in dem Wissen, dass du sie nie wiedersehen würdest. Und, Timo, wie sind die Frauen in Stuttgart, Nürnberg und Berlin denn so im Bett?“ Mittlerweile war ich auf 180, mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren, ich schrie.
Auch Timo war nun wütend wie ein Stier, den man mit einem roten Tuch reizte. Er brüllte in den Hörer: „Gut sind die im Bett, Edda, okay? Verdammt gut! Ja, ich hab mit halb Stuttgart gevögelt und mit allen Frauen in Berlin und Nürnberg geschlafen. Ist es das, was du hören willst? Hm? Um dein schlechtes Gewissen zu erleichtern? Du hast doch mit irgendeinem Kerl geschlafen, oder? Gib’s wenigstens zu. Wer war’s denn, hm? Vielleicht doch dieser Christopher, auf den du heutzutage so scharf bist? Ist er besser im Bett als ich?“
„Und Hanna?“, schrie ich außer mir, meine Augen schwammen mittlerweile in Tränen. „Ist die besser im Bett als ich?“
Einen Moment lang klang er perplex. „Hanna, welche Hanna?“
„Na, Hanna Burger aus unserer ehemaligen Parallelklasse. Mit der du auf der Abschlussfeier so selbstvergessen rumgeschmust hast.“ Die Tränen liefen über und rannen mir heiß über die Wangen. So wie es sich momentan anfühlte, verlor ich gerade nicht nur meinen Partner, sondern auch noch meinen engsten und besten Freund. Noch nie zuvor hatten wir uns so angeschrien, hatten so respektlos und verachtend miteinander gesprochen wie jetzt.
„Das ist doch nicht dein Ernst.“ Timo klang fassungslos. „Bist du etwa eifersüchtig? Weil ich Hanna in den Arm genommen hab zum Abschied?“
„Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Es ist mir verdammt noch mal scheißegal, wen du so in den Arm nimmst!“, kreischte ich schrill. „Solange du nicht eifersüchtig bist, wenn ich einen Typen verteidige, der als Model arbeitet.“
„Aha, sind wir also wieder bei diesem Thema.“ Timo klang kalt und teilnahmslos, so kannte ich ihn gar nicht. Obwohl es sehr warm war, fröstelte ich, meine Arme waren mit einer Gänsehaut überzogen. „Weißt du was, ich hab keinen Bock mehr, mich auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Geh doch zu deinem Christopher!“
„Und du geh doch zu deiner Hanna!“, schrie ich und drückte ihn weg. Dann sackte ich zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte haltlos.
Die Tür wurde aufgerissen, Kim kam ins Zimmer gestürzt und zog mich bestürzt in ihre Arme. „Oh, Süße, was war das denn? Ich hab jedes Wort verstanden, und das, obwohl ich nicht gelauscht hab. Meine Güte, das war ein echt heftiger Streit, was?“
Ich nickte schniefend und drückte mein Gesicht gegen ihre Schulter. Wir hatten in unserer Beziehung bisher noch nie gestritten, alles war cool gewesen zwischen uns. Und jetzt so was. Eine riesige Bombe war geplatzt und wir konnten nicht mal von Angesicht zu Angesicht darüber reden, weil wir meilenweit voneinander entfernt waren. Nicht nur geografisch, sondern auch emotional.
Ich heulte noch eine Weile, anschließend ging ich mit Kim schwimmen, ein Eis essen und shoppen. Währenddessen verdrängte ich den Streit, so gut es ging. Um halb sechs fuhren wir mit dem Taxi zum Flughafen, weil Kim zurück nach Köln flog. Sobald meine beste Freundin in der Luft war, erfasste mich ein Gefühl der Leere, bleischwere Traurigkeit legte sich auf meine Schultern und drückte mich runter. Ich war todunglücklich, wollte mich am liebsten ins Bett legen und einfach schlafen.
Doch meine Gedanken kreisten immer und immer wieder um dieses Telefonat. Obwohl er es vermutlich nur gesagt hatte, um mir wehzutun, stellte ich mir die Frage, ob Timo vielleicht tatsächlich mit einer anderen geschlafen hatte. Oder mit mehreren. In jeder Stadt eine. Könnte doch sein ... er sah wirklich gut aus. Viele Mädchen standen auf diesen typischen Surfertypen ‒ groß und schlaksig, mit blonden Haaren und strahlend blauen Augen, mit Waschbrettbauch und gewinnendem Lächeln.
Es tat weh, daran zu denken, dass Timo möglicherweise mit einer anderen intim geworden war. Genau wie er für mich war auch ich für ihn das erste Mal gewesen. Er hatte vor mir noch mit keinem anderen Mädchen geschlafen und das war etwas ganz Besonderes für mich. Es war eine Ehre, ein tolles Gefühl. Wir hatten uns gegenseitig entjungfert und das würde uns für immer verbinden. Aber was, wenn es für ihn nichts Besonderes mehr war? Wenn er inzwischen mit halb Stuttgart, ganz Hamburg und einem Drittel von Duisburg geschlafen hatte?
Der Gedanke trieb mir Tränen in die Augen. Ich dachte wieder daran, dass Kim mir geraten hatte, mich von ihm zu trennen. Sie hatte mich gefragt, ob ich wirklich glaubte, dass Timo und ich bis an unser Lebensende zusammen sein würden. Gestern noch hieß die Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Vor einem Jahr war es ein klares „Ja“. Und nun ein eindeutiges „Nein“. Zwischen Timo und mir war es aus. Etwas war zerbrochen bei diesem Streit heute, etwas, das nicht mehr zu reparieren war. Wir konnten Freunde bleiben. Vielleicht hätten wir sowieso nie mehr als Freunde sein sollen. Auch wenn ich unsere Zeit als Paar nicht bereute und es auf keinen Fall rückgängig machen wollte ‒ nun bestand die Gefahr, einen guten Freund, einen geliebten Menschen für immer zu verlieren. Und das wollte ich keineswegs.
Da ich von all den Grübeleien Kopfschmerzen bekam, beschloss ich, mich abzulenken und auszugehen. In die Strandbar, in der Kim und ich diese Woche bereits zweimal gewesen waren. Kim war beide Male recht schnell von Typen angesprochen und angemacht worden. Sie hatte ein bisschen zurückgeflirtet und ihnen anschließend freundlich, aber bestimmt einen Korb gegeben. Mich hatte man wie üblich nicht so recht beachtet und nur aus Höflichkeit ins Gespräch mit eingebunden. Tja, ich war eben nicht der typische Männerschwarm. Kim hingegen war der Traum aller Männer, sie hatte genau die richtige Größe, nicht zu groß, nicht zu klein, sie war kurvig und an den richtigen Stellen üppig, knackbraun schon nach einer Woche Strandleben, ihr langes, volles braunes Haar strotzte vor Gesundheit, ihre klugen braunen Augen blitzten jeden herausfordernd an, ihre vollen kirschroten Lippen luden zum Küssen ein, ihr Lachen war ansteckend, ihr Lächeln offen.
Ich mit meinen roten Haaren, der recht knochigen, drahtigen Figur und der eher geringen Oberweite hatte weniger Chancen bei den Männern. Außerdem war ich nach wie vor käseweiß. Wenn ich zu lange in der Sonne lag, wurde ich rot wie ein Hummer, bekam schmerzhaften Sonnenbrand und häutete mich wie eine Schlange. Braun wurde ich nie. Dafür war mein ganzer Körper mit Sommersprossen übersät, es gab keine freie Stelle mehr.
An manchen Tagen ärgerte es mich, stimmte mich nachdenklich, dass ich nie solch begehrliche Blicke auf mir spürte wie Kim. An anderen Tagen, zum Beispiel heute, war ich froh, dass mir nicht ständig jemand hinterherpfiff. So hatte ich meine Ruhe, konnte in Frieden meinen Cocktail trinken, aufs Wasser rausschauen und es mir auf meiner Liege bequem machen, ohne irgendwelche aufdringlichen Kerle abservieren zu müssen.
Ich hatte meinen Cocktail grade leer getrunken und mir beim Kellner einen neuen bestellt, einen alkoholfreien Sunset Cocktail, der diesen Namen der Tatsache verdankte, dass er ähnliche Farben aufwies wie ein Sonnenuntergang, als ich ein verliebtes Pärchen vom Strand herüberschlendern sah. Sie war ziemlich dünn und groß, hatte langes blondes Haar, trug ein champagnerfarbenes Strandkleid, das ziemlich kurz war, und umklammerte ihn, als wäre er ihr Teddybär. Er überragte sie um einen halben Kopf, war, soweit ich das aus dieser Entfernung ausmachen konnte, ziemlich muskulös, hatte kurz geschorenes dunkelbraunes Haar und einen dunklen Bartschatten, was ich zurzeit ziemlich sexy fand. Sein Gang kam mir irgendwie vage bekannt vor und ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte, dass ich mit einem Mal so ein Grummeln im Bauch hatte.
„Hier, dein Drink“, sagte der Kellner auf Spanisch zu mir, reichte mir das bauchige Glas, lächelte knapp und huschte weiter zur nächsten Liege.
Ich umfasste das Trinkgefäß mit beiden Händen, zog kräftig am Strohhalm und genoss den Geschmack von Maracuja, Mango, frisch gepressten Orangen, Trauben- und Zitronensaft sowie dem blauen Sirup, der sich unten am Boden des Glases abgesetzt hatte und aussah wie das letzte Stück vom dunkelblauen Himmel, wenn die Sonne unterging.
„So, Baby, setz dich hierher.“ Das Pärchen war inzwischen bei der Strandbar angelangt und er warf ein schwarzes Handtuch auf eine der letzten beiden zur Verfügung stehenden Liegen. „Ich hol uns was zu trinken. Was möchtest du?“ Er sprach ein ziemlich gutes Spanisch.
Ihre Antwort konnte ich nicht verstehen, ich sah nur, wie sie sich elegant auf die Liege gleiten ließ, wobei ihr Kleidchen etwas hochrutschte und den Blick auf ein schwarzes Seidenhöschen freigab. Anzügliche Pfiffe klangen von den anderen Liegen herüber und wurden von beiden Parteien geflissentlich ignoriert. Stattdessen beugte er sich zu ihr hinab, umfing mit der Hand leicht ihre Wange und küsste sie, ehe er mit federndem Gang hinüber zur Bar stolzierte.
Ich kniff die Augen zusammen und fragte mich angestrengt, warum mir dieser Gang und der Klang seiner Stimme so bekannt vorkamen. Irgendwie hatte er Ähnlichkeit mit ... Er erinnerte mich sehr an ...
Als er schließlich mit zwei Drinks in den Händen zurückkam und ich ihn direkt von vorn sah, beleuchtet vom blauen Licht des Barhäuschens, traf mich schier der Schlag. Es fehlte nicht viel und ich hätte mir den Cocktail über die Beine gekippt. Das da war kein Geringerer als Christopher Waldoff. Oh mein Gott, was machte der denn hier in Barcelona? Und was noch wichtiger war, was machte er ausgerechnet heute Abend in dieser Strandbar? Ich konnte es kaum glauben, gaffte ihn fassungslos an und bekam den Mund gar nicht mehr zu.
Mittlerweile war er bei seiner Begleiterin angekommen und überreichte ihr den Drink. Sie hatte im Gegensatz zu ihm bemerkt, dass ich ihn mit offenem Mund anglotzte, zog ihn leicht am Arm und sagte gedämpft etwas zu ihm, dabei sah sie zu mir herüber. Unbehaglich umklammerte ich mein Glas, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Bitte, bitte, komm nicht rüber!“, flehte ich in Gedanken.
Genau in diesem Moment drehte er sich um, musterte mich von oben bis unten und schien angestrengt darüber nachzudenken, ob er mich schon mal irgendwo gesehen hatte. Ich war ein wenig beleidigt, schließlich hatte ich ihn stockbesoffen auf meiner Couch übernachten lassen.
„Komm schon, du Trottel“, probierte ich es via Gedankenübertragung, „erinnere dich an mich.“
Dann trafen sich unsere Blicke und etwas in seinem Gesicht veränderte sich. In dem Moment wusste ich, dass er mich erkannt hatte. Keine Ahnung, ob ich das gut oder schlecht finden sollte.
Er hob die Hand und winkte mir flüchtig zu. Ich winkte schwach zurück, es fühlte sich an, als würde mir gleich der Arm abfallen. Mühsam gelang es mir, den Mund zu schließen. Ich hatte eine ganz trockene Kehle und nahm hastig einen großen Zug aus dem Glas.
Er sagte irgendwas zu seiner Begleiterin, wandte sich um und schlenderte zu mir herüber. Vor Schreck verirrte sich der Saft in meine Luftröhre, ich verschluckte mich und hustete, spuckte in hohem Bogen in den Sand, hustete weiter und weiter. Mein Gesicht lief knallrot an. Oh Mann, wie peinlich! Alle starrten mich an. Ich schlug mir mit ganzer Kraft auf die Brust, doch davon wurde es auch nicht besser. Schließlich setzte Chris sich neben mich und schlug mir zweimal so fest auf den Rücken, dass ich beinahe von der Liege katapultiert wurde. „Hallo Rotschopf“, er grinste mich an, „tja, Wiedersehen macht Freude, was? Du brauchst vor Schreck nicht gleich zu ersticken.“ Er war offensichtlich immer noch der alte Sprücheklopfer. Hechelnd kam ich wieder zu Atem, meine Augen tränten. Chris hob erneut die Hand zum Schlag. „Soll ich noch mal?“, fragte er bereitwillig.
Abwehrend hob ich die Hände. „Um Gottes willen, nein ... du brichst mir noch alle Knochen.“ Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum und atmete ein paarmal tief durch. Dann fragte ich fassungslos: „Was zum Teufel machst du hier, Christopher?“
Er zuckte die Achseln und lächelte schief. Wenn ich genau hinsah, konnte ich die Narbe an seiner linken Schläfe erkennen, ebendort, wo vor etwa einem Jahr noch eine Platzwunde gewesen war, die er sich in jener Nacht zugezogen hatte, als er bei mir schlief. Er war irgendwie dünner geworden, gleichzeitig aber auch muskulöser. Unter seinem dünnen schwarzen Unterhemd zeichneten sich deutlich Bauch- und Brustmuskulatur ab, seine braun gebrannten Unterarme waren sehnig und sahen aus, als könnten sie ordentlich Gewichte stemmen. Sein Gesicht war schmaler geworden, wirkte nun noch kantiger, härter. Durch das raspelkurze Haar sah er ganz anders aus, noch mehr wie der Bad Boy, der er tatsächlich war. Irgendwie auch wie ein Drogendealer. Im Stillen trauerte ich seinen Locken nach. Die hatten ihn wenigstens ein bisschen verschmitzt aussehen lassen, mit dieser Kurzhaarfrisur wirkte er strenger, fast gefährlich. Hatte er sich das Haar schneiden lassen müssen, weil er modelte?
Die vollen Lippen und die schmale Nase sowie seine traumhaften braunen Augen, die bei genauerem Hinsehen an Schokopralinen erinnerten, waren unverändert. Er sah gut aus, keine Frage. Wenn auch anders als noch vor einem Jahr. Ob sich auch sein Charakter verändert hatte? Nun, selbstbewusst war er nach wie vor und ein wenig selbstverliebt, wie mir schien. Aber immerhin hatte er mich nicht ignoriert, was wohl zeigte, dass er kein kompletter Vollidiot war.
„Ich weiß, das klingt jetzt echt komisch, Rotschopf, aber ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier“, berichtete er.
„Ach“, machte ich, zog eine Braue hoch und nickte in Richtung des Mädchens, mit dem er gekommen war und das von allen möglichen und unmöglichen Typen lüstern angeschmachtet wurde. Ein Wunder, dass keinem von ihnen der Sabber runterlief. „Nicht zum Vergnügen, ja?“
Chris war meinem Blick gefolgt und grinste nur selbstzufrieden. Die Tatsache, dass alle anderen seine Freundin angafften, schien ihn nicht weiter zu stören, ganz im Gegenteil, es schien ihm sogar zu gefallen. Es erfüllte ihn wohl mit Stolz, dass so viele andere Kerle scharf auf sein Mädchen waren. Sollte einer mal die Männer verstehen. Quasi unmöglich. Ich könnte nicht so locker bleiben, wenn Horden von Mädchen meinen Freund anmachen würden.
Aber Christopher schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein, schenkte seiner Begleiterin ein strahlendes Lächeln und wandte sich wieder mir zu. „Ach, Elena? Sie ist sozusagen meine Kollegin, wir modeln zusammen.“
Fast fiel mir erneut die Kinnlade runter. Model. Klar. Was auch sonst?
Ich fühlte mich zunehmend unbehaglich, fragte mich, warum er hier so seelenruhig neben mir sitzen konnte, während seine zauberhafte Freundin, ein Model, von den anderen männlichen Anwesenden, egal, ob mit oder ohne Freundin an der Seite, geradezu mit den Augen ausgezogen wurde. Manche sahen aus, als würden sie gleich in ihren Hosen kommen, und ich fragte mich verzagt, warum Männer bloß so triebgesteuert waren. War es Timo auch so ergangen? Hatte er ein hübsches Mädchen in einer deutschen Großstadt gesehen und daraufhin einen Ständer bekommen? Gott, ich durfte gar nicht drüber nachdenken, sonst wurde mir schlecht.
„Sie ist hinreißend, oder?“ Chris klang richtig stolz.
„Wer?“, fragte ich dümmlich.
Er rollte mit den Augen. „Wer wohl? Elena natürlich.“
„Ja ... äh ...“ Nervös trank ich noch einen Schluck von meinem Cocktail, bemüht darum, mich diesmal nicht zu verschlucken. „Ja. Toller Fang, gratuliere.“
„Danke.“ Er scharte mit seinem Fuß im Sand herum und ich war mir sicher, dass er nun zurück zu ihr wollte. Nicht etwa, weil er Angst hatte, jemand könnte sie ihm wegnehmen, sondern weil es ihm hier mit mir zu langweilig wurde. Obwohl ich einerseits nicht wollte, dass er ging, hatte ich andererseits das kaum zu unterdrückende Bedürfnis, auf der Stelle das Weite zu suchen.
„Du modelst jetzt also“, brachte ich nach einigen Minuten des peinlichen Schweigens heraus.
„Hm, ja“, er fuhr sich durchs Haar, „so sieht’s aus.“
„Wie kam’s denn dazu?“
„Ach“, er versuchte, locker abzuwinken, doch an seinem Lächeln erkannte ich, dass er sich einiges darauf einbildete, „ich wurde entdeckt. Quasi.“
„Aha. Quasi“, wiederholte ich verständnislos und trank noch einen Schluck. Ich schmeckte nichts, meine Zunge war wie gelähmt. „Wie wird man denn quasi entdeckt?“
„Hm, tja.“ Er zupfte an einem Silberkettchen herum, das er ums Handgelenk trug, und blickte zu Boden, die Arme hatte er auf den Unterschenkeln aufgestützt. Das alles kam mir so unwirklich vor. „Ich war shoppen. In Berlin, da wohn ich jetzt, weißte. Da kam plötzlich so ’ne Frau auf mich zu, ’ne richtig scharfe Blondine, die mir mitteilte, sie würde in einer Werbeagentur arbeiten und wäre gerade auf der Suche nach einem männlichen Model für ’ne Duschgelwerbung. Tja, sie meinte, sie hätte auf den ersten Blick erkannt, dass ich wie geschaffen dafür sei. Ich hätte den perfekten Körper und das perfekte Gesicht.“
Er grinste ekelhaft selbstverliebt und ich konnte mir nicht verkneifen, sarkastisch zu bemerken: „Tja, ein Wunder, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen ist beim Anblick von so viel Perfektion, du Adonis.“ Ich hatte das nicht so schroff sagen wollen, aber irgendwie nervte mich dieses arrogante Grinsen. Der Typ meinte wirklich, er wäre supertoll. Ich musste ihn einfach ein bisschen ausbremsen.
Chris nahm es, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, gar nicht ernst, sondern lachte nur feixend. „Es gibt genug Mädels, die meinetwegen ohnmächtig werden, glaub mir. Na ja, da muss man durch, wenn man modelt.“ Er sagte das, als gäbe es nichts Schlimmeres, als mit gutem Aussehen reihenweise Mädchen in die Ohnmacht zu treiben. „Jedenfalls bin ich mittlerweile ’ne ziemlich große Nummer in Deutschland, das Ganze geht jetzt circa fünf Monate. Seit einer knappen Woche bin ich hier, weil ich bei ein paar Castings mitgemacht hab, und nächste Woche hab ich noch mal eins.“
„Ach“, sagte ich interessiert. „Und? Wie lief’s bisher? Wurdest du gebucht?“
„Nee, ich sah denen einfach zu gut aus“, behauptete Chris cool und unberührt wie immer und setzte sich, wenn überhaupt möglich, noch breitbeiniger hin. Er fuhr sich erneut durchs Haar und schien sich zu wundern, dass er nur noch kurze Strähnen zu fassen bekam, so als hätte er kurzzeitig vergessen, dass er eine neue Frisur hatte. Dann grinste er mich breit an und erklärte: „Aber nächste Woche werde ich alle umhauen, den Job will ich, das hab ich mir fest vorgenommen.“
„Worum ging’s denn in den bisherigen Castings so?“, fragte ich neugierig.
Kurz sah es so aus, als würde sich Chris’ Miene verdüstern, doch schließlich gab er mir eine Antwort: „Ach, nur um so ’ne Fotostrecke für Modemagazine, das war eh nicht so wichtig. Nächste Woche geht’s ums Ganze, ein Sportmagazin sucht einen Mann für ’ne Fotostrecke, es soll ums Surfen und Segeln gehen.“
„Ach.“ Ich guckte überrascht. „Kannst du denn surfen? Oder segeln?“
„Klar.“ Er räusperte sich und fügte kleinlaut hinzu: „Kann ja nicht so schwer sein.“
„Aber Chris“, ich lachte ihn aus, „meinst du nicht, die Leute von dem Magazin hätten lieber jemanden, der diese Sportarten beherrscht? Ich meine, was sollen sie denn fotografieren, wenn du dich nicht mal zwei Sekunden lang auf einem Surfbrett halten kannst und keine Ahnung hast, wie man ein Segel hisst?“
Nun klang er gereizt: „Also, wenn so ein unterbelichteter Schwachkopf wie dein Freund das hinkriegt, kann ich das schon lange. Außerdem geht’s gar nicht so sehr ums Talent. Schau dir doch mal meinen Body an.“ Er stand doch tatsächlich auf und deutete auf seinen Oberkörper, hob sogar das Unterhemd leicht an. Ein paar Mädels quiekten begeistert.
„Denkst du, das reicht?“, zweifelte ich. Aggressiv funkelte er mich an. In meinem Kopf dröhnten noch immer seine Worte. Schließlich fragte ich: „Wie kommst du darauf, dass Timo surfen kann?“
„Ach“, er machte eine rüde Geste, „warum sollte er sonst so ’ne bescheuerte Surferfrisur tragen? Er ist der typische Wellenreitertyp. Kein Mensch legt sich so ’nen Topfschnitt zu, wenn er nicht damit prahlen will, dass er surft.“
Das, was er da sagte, ergab keinen Sinn. Aber was Christopher Waldoff so von sich gab, war ohnehin eher selten intelligent.
„Du bedienst wirklich das Klischee des dummen Models, das nur affig in die Kamera grinst und blöd im Weg rumsteht“, fauchte ich ihn an. „Der Job passt zu dir. Da braucht man kein Hirn, sondern nur Sexappeal. Weißt du was, am besten rufst du Olivia an, die würde auch super in diese Branche passen.“
„Pah“, Chris schnaubte abfällig, „denk doch, was du willst. Ich jedenfalls finde meinen Job geil. Ich finde mein Leben geil. Und von einer untervögelten Tussi wie dir muss ich mir sicher keine Vorträge anhören. Wenn man keinen Sexappeal hat, muss man sich halt auf sein Hirn verlassen, das tut mir leid für dich ...“
Weiter kam er nicht, denn ich holte aus und schüttete ihm den Rest meines noch halb vollen Drinks ins Gesicht. Dann sprang ich auf, riss meine Handtasche an mich und stürmte an ihm vorbei, wobei ich ihn absichtlich anrempelte. „Du bist und bleibst ein Arschloch, Waldoff!“, schluchzte ich und ärgerte mich über mich selbst, weil mir Tränen über die Wangen kullerten. Die Jungs johlten, klatschten und riefen irgendwas auf Spanisch, das Model, mit dem Chris hier war, meldete sich besorgt zu Wort und die ganze Strandbar war in Aufruhr. Ich stapfte indes mit gesenktem Blick hinüber zum Tresen, wo eine mitleidig dreinblickende Bedienung mit schwarzen Locken mich abkassierte. Piepsig wünschte ich ihr eine gute Nacht, ehe ich wie ein begossener Pudel davonstolperte. Von den Liegen drangen noch immer Pfiffe und Rufe zu mir herüber, doch ich stellte die Ohren auf Durchzug und beschleunigte meine Schritte.
„Wenn man keinen Sexappeal hat, muss man sich eben auf sein Hirn verlassen ...“
„Von einer untervögelten Tussi wie dir muss ich mir keine Vorträge anhören ...“
Wie in Endlosschleife reihten sich Chris’ gehässige Bemerkungen aneinander, geisterten in meinem Kopf herum und hinderten mich am Einschlafen. Seit Stunden lag ich wach, mittlerweile war es halb zwei vorbei. Ich wusste nicht mal, warum mich diese Sprüche so sehr mitnahmen, schließlich hatte ich immer gewusst, dass Chris ein Arschloch war. Früher hätte ich auf seine Meinung von mir gepfiffen. Ich war ein Jahr allein umhergereist und mit allem fertig geworden, doch jetzt kam dieser Idiot daher und zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Vielleicht war ich unterbewusst tatsächlich so naiv gewesen zu glauben, wir wären so was wie Freunde. Vielleicht hatte ich wahrhaftig angenommen, die gemeinsame Nacht hätte irgendwas zwischen uns verändert, hätte uns irgendwie zu Vertrauten gemacht. Aber Fehlanzeige. Für ihn war ich nach wie vor die frigide Streberin aus der ehemaligen Parallelklasse.
Ich rappelte mich schniefend auf, knipste die Nachttischlampe an, tastete mit geschlossenen Augen nach dem Handy und hoffte so sehr, dass eine SMS von Timo eingetrudelt war, hoffte, dass er einen Schritt auf mich zumachte, mir sagte, dass es ihm leidtäte und wir noch mal in Ruhe über alles reden sollten, wenn ich wieder da wäre.
Aber nichts. Keine neue Nachricht.
Ich hörte zum wiederholten Mal meine Mailbox ab, doch die Ansage war unmissverständlich: „Sie haben keine neuen Nachrichten ... zum Hauptmenü zurück ...“
Ich drückte den roten Knopf und sank zurück aufs Kissen. Mein Kopf tat weh und meine Augen brannten vom stundenlangen Weinen. Der Tag heute hatte es wirklich in sich gehabt. Erst der Streit mit Timo, dann der Abschied von Kim und zum Schluss auch noch diese Auseinandersetzung mit Chris. Inzwischen bereute ich, dass ich die Nerven verloren hatte. Ich hätte ihn nicht als dumm darstellen sollen, das war nicht fair gewesen. Alles in allem betrachtet, hatte eigentlich ich den Streit vom Zaun gebrochen, schließlich hatte ich ziemlich gemein darauf herumgehackt, dass er weder surfen noch segeln konnte. Auch wenn das stimmte, ging es mich eigentlich nichts an. Warum musste ich mich nur immer in alles einmischen?
Zehn Minuten später lag ich immer noch wach, war mittlerweile sogar hellwach und fragte mich, ob ich wohl jemals wieder würde schlafen können. Irgendwie war ich unruhig, eine hibbelige Nervosität hatte sich meiner bemächtigt, meine Füße zuckten ständig unter der leichten Decke und ich konnte nicht still liegen bleiben.
Ich entschied, Timo eine SMS zu schreiben und dann ein bisschen runter an den Strand zu gehen. Wasser beruhigte und vielleicht würde der Blick aufs Mittelmeer Klarheit in mein innerliche Chaos bringen.
Bisher hatte ich eigentlich nicht vorgehabt, mich bei Timo zu melden. Ich hatte warten wollen, ob was von ihm kam, ansonsten war mein Plan gewesen, nach meiner Rückkehr in Frieden mit ihm zu reden und vielleicht sogar Schluss zu machen. Doch in diesem Moment war das ein so erschreckender Gedanke, dass er mir regelrecht Angst einjagte. Mich von Timo zu trennen, wäre etwas so Endgültiges, so Einschneidendes. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, ihn nicht mehr in meinem Leben zu haben. Wir hatten zusammen so viele Pläne geschmiedet, ohne ihn hatte ich keine Richtung mehr, keinen Antrieb.
Ich biss mir auf die Unterlippe, öffnete eine leere SMS-Seite und begann, eifrig zu tippen.
Lieber Timo! Unser dummer Streit tut mir wahnsinnig leid. Ich hätte nicht so auf dich losgehen und dich beleidigen sollen. Das war falsch, ich weiß. All die Dinge, die du mir an den Kopf geworfen hast, ich glaube keine Sekunde lang, dass du das ernst gemeint hast, weil dir sicherlich klar ist, dass ich das, was ich gesagt habe, ebenfalls nicht so meinte. Ich würde dir niemals so wehtun, dafür bist du mir viel zu wichtig. Du magst es vielleicht vergessen haben, aber ich erinnere mich genau an all das, was noch im letzten Jahr zwischen uns war. Du sollst wissen, wie viel es mir bedeutet hat. Ich weiß, dass ich dir mit dem, was ich vorhin gesagt hab, sehr wehgetan habe, und ich nehme alles zurück und möchte mich ehrlich und aufrichtig bei dir entschuld...
Mittendrin hielt ich inne. Mit einem Mal fragte ich mich, was ich hier überhaupt tat. Wollte ich Timo wirklich mitten in der Nacht eine rührselige Nachricht schicken? Wollte ich, dass er mich morgen anrief und wir über alles redeten, uns wieder versöhnten?
Mir wurde klar, dass ich es nicht wusste. Außerdem ging mir auf, dass ich all das, was ich in die SMS geschrieben hatte, eigentlich gar nicht Timo sagen wollte, sondern Chris. Es war wirklich zum Mäusemelken.
„Schluss mit dem Blödsinn, Edda“, wies ich mich selbst streng zurecht, schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in eine graue Strickjacke, stieg in meine Flipflops, stopfte meinen Zimmerschlüssel in die hintere Hosentasche meiner schwarzen Schlafshorts und machte mich auf den Weg zum Strand.
Die Flure waren dunkel, lediglich am Treppenaufgang leuchtete ein schwaches Licht. Da ich nicht allzu viel Aufsehen erregen wollte, huschte ich im Stockfinsteren umher, stieß mir mehrfach den Kopf und die Zehen, fluchte leise und schaffte es schließlich durch die Glastür im hinteren Bereich der Anlage, durch die man nur mit Hotelkarte wieder hineinkam.
Ich schlenderte einen kleinen Weg entlang, überquerte das Gelände mit dem riesigen Spielplatz, den Bootsanlegestellen und dem Schuppen für die Sportgeräte und erreichte schwer atmend den Weg runter zum Meer. Ich blieb stehen, um mir die Schuhe auszuziehen, denn durch die Reibung zwischen dem großen und dem nebenstehenden Zeh entstand bereits eine Blase im Zwischenraum, das musste wirklich nicht auch noch sein.
Mit den Flipflops in den Händen hopste ich leichtfüßig hangabwärts, die Sterne leuchteten vereinzelt silbrig am dunklen Nachthimmel und der Salzgeruch des Meeres wehte als frische Brise um meine Nase.
Kaum erhaschte ich den ersten Blick auf das friedlich daliegende Wasser, spürte ich, wie ich ruhiger wurde, mich entspannte. Mein Herzschlag normalisierte sich, der innere Aufruhr legte sich.
Langsam ging ich aufs Wasser zu, lief ein Stück hinein. Das Nass umspielte sanft meine Knöchel, ich planschte darin herum, wackelte mit den Zehen, legte den Kopf in den Nacken und blickte lächelnd zum Himmel empor. Ich dachte an Südafrika und verspürte einen Stich in der Herzgegend. Einen bittersüßen Schmerz. Wehmütig dachte ich an das halbe Jahr zurück, das ich dort hatte verbringen dürfen. Nirgends war der Sternenhimmel so schön wie über Afrika. Grenzenlose Weite. Ein endloses Himmelszelt.
Ich dachte an das, was Tayo mir gesagt hatte, als wir uns im Februar verabschiedet hatten: „Denk immer dran, Edda, egal, wo wir sind, egal, wie weit wir voneinander entfernt sind, wir schauen alle in den gleichen Himmel. Es gibt nur einen und in ihm sind wir alle vereint.“
Ich setzte mich, blickte hinauf zu den Sternen, in den einen Himmel, in dem wir alle vereint waren, dachte an Tayo, Südafrika, meine tolle Zeit dort, all die Erinnerungen und weinte ein bisschen, weil ich gerade eben sehr emotional war. Ich weinte, weil ich Südafrika vermisste, weil ich Tayo und all meine anderen Freunde vermisste, weil Timo und ich uns wahrscheinlich trennen würden, weil Kim nach Bayreuth zog, weil Chris und ich uns gestritten und einander beleidigt hatten. Und ich weinte, weil alles mal zu Ende ging, egal, wie schön es war, und egal, wie sehr man sich wünschte, es würde für immer bleiben.
Ich schluchzte leise und sah zurück aufs Meer. Die Wellen schlugen schäumend an den Strand, umspülten meine Füße und ich dachte, dass manche Dinge doch für immer blieben. Ebbe und Flut zum Beispiel. Es gab sie seit Anbeginn der Zeit und es würde immer so sein. Irgendwie tröstlich. Kim und ich würden für immer beste Freundinnen bleiben, da war ich mir sicher. Egal, wo sie war oder wo ich war. Ich würde meine Eltern immer lieben und sie mich. Und Timo und ich würden uns immer irgendwie nah sein, weil wir eine gemeinsame Geschichte hatten. Weil er meine erste große Liebe gewesen war.
Ging es nicht vielleicht auch darum ‒ dass man sich an das erinnerte, was man gehabt hatte, nicht traurig und verzweifelt, weil es vorbei war, sondern froh und dankbar, weil man es hatte erleben dürfen? Die Vergangenheit konnte uns keiner mehr nehmen, die Erinnerungen gehörten für immer uns. Sie konnten uns halten, trösten, beschützen, zum Lächeln bringen, wenn die Gegenwart keinen Grund zum Lächeln bot.
Waren es nicht auch die Menschen unserer Vergangenheit, die uns prägten, die uns zu dem machten, der wir schlussendlich waren? Und es waren Abschiede, die uns stärker machten, uns reifen ließen. Klar, alles war vergänglich, aber Erinnerungen währten für immer. Sie waren unendlich wertvoll. Wir sollten nie aufhören, neue Erfahrungen zu sammeln, neue Menschen kennenzulernen aus Angst, sie eines Tages wieder zu verlieren. Denn darum ging es im Leben: ums Weitermachen. Darum, etwas zu riskieren, mutig zu sein, dem Gefühl zu vertrauen, nicht immer nur dem Verstand. Nicht immer vernünftig zu sein.
„Hey, Rotschopf. Darf ich mich setzen?“
Noch ehe ich Zeit hatte, mich von dem Schreck zu erholen, ließ Chris, der mich kurz an der Schulter berührt hatte, sich neben mir nieder und sah hinaus aufs Meer. Nach wie vor spritzten die Wellen mit weißen Schaumkronen an den Strand und sickerten in den weichen Sand. Minutenlang hockten wir stumm nebeneinander, keiner wagte es, überhaupt richtig zu atmen.
Dann sagten wir beide gleichzeitig: „Tut mir leid wegen vorhin ...“ Ich stockte, er stockte und wir kicherten beide hysterisch los und kriegten uns gar nicht mehr ein.
Nach minutenlangem Gegacker beruhigte ich mich allmählich, wischte mir verstohlen die Tränen vom Gesicht und hoffte, dass die Dunkelheit mein total verquollenes Gesicht kaschierte.
„Also, noch mal“, begann Chris mit ungewöhnlich sanfter Stimme, „es tut mir leid wegen vorhin. Ich hab da ein paar Sachen gesagt, die nicht in Ordnung waren. Sorry, echt, ich wollte dich nicht verletzen. Ich bin halt nach wie vor ein Arschloch.“
Ich musste lachen, es klang allerdings mehr wie ein zittriges Schluchzen. Beschämt hielt ich mir eine Hand vor den Mund und versuchte, mich wieder zu fangen. Chris musterte mich besorgt, schien über irgendwas nachzugrübeln, ehe er mir schließlich die Hand auf die Schulter legte, woraufhin mein Herz einen aufgeregten Hüpfer machte.
„Edda“, sagte er beschwichtigend, „es ist doch alles wieder okay, oder? Ich hab mich entschuldigt und ich hab das auch ernst gemeint, ehrlich.“
„Ich weiß, ich ... ist schon okay, Chris.“ Ich atmete zittrig ein und beruhigte mich so weit, dass ich mit normaler Stimme sprechen konnte: „Also, okay, ich nehme deine Entschuldigung an.“
Er grinste spitzbübisch. „Sehr großzügig von dir. Ich hätte es nicht ertragen, wenn du mir nicht verziehen hättest.“ Er schaffte es tatsächlich, zerknirscht auszusehen.
Ein echtes Lachen entfleuchte mir, diesmal eindeutig kein Weinen. Ich schätzte, nun war ich an der Reihe, vor ihm zu Kreuze zu kriechen. Seine Hand lag noch immer auf meiner Schulter, die angenehm kribbelte, eine behagliche Wärme breitete sich von dort in meinem ganzen Körper aus.
Ich beschloss, ihn nicht daran zu erinnern, dass ich keinen Trost mehr brauchte, räusperte mich und verkündete: „Tja, ich schätze, dann bin jetzt wohl ich an der Reihe. Also, ich möchte mich auch bei dir entschuldigen, Chris. Das, was ich gesagt hab, hab ich nicht so gemeint. Ich meine die Sache mit dem Model-Klischee und dass du es voll erfüllst ... das war natürlich Schwachsinn. Du bist weder dumm noch affig. Und es ist nicht so schlimm, dass du weder surfen noch segeln kannst.“
„Das kann ich lernen“, ergänzte Chris gut gelaunt und zog nun leider doch seine Hand zurück, stattdessen legte er sie in seinen Schoß. „Das ist im Übrigen die Antwort auf alles im Leben, Edda: Ich kann’s lernen. Schluss mit der Ausrede: Das kann ich nicht. Denn man kann alles lernen.“
„Sehr weise“, meinte ich ehrlich beeindruckt und hoffte, dass er es nicht als Ironie missverstand.
Chris zuckte die Achseln. „Tja, man lernt so einiges, wenn man in der Welt unterwegs ist, weißt du.“ In der Welt unterwegs ... das hörte sich schön an.
„Wieso, wo warst du denn so unterwegs?“, wollte ich neugierig wissen.
„Na ja.“ Er rieb sich den Nacken, das war, wie ich mittlerweile erkannt hatte, ein Zeichen dafür, dass er etwas verlegen oder beschämt war. „Bisher hauptsächlich in Deutschland, leider. Ich bin aber fest entschlossen, den internationalen Weg einzuschlagen, weißt du. Anfangs war ich nur das Werbegesicht der Kampagnen von ein und derselben Werbeagentur, aber mittlerweile hat sich das geändert. Also, ich habe jetzt einen Manager und eine Agentur und starte so richtig durch. Das bisher war nur der Anfang, weißt du. Mit Joachim, das ist mein Manager, hab ich die Chance, es ganz weit zu bringen. Er meinte, ich wäre sowohl für Commercial geeignet als auch für Editorial. Kurzum, ich bin sowohl in der Lage, mich vielseitig zu zeigen und mich zu wandeln, als auch, mich zu verkaufen. Ich hab’s einfach drauf!“ Er grinste verwegen.
Ich musste ebenfalls lächeln. „Wie gut, dass du bei all deinem Talent so gar nicht eingebildet geworden bist“, meinte ich amüsiert.
Chris zuckte die Achseln. „Eingebildet war ich schon immer, es ist nur noch schlimmer geworden“, scherzte er unbekümmert.
Tja, diese Charaktereigenschaft war wohl nicht mehr wegzudenken. Und irgendwie passte dieses leicht Überhebliche auch zu ihm.
„Na ja, ich hatte mal einen kleinen Auftritt in der Schweiz, bei einer Fotostrecke für Pralinen, das war ziemlich cool. Da ging’s heiß her zwischen den Ladys und mir. Beinahe hätte der Regisseur vergessen, die Praline mit ins Spiel zu bringen.“ Minutenlang saß Chris gedankenverloren da, ehe er mit rauer Stimme weitersprach: „Das hier in Barcelona ist meine erste richtig große Chance, Rotschopf. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diesen Job will. Und was für einen Schiss ich hab, dass ich’s vermassle.“
Wow, so viel Kampfgeist hätte ich ihm gar nicht zugetraut. In der Schule hatte er immer den Eindruck erweckt, ihm wäre alles scheißegal. Das Modeln musste ihm wirklich wichtig sein. Ich wusste, dass es nicht einfach war, in diesem Business Fuß zu fassen, und dass gutes Aussehen allein bei Weitem nicht ausreichte. Ich drückte Chris beide Daumen, dass er den Sprung schaffen würde. Es war schön, dass er etwas gefunden hatte, das ihm Spaß machte, ihn ausfüllte, etwas, in dem er gut war.
„Ich beneide dich richtig“, teilte ich ihm mit, „es muss schön sein, wenn man weiß, was man mit seiner Zukunft anfangen möchte, wenn man einen bestimmten Weg eingeschlagen hat und den dann auch geht.“
„Hm, ja“, sagte Chris vorsichtig, „aber ich glaub nicht, dass ich für immer Model sein werde. Wenn man älter wird, ist man ganz schnell raus aus dem Geschäft, weißt du. Keiner will faltige Opis in der Werbung sehen. Ich werde einfach in jungen Jahren so viel Kohle wie möglich machen, damit ich mich anschließend zur Ruhe setzen und mein Leben genießen kann. So lautet bisher der Plan.“ Er sah mich von der Seite an. „Wie sieht deiner aus, Miss Einserabschluss, irgendwelche konkreten Pläne in Sicht? Willst du die Weltherrschaft an dich reißen, ’ne Zeitkapsel bauen oder so?“
„Ach, Unsinn.“ Ich verpasste ihm reflexartig einen Klaps auf den Arm. „Du überschätzt mich maßlos, Waldoff.“
„Du schlägst wie ein Mädchen“, erwiderte er grinsend und rückte etwas näher an mich heran. Meine Nackenhärchen und die Haare an meinen Armen richteten sich kerzengerade auf, heiße Schauer jagten mir den Rücken hinunter. Ich schluckte nervös und fragte mich, warum Chris eine solche körperliche Reaktion bei mir auslöste. Es behagte mir ganz und gar nicht.
„Mal im Ernst, Edda, was willst du machen? Politik? Wissenschaft? Wirtschaft?“
„Warum denkst du eigentlich, dass ich so etwas machen will?“, fragte ich. „Was sagt dir, dass ich nicht eher in eine künstlerische Richtung will ‒ Musik, Kunstgeschichte, kreatives Schreiben ...“
„Hm, tja“, Chris zuckte die Achseln, „so hätte ich dich eben nicht eingeschätzt. Aber ich kenn dich ja auch nicht richtig.“ Das stimmte allerdings, ich wunderte mich insgeheim, dass er überhaupt hier neben mir saß.
„Um ehrlich zu sein“, ich seufzte frustriert, „weiß ich noch nicht, wie’s mit mir weitergehen soll. Keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen soll. Kunst, Musik, Wirtschaft ... was weiß ich?“ Hilflos fuchtelte ich mit den Händen in der Luft herum. „Es gibt einfach so viele Möglichkeiten, weißt du, und ich bin mir einfach nicht sicher. Ich habe keine Lust, etwas anzufangen, das ich dann wieder abbreche, weil mir mitten im Semester aufgeht, dass es doch nicht das ist, was ich für den Rest meines Lebens tun will. Außerdem fehlt mir momentan echt die Motivation, Bewerbungen zu schreiben, geschweige denn mir Gedanken um den richtigen Beruf zu machen. Weißt du, dieses eine Jahr, das hinter mir liegt, war so wunderbar ungeordnet, spontan, aufregend, chaotisch ... Ich hatte Spaß, alles war möglich, nichts war festgefahren. Es war anders, es war neu, es war wie ... wie Urlaub vom Leben.“
Ich berichtete ihm von meinem Jahr, von Südafrika und Neuseeland, von Tayo und Jala, Philipp und Miriam und all den anderen, von den Erlebnissen dort und den Erfahrungen, die ich gesammelt hatte. Während ich erzählte, erlebte ich alles noch einmal und fühlte mich zum ersten Mal an diesem Tag beinahe glücklich. Als ich endete, schlich sich ein Lächeln auf Chris’ Gesicht.
„Was?“, wollte ich wissen.
„Na ja“, er sah mich direkt an, „das klingt, als hättest du echt viel Spaß gehabt.“
„Tja, das hatte ich auch“, stimmte ich zu. „Es war ein tolles Jahr, das mich sehr geprägt hat, ich glaube, ich habe mich weiterentwickelt. Aber weißt du, nun glaube ich, dass es an der Zeit ist, etwas zu bewegen. Ich meine, dafür sind wir doch alle hier, oder? Auf der Erde, meine ich. Dafür leben wir. Um etwas zu bewegen, zu ändern, die Welt ein Stückchen besser zu machen, indem wir ... keine Ahnung, Bedürftigen helfen, Unschuldige beschützen, gegen Krieg, Hungersnot und Unterdrückung kämpfen.“ Ich ballte die Fäuste und sah Chris mit blitzenden Augen an. „Ich meine, ich fühle mich so ... so ... verantwortlich, weißt du? Verantwortlich für die Zukunft, für die Menschen, für alles eigentlich. Ich meine, wenn man sich mal anschaut, was allein in diesem Monat schon wieder alles passiert ist ... schrecklich! In Jakarta ist eine Autobombe explodiert, hast du das gelesen? Zwölf Menschen sind dabei ums Leben gekommen, zwölf! Bei diesem Anschlag auf das UNO-Hauptquartier in Bagdad hat es auch Tote gegeben. Es gab einen weiteren Autobombenanschlag, bei dem der geistliche Führer der Schiiten im Irak getötet wurde. Ich meine, hast du dir mal überlegt, was das für Auswirkungen nach sich ziehen wird?“
Chris sah reichlich bedröppelt drein. „Ehrlich gesagt, Edda“, er räusperte sich und kratzte sich am Kinn, „hab ich das alles nicht so richtig verfolgt. Ich meine, klar hab ich davon gehört, es hat mich betroffen gemacht, aber was sollen wir als Normalbürger groß dagegen tun?“ Er hob in einer kapitulierenden Geste die Hände. „Wir haben erstens viel zu wenig Ahnung von dem, was da draußen abgeht, zweitens haben wir zu wenig Macht, um die entscheidenden Hebel in Bewegung zu setzen.“
„Und drittens?“, fragte ich bitter.
„Was, drittens?“, fragte er verständnislos.
Ich rollte mit den Augen. „Na, du hast erstens und zweitens gesagt, meistens gibt’s dann auch ein Drittens.“
„Bei mir nicht“, entgegnete Chris entschieden. „Nur diese zwei Dinge wollte ich sagen.“
„Ah ja“, ich hob eine Braue, „aber wenn jeder so denken würde, wäre die Welt längst im Chaos versunken. Ich meine, es gibt so viele Menschen, die sich einsetzen, demonstrieren, protestieren, verhandeln. Ich weiß nicht, irgendwas muss man doch tun können.“ Wie so oft, wenn ich darüber nachdachte, was in der Welt alles schieflief, konnte ich dem Bedürfnis nicht widerstehen, mir die Haare zu raufen. Da draußen herrschten Mord und Totschlag und ich machte mir schöne Stunden am Strand. Obwohl es völlig unsinnig war, sich deshalb Vorwürfe zu machen, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Weil ich herumsaß und nichts unternahm, während sich andere die Köpfe einschlugen und einander in die Luft sprengten. „Vielleicht sollte ich in die Politik gehen“, überlegte ich laut, „da hätte ich sicher einige Möglichkeiten, auf das Weltgeschehen Einfluss zu nehmen. Zumindest mehr als jetzt.“
„Edda“, unterbrach Chris meinen Gedankengang sanft und griff doch tatsächlich nach meiner Hand, woraufhin sämtliche Zukunftspläne von der Rettung der Welt weit in den Hintergrund rückten. Mein Herz raste, obwohl ich es nicht darum gebeten hatte, und auch mein Puls spielte völlig verrückt. Was war das nur, dass mein Körper so voller Begeisterung auf Chris reagierte? Wo ich ihn doch eigentlich gar nicht ausstehen konnte.
„Du hast ja recht mit allem, was du sagst, es ist schlimm, was passiert, man muss was dagegen unternehmen, man muss gegen viele Dinge was unternehmen. Aber wenn du alles auflistest, was zur Rettung der Welt getan werden müsste, sitzen wir in hundert Jahren noch hier. Ach was, das wird nicht mal reichen. Worauf ich hinauswill ist: Du bist noch so jung, Rotschopf. Verdammt, bist du überhaupt schon volljährig? Wie auch immer, du hast dein ganzes Leben vor dir, du kannst noch so viel tun, so viel erleben, du kannst die Welt durchaus retten, aber nicht gleich im Ganzen. Fang klein an. Kauf ’nem Obdachlosen ein Frühstück oder so, keine Ahnung ... Edda, was ich sagen will ist, dass du die Zeit jetzt, solange du jung bist, nutzen solltest, um Spaß zu haben und deinen Horizont zu erweitern. Du solltest dich ausprobieren, sehen, was es alles für Möglichkeiten gibt. Ich finde es total lächerlich, dass von uns erwartet wird, uns so jung schon für irgendeinen Beruf zu entscheiden, etwas, das wir unser Leben lang machen müssen. Wie sollen wir das bitte schön entscheiden? Wir kennen noch nichts von der Welt, stehen gerade mal am Anfang unseres Lebens, haben kaum die Schule hinter uns, schon will man uns in Arbeitskleider stecken, uns Steuern abknöpfen und uns schuften lassen. Ich sehe das gar nicht ein. Nein, du solltest reisen, Edda, Party machen, relaxen, Sex haben ...“
Bei seinen letzten Worten wurde ich puterrot und war ein weiteres Mal froh, dass es so dunkel war. Warum zum Teufel sprachen wir jetzt über Sex? War das Taktik oder Zufall? Du liebes Lieschen!
„Sag mal“, Chris klang ehrlich interessiert, „bist du immer noch mit diesem komischen Blonden zusammen?“
„Äh ... du meinst Timo?“, stotterte ich wenig eloquent und wusste nicht, wohin mit meinen Händen, die fahrig und desorientiert in der Luft herumwedelten.
„Ja, den meine ich“, bestätigte Chris, „oder gab es zwischenzeitlich mal ’nen anderen?“
„Nein, um Himmels willen, wofür hältst du mich? Nein, gab es nicht.“
„Also bist du noch mit ihm zusammen, ja?“
„Äh, ja. Das heißt, nein. Ich meine, ja ...“ Ich war völlig durcheinander, das Gespräch verlief in eine Richtung, die ich nicht vorhergesehen hatte. „Also, ich weiß nicht so genau, um ehrlich zu sein“, versuchte ich mein grenzdebiles Gestammel zu erklären. „Wir haben nicht so richtig Schluss gemacht, aber wir haben uns ein Jahr nicht mehr gesehen und ... keine Ahnung, ich schätze, wir sind so halb getrennt. Also, fast. So gut wie.“ Was faselte ich da nur für einen hirnverbrannten Stuss? Chris kam sich sicher vor, als würde er mit einer vollkommenen Idiotin reden.
Er betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. Überlegte er schon, ob er den Pfleger mit der Zwangsjacke rufen sollte? Himmel, war das alles peinlich.
„Soll das heißen, du hast ein Jahr keinen Sex gehabt und außer mit diesem Vogel überhaupt noch mit niemandem geschlafen?“
Meine Ohren glühten und ich fragte mich, was das jetzt sollte. Chris musterte mich ungläubig und ich beschloss, dass Angriff immer noch die beste Verteidigung war. „Sag mal, geht’s noch, was geht denn dich das an?“, blaffte ich und hoffte, dass ihm das leichte Zittern in meiner Stimme nicht auffiel.
Chris zuckte locker die Achseln. „Nichts, schätze ich. Hat mich einfach interessiert, mehr nicht. Ist ja auch nichts dabei. Wenn du willst, erzähle ich dir, mit wie vielen Mädchen ich schon Sex hatte.“
„Ach herrje“, lehnte ich dankend ab, „da brauchen wir ja zwei Jahre, bis du die alle aufgelistet hast. Ich verzichte lieber. Um ehrlich zu sein, bin ich doch ein bisschen müde, passiert mir immer, wenn ich zu lange aufs Wasser schaue.“ Ich gähnte demonstrativ.
Chris grinste blöde. „Du willst dich drücken, hm? Du prüdes Hühnchen.“
Für diesen Spruch bekam er erneut einen harten Fausthieb gegen den Oberarm, diesmal verzog er immerhin das Gesicht, rieb sich die schmerzende Stelle und zog mich nicht auf.
„Ich bin nicht prüde, Waldoff, nur weil ich mein Sexleben nicht hier vor dir ausbreite.“ Mein nicht vorhandenes Sexleben, wohl bemerkt ... „Im Übrigen gehe ich jetzt in die Heia, ich bin hundemüde. Gute Nacht.“ Ich stand auf, klopfte mir den Sand vom Hintern und fragte mich, ob ich gerade ernsthaft gesagt hätte, ich würde in die Heia gehen. Gott im Himmel, ging es noch peinlicher?
„Hey, Rotschopf, jetzt renn nicht gleich weg. Ganz im Ernst, ich find’s cool, dass du noch mit deinem Schultütenfreund gehst, echt. Ist ziemlich ungewöhnlich. Die meisten Mädels in deinem Alter lassen’s ordentlich krachen, weißt du.“ Er sah mich nachdenklich an, so als würde er überlegen, ob mit mir vielleicht was nicht stimmte. Dann lächelte er. „Aber du bist eben kein leichtes Mädchen, das finde ich gut. Gib dich nicht für jeden Kerl her, das hast du nicht nötig. Doch wenn du’s genau wissen willst, ich bin der Meinung, dass du diesen komischen Surferkauz in den Wind schießen solltest, Rotschopf. Der passt nicht zu dir.“
„Vielen Dank für diese kostenlose Beziehungsanalyse“, entgegnete ich, halb belustigt, halb genervt, weil er sich einmischte, obwohl er weder Timo noch mich richtig kannte. Aber manchmal hatten Außenstehende einen ganz anderen Blick auf bestimmte Situationen.
„Im Ernst, du bist noch so jung. Und du siehst ganz passabel aus. Du solltest mal deine Fühler ausstrecken und auch anderen Jungs eine Chance geben, Rotschopf. Ich glaube jedenfalls nicht, dass dein sauberer Freund ein ganzes Jahr lang abstinent war.“
Obwohl ich genau das auch nicht glaubte, fühlte ich mich angegriffen und wollte Timo in Schutz nehmen. „Du wirst es nicht für möglich halten, Waldoff, aber es soll Männer geben, die ihre Freundinnen so sehr lieben, dass sie ihnen treu bleiben“, blaffte ich. „Aber klar, du kannst dir das wohl nicht vorstellen.“
Chris blieb unbeeindruckt. „Du brauchst nicht gleich grantig zu werden, Rotschopf. Das war lediglich meine Meinung.“
„Also, erstens interessiert mich deine Meinung einen Scheiß!“, rief ich aufbrausend. „Und zweitens: Nenn mich nicht ständig Rotschopf, Himmel noch mal, ich heiße Edda!“
„Und drittens?“, fragte er ruhig.
„Was, drittens?“, schnauzte ich ihn an.
Er stand ebenfalls auf und klopfte sich die Hose sauber. Das Mondlicht strahlte ihn von hinten an, spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, silbriges Licht fiel auf Christopher, erleuchtete ihn und einen absurden Moment lang kam ich mir vor wie die Prinzessin in einem Märchen, die gerade ihren Prinzen gefunden hat. Fehlten nur noch springende Delfine im Hintergrund. Mühsam widerstand ich dem Drang, einen Schritt auf ihn zuzugehen und mich in seinen Augen zu verlieren, wie ich es vor einem Jahr schon mal getan hatte.
„Du hast vorhin gemeint, auf erstens und zweitens folgt immer drittens“, erklärte Chris mit kehliger Stimme und legte den Kopf leicht schräg. „Was ist denn dein Drittens?“
Oh Gott, warum war er mir so nahe? Warum war mir auf einmal so heiß?
Zwischen uns knisterte es, eine zischende Spannung drohte sich jeden Augenblick zwischen uns zu entladen, ich starrte auf seine Lippen und versuchte verzweifelt, mich zu konzentrieren. „Ganz ruhig, Edda“, dachte ich bei mir, „beherrsch dich. Kontrolliere deine Triebe.“
„Drittens ... gute Nacht“, hauchte ich, riss mich von seinem Anblick los, wirbelte herum und ging im Stechschritt davon.
„Hey, Edda. Edda!“, rief er mir nach und schwer atmend drehte ich mich nach ihm um.
„Was ist?“
Chris sah verlegen zu Boden, scharrte mit dem Fuß im Sand und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust. „Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich dir noch was schulde. Mindestens einen Drink. Für damals, als ich mit dir ... ich meine, bei dir schlafen durfte. Und, äh, eigentlich sind’s schon zwei Drinks, weil du mir ja vorhin einen ins Gesicht gekippt hast, den du vielleicht gern noch getrunken hättest.“ Er zuckte gespielt gleichmütig mit den Schultern. „Wenn du morgen, also, ich meine, heute, wenn es hell ist, so gegen Mittag Zeit hättest, würde ich dich einladen.“
Ich traute meinen Ohren kaum. Christopher Waldoff, der selbstverliebte, arrogante Schnösel, der Weiberheld schlechthin, Mr Bad Boy, wollte mit mir, einer spießigen, verklemmten Streberin, ausgehen? Freiwillig zwei Drinks spendieren? Ich kam mir vor wie im falschen Film und fragte mich, ob er mich hier gerade verarschte. War das irgendein Spiel? Oder ein Test, um seine Schauspielqualitäten zu prüfen? Pah, dem würde ich nicht in die Falle gehen!
Ich reckte das Kinn hoch, streckte die Brust raus und erklärte fest: „Nein, danke. Nicht nötig.“
„Sehr wohl nötig“, erwiderte Chris unnachgiebig und schlenderte zu mir herüber. „Ich hasse es, jemandem was zu schulden.“
Das war es also. Er wollte nicht in meiner Schuld stehen. Wäre auch zu schön gewesen, wenn er um meinetwillen Zeit mit mir hätte verbringen wollen.
„Du schuldest mir gar nichts“, seufzte ich resigniert, „du bist ein freier Mensch. Ich spreche dich frei.“ Ich schlug das Kreuzzeichen auf Höhe seiner Stirn.
Chris blinzelte verdutzt, dann lachte er schallend. „Hast du mir gerade die Absolution erteilt?“
Achselzuckend nickte ich. „Yep.“
Lachend schüttelte er den Kopf. „Du hast echt ’nen Knall, Rotschopf“, merkte er fast liebevoll an und ich schluckte den nächsten Satz hinunter.
Eigentlich hatte ich sagen wollen: „Und ich bin nicht so doof, dass ich mich von dir veralbern lasse.“ Aber irgendwie wuchs in mir das zarte Pflänzchen der Hoffnung. Vielleicht war das doch kein Spiel und er wollte mir wirklich einen Drink ausgeben. Oder zwei.
„Also, was ist jetzt?“, fragte Chris quengelig wie ein kleines Kind und ich erkannte, dass er es nicht gewohnt war, wenn eine Frau ihm nicht sofort verfiel.
Ich beschloss, ihn ein bisschen zappeln zu lassen, und lächelte gemein. „Was ist mit Elena?“, wollte ich wissen.
Er sah mich fragend an. „Was soll mit ihr sein?“
„Na ja, ich nehme an, dass es ihr nicht gefallen wird, wenn du dich mit mir verabredest. Oder?“
„Das ist mir egal, ob ihr das gefällt oder nicht“, erwiderte er gleichgültig. „Ich bin schließlich nicht ihr Eigentum.“
„Schon“, gab ich zu, „aber ihr seid doch zusammen, oder?“
„Was heißt zusammen?“ Chris sah mich stirnrunzelnd an. „Wir hatten Sex, das ist alles. Eine nette kleine Nummer zwischendurch, mehr nicht. Ich bin ein freier Mensch und kann tun und lassen, was ich will. Ich finde es blödsinnig, dass du dich durch eine Beziehung so in allem einschränken lässt. Ich meine, der Sex gehört doch zum Leben dazu, wie kannst du freiwillig darauf verzichten?“
Er würde es wohl nie kapieren. Wer sich Hoffnungen in Bezug auf Christopher machte, der hoffte vergebens. Entweder er besaß gar kein Herz oder er hatte es irgendwo ganz, ganz tief in seiner Brust vergraben und würde es mit Sicherheit niemals irgendeinem Menschen schenken. Für Chris war alles nur ein Spiel ‒ Mädchen und Sex waren für ihn ein netter Zeitvertreib, etwas, das ihm Vergnügen bereitete und eben zum Leben dazugehörte.
„Sag mal, hast du schon darüber nachgedacht, ob du vielleicht sexsüchtig bist?“, fragte ich etwas bissig und verschränkte die Arme vor der Brust. Allmählich wurde es frisch und ich wollte ins Bett. Mittlerweile war ich tatsächlich müde.
„Nö. Ich verbringe die Zeit lieber damit, über Sex nachzudenken“, entgegnete Chris ernsthaft. „Macht mehr Spaß. Wie auch immer, es geht nicht um Sex zwischen uns beiden, Rotschopf, daran bin ich wirklich nicht interessiert.“
„Ich auch nicht“, warf ich schnell ein, spürte aber, wie meine Ohren glühten und die Enttäuschung und Verärgerung über diesen Spruch in mir hochkrochen. Blödes Arschgesicht, dachte wohl, er wäre supertoll.
„Na, dann hätten wir das ja geklärt. Also, darf ich dich auf ’nen Drink einladen? Oder auch zwei?“ Abwartend sah er mich an und schien fest damit zu rechnen, dass ich zusagte.
Es war auch ein wirklich verlockendes Angebot und mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich es annehmen und mich nicht so dämlich anstellen sollte. Warum misstraute ich Chris eigentlich so sehr? Klar, er hatte keinen sonderlich guten Ruf, aber mir gegenüber hatte er sich stets korrekt verhalten. Ich hatte keinen Grund, ihm irgendwelche schlechten Absichten zu unterstellen. Außerdem machte es Spaß, mit ihm zu reden, ja, ich würde fast sagen, dass eine Unterhaltung mit ihm lehrreich war, dass er hin und wieder sogar intelligente Sachen von sich gab und eine Lebensphilosophie hatte, von der ich mir mal eine Scheibe abschneiden könnte. Er nahm das Leben nicht wirklich ernst, lebte in den Tag hinein und machte einfach sein Ding, ohne sich groß darum zu sorgen, ob es glatt laufen würde.
„Na schön“, gab ich klein bei. „Aber eins sage ich dir, Waldoff, wenn du mich morgen sitzen lässt, reiße ich dir den Arsch auf.“
Er amüsierte sich köstlich über diese Vorstellung, machte einen Schritt auf mich zu und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. „Klingt nur fair. Was hältst du davon, wenn wir uns um halb eins im Amigo treffen, das ist nicht weit von hier, die Metro fährt direkt hin.“
„Ich weiß“, entgegnete ich trocken, „ich war da auch schon essen. Letzte Woche. Ziemlich feiner Laden.“
Er zuckte die Achseln. „Die haben die besten Tapas in der ganzen Stadt, darauf verwette ich meinen Hintern.“
„Lieber nicht“, ich musste schmunzeln, „der ist doch quasi dein Grundkapital.“
„Ja.“ Er musste lachen, ein echtes, belustigtes Lachen. „Richtig. Also, Deal? Halb eins im Amigo?“
„Deal.“ Ich ergriff seine Hand, die er mir hinhielt, und schlug ein. „Halb eins und keine Minute später. Sonst bin ich weg und rede nie wieder ein Wort mit dir, Waldoff.“
Gespielt entsetzt riss er die Augen auf. „Das wäre natürlich fatal, das darf ich nicht riskieren.“
„Genau“, stimmte ich zu. „Also dann ... Nacht.“
„Gute Nacht, Rotschopf. Schlaf gut.“
„Du auch.“ Ich zögerte kurz, rieb mir die Nase. „Sag mal, du bist nicht zufällig in der gleichen Jugendherberge wie ich, oder? Gleich da drüben?“ Ich zeigte mit dem Finger in jene Richtung.
Chris lachte mich nur aus. „Jugendherberge? Nee, ich bin hier doch nicht auf Klassenfahrt. Ich penne in ’nem Fünfsternehotel in der Innenstadt. Ziemlich edel.“
„Wie schön für dich“, erwiderte ich grummelnd. Überheblicher Fatzke! Manchmal ging er mir mit seinen Starallüren gewaltig auf den Keks. Nichtsdestotrotz würde ich morgen mit ihm treffen ... zum Mittagessen. Es war also nicht mal ein Date. Auf keinen Fall. Ein Mittagessen war nie ein Date. Außerdem hatte ich keine Dates mit Männern wie ihm. Um genau zu sein, hatte ich noch nie eine Verabredung mit einem Mann gehabt, zumindest keine richtige. Timo und ich hatten uns als Freunde ineinander verliebt, was hieß, dass wir nie klassisch miteinander ausgegangen waren. Es hatte uns einfach überrollt, war passiert, während wir freundschaftliche Ausflüge unternahmen, und irgendwann waren wir eben mehr als Freunde. Aber außer dass wir uns küssten und miteinander schliefen oder Händchen hielten, hatte sich eigentlich nichts verändert. Wir verbrachten ebenso viel Zeit miteinander wie vor der Beziehung und wir trafen uns oft mit unseren gemeinsamen Freunden.
„Also, ich werde dann mal aufbrechen“, verkündete Chris und nickte mir zum Abschied zu. „Bis dann, Ed.“
„Ed?“ Ich hob eine Braue. „Ist das dein neuer Spitzname für mich?“
„Ich kann dich auch weiterhin Rotschopf nennen, wenn dir das lieber ist“, meinte er fröhlich.
Kopfschüttelnd sah ich ihn an. „Was hast du denn gegen den Namen Edda, hm? Gefällt er dir nicht?“
„Oh doch, sehr.“ Chris lächelte offen. „Aber Ed gefällt mir auch. Nicht ganz so sehr wie Rotschopf, aber nah dran.“
„Na, von mir aus. Dann also Ed.“ Ich seufzte ergeben. „Tschüss, Chris.“
„Mach’s gut, Ed.“ Er zwinkerte mir zu, dann machte er sich davon.
Ich musste in die entgegengesetzte Richtung und sah ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Ein wenig ärgerte ich mich darüber, dass er sich weder nach mir umdrehte, noch darauf bestanden hatte, mich zur Jugendherberge zu bringen. Es war ihm nicht mal in den Sinn gekommen zu fragen. Aber warum wunderte mich das? Chris war eben kein Gentleman. Benimmregeln suchte man bei ihm vergebens. Aber morgen würden wir uns zum Mittagessen treffen. Und wer wusste, was noch alles passieren würde. Vielleicht wurden wir sogar richtig dicke Freunde oder so was in der Art. Es war schon ein lustiger Zufall, dass wir uns in Barcelona wieder über den Weg gelaufen waren, ausgerechnet hier ...
Eigentlich glaubte ich nicht an Zufälle. Möglicherweise war es Schicksal gewesen?
Mit einem Mal hatte ich richtig gute Laune, mitten in der Nacht. Ich schlüpfte in meine Flipflops und hopste zurück zur Jugendherberge. Dabei pochte mein Herz aufgeregt in meiner Brust und ich war von Vorfreude erfüllt.
***
Chris:Ich hatte so was von verschlafen. Warum hatte ich mir auch keinen Wecker gestellt? Ich war sicher gewesen, von allein aufzuwachen, wegen der inneren Uhr und so, aber wie sich herausstellte, hatte ich mich etwas überschätzt.
Ich erwachte um Viertel nach zwölf, hatte einen ziemlichen Brummschädel vom gestrigen Abend und brauchte etwa zehn Minuten, um mich daran zu erinnern, was alles passiert war. Ich hatte mit Elena vom Shooting tags zuvor herumgealbert, hatte am Strand mit ihr geschlafen, ihr anschließend in einer Strandbar einen Drink spendiert und ... richtig, dann hatte ich Edda wiedergetroffen. Ich hatte, warum auch immer, darauf bestanden, mit ihr was trinken zu gehen. Um halb eins. Das war in fünf Minuten.
„Oh, fuck!“
Ich hechtete aus dem Bett, stöhnte, weil mein Schädel zu explodieren drohte, und schnappte mir mein klingelndes Handy, das mich, dem Himmel sei Dank, aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Mit zusammengekniffenen Augen und dröhnendem Schädel ging ich ran, während ich in Richtung Badezimmer taumelte. „Hallo?“
„Chris, Alter, du musst mir helfen“, jammerte Lukas los, kaum dass er meine Stimme vernommen hatte. „Ich hab Stress mit Sophia, Mann, und ich schätze, es wäre gut, wenn du mal mit ihr reden könntest.“
Sophia und Lukas. Ich konnte noch immer nicht ganz fassen, dass die beiden jetzt zusammen waren, aber so war es nun mal. Nachdem ich ins Modelbusiness eingestiegen und klar war, dass ich wirklich in diese Richtung gehen wollte, hatte ich im Klamottengeschäft gekündigt, zu Tanjas Entsetzen und dem Bedauern der Mädchen. Gleichzeitig setzten Layla und Amanda jedoch große Hoffnungen in mich und erwarteten von mir, mich bis nach New York durchzuarbeiten und sie irgendwann mal auf eine glamouröse Modenschau einzuladen, wo sie sich dann an irgendwelche Stardesigner ranmachen wollten, wenn ich das aufgedrehte Gequassel der beiden richtig verstanden hatte.
Sophia hatte bei meinem Abschied geweint, ihr war es nicht gelungen, die Tränen zurückzuhalten, als ich sie an meinem letzten Tag abends in den Arm nahm. „Wir bleiben in Kontakt“, versprach ich ihr und gab ihr meine Handynummer. Es geschah beinahe reflexartig, ich dachte gar nicht richtig darüber nach. In diesem Moment wollte ich einfach nur für sie da sein, ihr Trost spenden. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, sie niemals wiederzusehen. Ich hatte sie irgendwie gern, wenn auch nicht auf dieser leidenschaftlichen Ebene. Layla und Amanda, zu denen ich ebenfalls den Kontakt hielt, erzählten mir, dass, seit ich weg war, weniger Kundinnen kämen, dass ständig eine gedrückte Stimmung herrsche, Tanja permanent schlechte Laune hätte und die Einnahmen deutlich magerer ausfielen.
Weil mir das sehr leidtat, brachte ich Lukas, der nach wie vor untätig bei seiner Mutter zu Hause abhing, dazu, sich bei Tanja vorzustellen. Ich besorgte ihm den Termin bei ihr und pries ihn an, wie die Verkäufer auf einem türkischen Basar es mit ihrer Ware taten. Schließlich wurde Luke tatsächlich eingestellt und er war fast ebenso beliebt wie ich.
Außerdem verliebte er sich in Sophia und sie sich in ihn. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hatte, aber offenbar war sie über mich hinweg, denn Luke und Sophia waren ein Paar, und zwar schon seit nunmehr vier Monaten.
Ich war hin- und hergerissen zwischen Erleichterung, weil sie sich in jemand anderen verliebt hatte, und Sorge, Luke könnte es total verbocken. Er war in Liebesdingen nicht der Geschickteste, außerdem sprach er trotz seiner neuen Liebe noch auffallend oft von seiner Verflossenen Linda. Nun hatte er also wieder einen Schuss in den Ofen gelandet.
„Alter, was hast du jetzt wieder angestellt?“, fragte ich, während ich aus meinen Boxershorts schlüpfte. Auch wenn ich viel zu spät kommen und Edda mir wahrscheinlich den Kopf abreißen würde, ich musste duschen. Mein Körper war völlig klebrig und verschwitzt, ich roch nach Alkoholausdünstungen und fühlte mich eklig.
„Mein Gott, ich hab halt neulich in der Stadt meine Ex wiedergetroffen, und weil ich mich gefreut hab, sie zu sehen, hat sie gefragt, ob wir was trinken gehen wollen. Ich hab zugesagt, wir waren aus, es war ein netter Abend, aber zwischen uns ist nichts gelaufen, das musst du mir glauben, Chris. Jedenfalls hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass ich eigentlich mit Sophia verabredet gewesen wäre. Sie war ziemlich sauer, weil ich es vergessen hatte und sie eineinhalb Stunden lang vergeblich auf mich gewartet hat. Später hab ich auch noch gelogen und behauptet, ich wäre eingeschlafen und erst mitten in der Nacht wieder aufgewacht. Leider hat Linda mich zwei Tage später aufm Handy angerufen und Sophia ist rangegangen. So kam alles raus. Verdammter Mist, jetzt ist sie total sauer und will nichts mehr von mir wissen. Dabei ist zwischen Linda und mir nichts gelaufen, Chris, echt nicht!“
Ich knurrte leise. Er war so ein verdammter Idiot. Wie konnte man nur so blöd sein? „Schwör mir, dass du nichts mit deiner Ex hattest!“, forderte ich barsch und Luke schwor es mir hoch und heilig bei seinem Leben.
„Ich liebe Sophia, ich würde sie nie absichtlich verletzen, aber sie blockt total ab, ich komm nicht mehr an sie ran, Mann. Bitte, rede du mit ihr, du hast doch so einen guten Draht zu ihr. Mach ihr klar, dass sie mir verzeihen muss. Ich kann ohne sie nicht mehr leben.“
Jetzt klang er, als wäre er den Tränen nahe. Musste wirklich verzweifelt sein. Oder er war nicht so ganz auf dem Damm, der Gute. Schließlich war heute Montag, das Wochenende lag hinter ihm, vielleicht hatte er es mit dem Alk mal wieder ein bisschen übertrieben.
„Schon gut, Luke, flenn nicht rum, ich kümmere mich drum“, murrte ich und stieg schon mal in die Dusche. „Aber jetzt hab ich keine Zeit, Mann, ich bin gleich verabredet und eh schon zu spät dran.“
„Ja, klar“, er klang wie ein Depressiver, „deine Bettgeschichten sind natürlich wichtiger als meine Beziehung.“
Genervt verdrehte ich die Augen. „Luke, ich weiß gar nicht, warum ich die Suppe auslöffeln soll, die du dir eingebrockt hast“, sagte ich geladen. „Also entweder wartest du, bis ich meinen Kram erledigt habe, oder du bringst dein Leben selber in Ordnung, ich hab keine Zeit jetzt. Adios, amigo!“ Damit legte ich auf, stieg in die Dusche und zerrte ruppig den Duschvorhang zu, sodass die Stange herunterkrachte. Mit einem beherzten Satz nach hinten rettete ich mich, ansonsten hätte das Teil mich volle Kanne an der Stirn getroffen. Dafür knallte ich mit dem Hinterkopf gegen die harten Steinfliesen und fluchte laut. Es war wie verhext, alles lief schief. Ob das ein schlechtes Zeichen war? Ach Blödsinn, eigentlich glaubte ich gar nicht an so was.
Während ich mich in aller Eile abbrauste, mein raspelkurzes Haar wusch und dabei die heranwachsende Beule spüren konnte, ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich nicht wenigstens nach Eddas Handynummer gefragt hatte. So hätte ich sie anrufen und ihr Bescheid sagen können, dass ich mich verspäten würde. Nun hockte sie da mutterseelenallein in der Tapasbar und wartete auf mich, wahrscheinlich war sie mittlerweile stinksauer. Wäre sie Elena oder eines der anderen Mädchen gewesen, mit denen ich normalerweise ausging, hätte ich mir den Weg sparen können. Dann wäre längst irgendein Typ gekommen und hätte sie abgeschleppt. Aber der Rotschopf, der würde bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag unbeachtet dasitzen wie bestellt und nicht abgeholt, wenn ich nicht käme.
Mitleidig seifte ich mich ein, beeilte mich mit dem Einschäumen der Haare, obwohl mein Hinterkopf ziemlich wehtat, und fragte mich dabei, warum ich mich unbedingt mit ihr hatte treffen wollen. Was hatte mich nur geritten, so sehr darauf zu beharren, dass sie mit mir zu Mittag essen solle? Ich hätte die Zeit wirklich sinnvoller verbringen können, zum Beispiel im Bett mit Elena.
Aber irgendwas an ihr faszinierte mich, und zwar nicht nur ihre Augen. Sie hatte eine Ausstrahlung, die mich anzog, ich mochte ihr großes Mundwerk und ihre Schlagfertigkeit. Mir gefiel, dass sie nicht wie ein Karpfen den Mund auf- und zumachte und mich verträumt anhimmelte, sondern mit mir zankte und konterte. Außerdem war sie auf ihre eigene Weise schön, sie leuchtete von innen heraus. Als sie mir gestern von ihrem Jahr in Südafrika und Neuseeland erzählt hatte, hatte ich Respekt und Achtung empfunden. Sie war taff, die Kleine! Allein in die Welt hinaus, auf andere, fremde Kontinente, das traute sich nicht jeder.
Ich selbst war bisher nur in Europa gewesen, doch es reizte mich, auch die anderen Kontinente zu entdecken und zu erleben. Ich hoffte, dieses Ziel mit meinem Job als Model erreichen zu können. Wenn ich es bis nach oben schaffte, würde ich die ganze Welt sehen, und alle Welt würde mich kennen ‒ aus Fernsehen, Zeitschriften und dem Radio. Die Vorstellung, berühmt und bekannt zu sein, erregte mich, spornte mich an. Der Gedanke, dass mein Vater mich sah und vor Wut schäumte, weil ich es so weit gebracht hatte ohne ihn und sein Geld, verschaffte mir eine Befriedigung, wie nicht mal Sex es konnte. Und irgendwo in meinem Hinterstübchen dachte ich auch an meine Mutter ‒ was, wenn sie mich im Fernsehen sah oder ein Foto von mir in einer Zeitschrift entdeckte? Sie würde wissen, dass es mir gut ging, dass ich es zu etwas gebracht hatte, und vielleicht würde sie versuchen, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen.
Meine Mama und ich hatten früher ein sehr inniges Verhältnis gehabt, ich hatte sie abgöttisch geliebt und mir immer gewünscht, sie vor meinem Erzeuger beschützen zu können. Eines Abends hatte ich einen tränenverschmierten Abschiedsbrief unter meinem Kopfkissen gefunden, in dem meine Mutter sich dafür entschuldigte, mich verlassen zu haben. Sie schwor mir, dass sie mich liebte, immer lieben würde und mich irgendwann da rausholen würde. Sie gab mir ihr Wort.
Am Schluss schrieb sie: Tausend Küsse deine Mama.
Neun Jahre lang hatte ich vergebens darauf gewartet, dass sie kam und mich aus meiner Hölle befreite. Ich sehnte mich danach, ihre tausend Küsse auf meinen Wangen, meiner Stirn zu spüren, sie konnten vielleicht die Schmerzen lindern, die die Schläge meines Vaters mir zugefügt hatten. Er hatte mich immer häufiger ins Gesicht geschlagen, früher hatte er nur Körperteile genommen, die man unter Klamotten verstecken konnte ‒ Arme, Beine, Rücken, Bauch, Schultern. Er hatte nie fest genug zugeschlagen, dass ich ins Krankenhaus musste, und ich hatte immer neue Ausreden vor den Lehrern, meinen Freunden und Mitschülern erfunden, woher die Wunden in meinem Gesicht stammten.
Zwar wünschte ich mir nichts mehr, als meinen Vater loszuwerden, gleichzeitig hatte ich aber panische Angst davor, in ein Kinderheim gesteckt oder von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht zu werden.
Mein Vater hatte ein Talent dafür, Ängste zu schüren. „Denkst du ernsthaft, irgendjemand will dich haben?“, höhnte er, wenn ich ihm damit drohte, allen zu erzählen, dass er mich schlug. „Denkst du, so ein dummes, nutzloses Drecksbalg wie dich holt sich jemand freiwillig ins Haus? Nicht mal deine eigene Mutter wollte dich haben, du Tagedieb, du solltest mir dankbar sein, dass ich dich nicht im Waschbecken ersäufe.“
Das hatte gesessen. Ab da versteckte ich meine Wunden noch besser als zuvor, ich begann sogar damit, mir Make-up zu kaufen und die Verletzungen im Gesicht zu überschminken. Als mein Fußballtrainer eines Tages solchen Druck auf mich ausübte, weil er ahnte, dass ich zu Hause misshandelt wurde, dass ich schließlich weinend zusammenbrach, wurde mir klar, dass ich diesem Hobby nicht mehr weiter nachgehen konnte. Ich hatte kurz davor gestanden, Thomas, meinem Trainer, alles zu erzählen. Ab diesem Tag kam ich nie wieder zum Training. Ich drückte ihn weg, wenn er bei uns zu Hause anrief, und erzählte meinem Vater, ich wäre aus dem Team geflogen, weil ich zu schlecht spielte.
Er glaubte mir aufs Wort. „Sogar zu blöd, um einen Ball zu schießen, ich fasse es nicht.“
Im Stillen betete ich zu einem Gott, an den ich nicht mehr glaubte, dass er doch dafür sorgen möge, dass meine Mama kam und mich befreite. Aber sie kam nicht.
Ich wurde erwachsen, größer, stärker, begann irgendwann, mich zu wehren. Die Schläge wurden weniger, hörten schließlich auf. Nur hin und wieder rutschte ihm noch die Hand aus, wenn ich zu frech war, schlechte Noten schrieb oder ihm Geld stahl, um mit einem Mädchen auszugehen. Hin und wieder zog er willkürlich seinen Gürtel aus der Hose und schlug damit nach mir. Wie Peitschenhiebe knallte das Lederband auf mich nieder, und je nachdem, wo es traf, tat es mal mehr, mal weniger weh.
Zu Hause wurde ich behandelt wie Abschaum. Draußen war es anders. In der Schule war ich eine Legende, Chris Waldoff, der Typ, der jedes Mädchen kriegte, der coole Aufreißer, der Macho, der heißeste Typ der Stadt. Ich fand ein paar Kumpel, die bei mir waren, als ich mich das erste Mal besoff und auf die Straße reiherte, die mir meine erste Kippe anzündeten und mir den ersten Joint drehten. Später freundeten wir uns mit Gangmitgliedern an, die uns härteren Stoff und Partypillen verkauften. Meine Mitschüler fanden mich cool oder heiß, je nachdem, welches Geschlecht sie hatten. Selbst wenn Mädchen von meinem Verhalten abgeschreckt waren, durch mein Aussehen gewann ich sie jedes Mal für mich. Ich hätte jede flachlegen können. Ein knappes Lächeln hätte gereicht und ihr Herzchen wäre mir zugeflogen.
Am Anfang fand ich es faszinierend, es verlieh mir ein Gefühl von Macht, reihenweise Mädchenherzen zu brechen. Später, als ich älter und klüger wurde, kapierte ich, dass es besser war, die Finger von den sensiblen Heulsusen zu lassen, die mich als eine Art Projekt ansahen und sich einbildeten, sie könnten mich ändern. Stattdessen hielt ich mich lieber an die Flittchen, die es an der Schule zuhauf gab. Natürlich verhütete ich jedes einzelne Mal, hatte keinen Bock, mir irgendwas einzufangen.
Ich klaute, mal, weil es eine Mutprobe war, mal, weil die anderen mich dazu anstachelten. Damals war mir scheißegal, was mit mir passierte, wenn ich erwischt wurde. Die Gefahr, in den Knast zu wandern, erschien mir wie ein Witz angesichts der Gefahr, der ich tagtäglich ausgeliefert war, wenn ich zu meinem Alten zurückkehrte.
Es hatte eine Zeit gegeben, da interessierte mich gar nichts. Ich war ein gleichgültiges, ignorantes, arrogantes Arschloch. Es war mir egal, ob ich andere verletzte. Es war mir egal, ob ich mir meine Zukunft verbaute mit den dummen Aktionen, die ich brachte. Mir war alles egal. Ich war mir selbst egal. Es war mir egal, ob ich lebte oder starb. In meinem Inneren war alles tot, keine Gefühle weit und breit. Ich hatte gedacht, mein Vater hätte gewonnen. Er hätte mich gebrochen. Ich wäre schwach. Ein Versager.
Dann änderte sich alles. Um ein Haar wurde ich beim Klauen erwischt und Marvin rettete mir den Arsch. Seit diesem Tag war er mein bester Freund. Ich trank nicht mehr so viel, Marvin nahm mir sämtliche Drogen weg. Anfangs war es echt hart, ich war auf Entzug, mir ging es beschissen. Ich konnte nicht schlafen, nicht essen, nicht denken, schwitzte, fantasierte, übergab mich öfter, als es für einen Menschen gesund sein konnte. Marvin war für mich da. Marvin und ein Haufen anderer Leute. Sie kämpften um mich, als wäre ich einer von ihnen, was dazu führte, dass ich einer von ihnen wurde. Noch wichtiger war, dass ich wieder ich selbst wurde. Ich erkannte, dass mein Vater es nicht wert war. Er war es nicht wert, dass ich mich aufgab. Kein Mensch auf der Welt war es wert, dass ich mich aufgab. Ich lebte für mich, für niemanden sonst.
Ich schaffte den Entzug. Ich wurde clean. Weil ich Freunde hatte. Meine Freunde wurden meine Familie.
Ich nahm Abstand von dem richtig harten Zeug, rauchte nur noch selten Gras, hörte eine Weile auf zu trinken. Die Erinnerung daran, wie scheiße es mir mal gegangen war, wirkte heilend.
So verstrich die Zeit, ich lebte mein Leben, pflegte meinen schlechten Ruf und hatte meinen Spaß, auch wenn ich dafür hin und wieder eine Ohrfeige von Papa bekam. Ich prügelte mich auch mit anderen Jungs unverhältnismäßig oft, wenn ich meine Aggressionen nicht mehr unter Kontrolle hatte und die Wut darüber, wie mein Alter mich behandelte, an jemandem auslassen musste. Ich wusste, dass es falsch war, und ich arbeitete hart an meiner Selbstkontrolle, wollte mich nicht mehr so leicht provozieren lassen.
Heutzutage hatte ich mich ganz gut im Griff. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass Gewalt keine Probleme löste, sondern nur neue entstehen ließ, und ich fand einen Ausgleich, indem ich Sport trieb. Ich spielte wieder Fußball, wenn auch nur höchst amateurhaft. Ich perfektionierte meine Skatekünste. Und ich hatte angefangen zu joggen, das war eine Empfehlung meines Personal Trainers gewesen, Volker, der meinte, ich müsse unbedingt meine Fitness und meine Ausdauer trainieren. Ja, es war kein Witz, ich hatte sogar einen Personal Trainer. Und einen Ernährungsberater. Und natürlich Joachim, der mich anspornte und meine Karriere vorantrieb, als wäre es seine eigene. Es war ein Glück, dass er mich entdeckt hatte.
Nachdem ich für Frau Hartmanns Werbeagentur den Duschwerbespot abgedreht hatte, in dem ich, bei aller Bescheidenheit, aussah wie ein junger Gott, bat die Chefin des Unternehmens mich, mich für einige weitere Kampagnen zur Verfügung zu halten. Ich sagte zu. Das Drehen des Spots hatte mir großen Spaß gemacht. Ich hatte nichts weiter tun müssen, als zu duschen, dabei den Anweisungen des Filmteams zu folgen und mich dementsprechend zu bewegen.
Frau Hartmann waren um ein Haar die Augen aus dem Kopf gesprungen, als ich mich ohne viel Federlesen splitternackt ausgezogen hatte und in die Dusche gestiegen war. Der Regisseur war begeistert gewesen, ebenso sämtliche andere Mitarbeiter, vor allem aber die Kunden, die den Werbespot in Auftrag gegeben hatten und mit deren Duschgel ich mich eingeseift hatte. Es hatte köstlich gerochen, nach exotischen Früchten, ich hatte mich gefühlt, als befände ich mich auf einer einsamen Insel. Außerdem machte es die Haut weich und geschmeidig. Ich benutzte es bis heute, auch jetzt gerade.
Ich fühlte mich vor der Kamera vom ersten Moment an wohl, hatte kein Problem damit, mich vor aller Welt nackt zu zeigen. Ich wollte mich nicht verstecken, sondern war bereit, alles zu zeigen, was ich zu bieten hatte.
„Er ist jung, er ist neu und unverbraucht, sexy, dynamisch, auffallend gut aussehend und verfügt über ein gesundes Selbstbewusstsein“, meinte Alina Mahler, die Geschäftsführerin der Werbeagentur, und sah mich an, als wäre ich ihr größter Schatz. „Lola, großes Lob an dich, du hast uns einen wirklich dicken Fisch gefangen.“
Frau Hartmann, die mit Vornamen Lola hieß, strahlte übers ganze Gesicht, umarmte mich überschwänglich und nötigte mich dazu, mit ihr etwas trinken zu gehen. Im weiteren Verlauf des Abends versuchte sie, mich dazu zu überreden, mit ihr ins Bett zu steigen. Sie war ziemlich dicht, schließlich rief ich ihr ein Taxi und lief selbst nach Hause, die kühle Nachtluft half mir, wieder klarer im Kopf zu werden und zu realisieren, dass das alles wirklich passierte. Ich hatte heute gemodelt und in den nächsten Wochen würde dieser Werbespot im Fernsehen zu sehen sein. Ich konnte es kaum erwarten.
Drei Wochen später war es so weit. Marvin und ich ließen den Fernseher neuerdings konsequent laufen und schissen auf die Stromrechnung, Hauptsache, wir verpassten nicht den Werbespot. In der Werbepause eines langweiligen Fußballspiels flimmerte ich dann tatsächlich über den Bildschirm. Gut, man sah nicht wirklich viel von meinem knackigen Po, da er vielleicht zwei Sekunden lang im Fokus stand, aber der Rest meines Körpers, meine langen, kräftigen Beine, die muskulöse Brust, die trainierten Oberarme und vor allem mein Gesicht kamen gut zur Geltung. Ich wunderte mich über mich selbst, beim Einschäumen des Körpers erinnerte mein Gesichtsausdruck an den eines Mannes, der gerade einen Orgasmus hatte. Ich fuhr mir durch das damals noch lange, lockige Haar und schloss dabei genüsslich die Augen, egal, ob die Kamera frontal oder im Profil auf mich gerichtet war, ich sah immer zum Anbeißen aus. Keine Ahnung, ob die das bearbeitet hatten, jedenfalls war ich stolz auf mich selbst. Ich duschte mit so viel Hingabe und Leidenschaft, dass sicher so manche junge Dame vor dem Fernseher am liebsten durch den Bildschirm zu mir in die Dusche gestiegen wäre.
Marvin lachte sich halb kaputt über meinen Gesichtsausdruck und spuckte in einem Lachanfall Bier durchs gesamte Wohnzimmer. „Alter ... ich kann nicht mehr. Mann, du siehst so ... haha ... so beknackt aus. Als würdest du zum ersten Mal in deinem Leben duschen ... haha ... oder erst jetzt realisieren, dass du einen Penis hast ... im Übrigen schade, dass man den nicht sieht ... haha ...“
Er kriegte sich kaum mehr ein, ich warf ein Kissen nach ihm und knurrte: „Vollidiot!“
Am nächsten Tag riefen erst Amanda, dann Layla, Tanja und zwei weitere weibliche Fans bei mir an, denen ich wohl in einem Anfall geistiger Umnachtung meine Handynummer gegeben hatte, und waren hellauf begeistert über meinen Auftritt.
„Okay, Chris, pass auf, ich hab’s mir anders überlegt. Mein Hintern ist doch nicht zu gut für dich, ich will mit dir ins Bett“, kreischte Layla lautstark in den Hörer. „Himmel, Arsch und Zwirn, siehst du gut aus.“
Ich lachte geschmeichelt. „Das erkennst du erst jetzt?“ Natürlich schlief ich nicht mit Layla, auch wenn ich nun wohl gute Chancen hatte.
Im Laufe des nächsten Monats modelte ich noch zweimal für die Werbeagentur. Das eine Mal stand ich zusammen mit einer wahnsinnig gut aussehenden, jungen Frau vor der Kamera, wir drehten einen Werbespot für ein Parfum und ich sollte so tun, als würde ich mich erst in ihren Duft und dann in sie selbst verlieben. Es funktionierte nach einigen Anläufen prima ‒ sobald ich mich auf den Geruch eingelassen hatte und dem Drang, sie an mich zu reißen und zu küssen, widerstanden hatte.
Erneut wurde sichtbar, dass ich sehr ambitioniert war in Sachen Schauspiel, ich bekam großes Lob vom gesamten Produktionsteam und das Model wollte mit mir ins Bett. Ich ließ es zu und es war ein großartiges Gefühl, dass ich sogar Chancen bei einer Frau hatte, die im Modelbusiness erfolgreich war und so sexy, dass Millionen von Männern sie begehrten. Und ICH bekam sie.
Das Beste war, dass sie wie ich nur ihren Spaß haben wollte, nichts Festes, keine Verantwortung, keine Beziehung. Wir beließen es bei diesem einen Mal, sie zog in die weite Welt hinaus, ich blieb in Berlin und ließ mich von meinem kleinen Fanstamm anhimmeln, dem sich immer mehr Mädels anschlossen. Es fühlte sich geil an und ich wünschte mir, noch berühmter zu sein. Ich wusste, dass dafür mehr nötig war als zweiminütige Werbespots im Abendprogramm, die eine Vielzahl von Leuten vermutlich wegschalteten. Aber der erste Schritt war getan. Ein paar Leute kannten mich, das war ein Anfang.
Beim dritten Mal drehten wir einen Werbespot für eine neue Kaffeesorte. Ich sollte zusammen mit einem hübschen Model ein Liebespaar spielen, das sich zerstritten hatte, doch der köstliche Kaffee versöhnte uns mit der Welt und miteinander, so sehr, dass ich ihr schließlich einen romantischen Heiratsantrag machte. Die Szene war wahnsinnig kitschig geschrieben, die Slogans und Melodien erinnerten an den Vorspann einer Soap Opera und ich konnte mir oft das Lachen nicht verkneifen, als ich all die schwülstigen Sätze aufsagen und dabei auch noch ernst bleiben musste.
Joachim sah diesen Werbespot und irgendwas an mir gefiel ihm. Er behauptete später, er hätte sofort erkannt, dass ich das gewisse Etwas hätte, dass ich spritzig und frisch wäre, dass in mir viel Potenzial steckte und ich, wenn man es richtig aufzog, wirklich berühmt und erfolgreich werden könnte. Als er auf mich zukam, mir alles in einem Gespräch ruhig erklärte und mich schließlich fragte, ob ich mich von seiner Modelagentur unter Vertrag nehmen lassen wollte, fackelte ich nicht lange und sagte begeistert Ja.
Der Teilerfolg, den ich mit den Werbungen bereits erzielt hatte, war mir zu Kopf gestiegen. Alle hatten mich gelobt und in höchsten Tönen von mir geschwärmt, sodass ich mir vorkam, als wäre ich der neue Star am Modelhimmel.
Frau Hartmann erlitt schier einen Nervenzusammenbruch, als ich ging. Sie weinte und flehte mich an zu bleiben, doch ich blieb hart. Somit verließ ich das sichere Nest, machte mich auf in unbekannte Gewässer und erkannte bald, dass das alles kein Zuckerschlecken war. Nie zuvor war ich so angetrieben worden, nie zuvor hatte mir jemand solchen Druck gemacht wie Joachim.
„Wenn du als Model Erfolg haben willst, reicht es nicht, gut auszusehen“, trichterte er mir ein. „Hier geht es um mehr ‒ um Kampfgeist, Köpfchen, Durchsetzungsvermögen, um den Willen, etwas zu erreichen, besser zu sein als andere. Du musst motiviert sein, es wirklich wollen, du musst in dir drin dieses Feuer haben, diesen Hunger nach dem Leben, das da draußen auf dich wartet und das du dir Stück für Stück erarbeiten kannst. Diese Werbespots waren erst der Anfang, Christopher. Sie waren nicht mal die erste Stufe der Karriereleiter, Junge. Sie waren ein Schritt auf die Karriereleiter zu. Die erste Sprosse ist noch meilenweit entfernt. Wenn du für den Rest deines Lebens nur von Schulmädchen und enttäuschten Hausfrauen angeschmachtet werden willst, deren Highlight es ist, dich in der Glotze zu sehen, kannst du weitermachen wie bisher, aber wenn du mehr willst, musst du kämpfen.“ „Ich will mehr“, verkündete ich im Brustton der Überzeugung. „Ich will alles!“
Große Worte, die schwerer in die Tat umzusetzen waren als vermutet. Seit ich bei Joachim war, hatte sich mein Leben grundlegend geändert. Alles hatte sich geändert, meine Ernährung, mein Alkoholkonsum, meine Schlafgewohnheiten, mein Fitnesstraining, alles. Plötzlich musste ich mich an Essenspläne halten, wurde von Volker durch die Gegend gescheucht, hatte ein striktes Programm, nach dem ich im Fitnessstudio trainieren musste. Joachim rief mich hin und wieder wahrhaftig am Abend an und fragte, wo ich steckte. Wenn ich feiern war, war er nicht amüsiert.
„Chris, du brauchst genug Schlaf. Und wenn du es als Model zu was bringen willst, muss Schluss sein mit übermäßigem Alkoholkonsum, und vor allem mit Drogen. Die Medien schlachten so was gerne aus und das ist ganz schlecht fürs Image.“
Also wurde auch mein Abendprogramm ein anderes ‒ Abendessen, noch ein bisschen fernsehen, schlafen gehen. Obwohl es mir auf die Eier ging, dass Joachim mich so herumkommandierte und sich aufführte wie mein Erziehungsberechtigter, wollte ich dennoch unbedingt Erfolg haben, und wenn ich den haben wollte, musste ich ein paar Regeln befolgen.
Das einzige Laster, das ich nicht von heute auf morgen ablegen konnte, war das Rauchen. „Davon bekommst du faltige Haut und gelbe Zähne, also bitte“, empörte sich Joachim. „Du wirst doch außerdem nicht für diese die Luft verschmutzenden, unverschämt teuren Tabakstängel dein Geld zum Fenster rausschmeißen, oder? Chris, denk an deine Zukunft, denk an deine Gesundheit!“
Zwar hatte ich es geschafft, weniger zu rauchen, doch ganz aufgehört hatte ich noch nicht. Das wusste Joachim aber nicht, ich hatte ihm gesagt, dass ich aufgehört hätte und mich seitdem viel besser fühlte. Ich hatte keine Lust, dass er mich für zu schwach hielt, um so einer blöden Sucht zu widerstehen, was aber nun mal leider der Fall war.
Joachim investierte eine Menge Zeit, Geld und Mühe in mich, um mich auf den rechten Weg zu bringen, wie er es nannte. Ich bekam ein Coaching in Sachen Auftreten in Anwesenheit der Medien, ich musste einen Benimmkurs machen, zahlreiche Testinterviews über mich ergehen lassen, in denen Joachim sich als Journalist ausgab und mir mit unangenehmen Fragen zu Leibe rückte.
„Du musst vorbereitet sein, wenn die Aasgeier sich auf dich stürzen, Chris, aus dem kleinsten Zögern oder einem nervösen Lachen können die dir einen Strick drehen, die drehen dir das Wort im Mund herum und hinterher bist du das Gespött von ganz Deutschland. Ein guter Ruf ist das A und O beim Modeln. Sonst wollen dich seriöse Magazine gar nicht mehr ablichten und erfolgreiche, bekannte Marken machen einen weiten Bogen um dich, wenn dich die Schreiberlinge erst mal durch den Dreck gezogen haben.“
Seitdem lebte ich in ständiger Furcht, irgendwelche Journalisten könnten mich auf der Straße mit einem Haufen blöder Fragen überfallen, hin und wieder hatte ich sogar Albträume deswegen. Natürlich erzählte ich niemandem davon.
Vor Joachim gab ich mich betont locker und lässig. „Keine Panik, Jo, ich krieg das schon hin“, war mein Standardsatz.
Tatsächlich waren die bisherigen Interviews ganz gut gelaufen, ich kam charmant und sympathisch rüber, hatte größtenteils positive Presse. Ich wurde als „Aufsteigendes Sternchen am Modelhimmel“ betitelt und in einer Umfrage wurde mir sogar die Ehre zuteil, als „Sexiest Newcomer 2003“ bezeichnet zu werden.
Ich arbeitete quasi jeden Tag, seit ich bei dieser Agentur unter Vertrag stand. Dauernd kamen irgendwelche Leute zu mir und wollten irgendwas, dauernd hatte ich Termine, musste zu irgendwelchen Anproben, um meinen Stil zu finden, wie es hieß, und abends war laufen mit Volker angesagt.
Joachim und ein Haufen anderer beeindruckender Leute mit noch beeindruckenderen Jobbezeichnungen brachten mir eine Menge Dinge bei, die ich anwenden sollte, wenn ich zu meinem ersten Casting ging.
Maike, eine süße Fotografin aus Berlin-Schöneberg, machte sich zusammen mit einem Creative Director namens Clemens, einer Maskenbildnerin namens Luisa und der Fotostylistin Vera daran, ein Portfolio für mich zu entwickeln, damit ich später bei Castings etwas vorzuweisen hatte. Es ging mir ziemlich auf die Eier, dass die vier an mir herumzupften, -malten, -schminkten und mich in einem fort herumkommandierten. Fakt war aber, dass Clemens’ Ideen genial waren, Luisas Verschönerungen an mir ein echter Hit, Veras in Szene gesetzte Locations wundervoll und Maikes Fotos lebendig, professionell und geradezu perfekt.
„Wir sind Profis“, stellte sie grinsend klar, als ich mich über die gelungenen Bilder wunderte, „wir machen unsere Sache entweder richtig oder gar nicht.“
Seither hatte ich einige Castings in ganz Deutschland gehabt, Joachim hatte mich ziemlich herumgescheucht. Vier Jobs hatte ich bisher bekommen, nicht gerade eine hohe Erfolgsquote, aber ein netter Anfang mit netten Gagen. Und ich zierte, dank Job Nummer drei, einer Werbung für ein Gartenbaumagazin, nun sämtliche Litfaßsäulen deutschlandweit. Auf den Plakaten schob ich grinsend einen Rasenmäher über eine grasgrüne Wiese, trug einen albernen Strohhut und sah absolut lächerlich aus, aber meine gebleachten Zähne strahlten schneeweiß. Und am Anfang durfte man nicht wählerisch sein, es würde der Tag kommen, an dem ich für andere Dinge als Rasenmäher oder Duschgel warb.
Die Pralinenwerbung in der Schweiz für den Pralinenhersteller Witzigmann hatte mir bisher am meisten Spaß gemacht, denn wir hatten ein tolles Filmteam gehabt, tolle Fotografen, meine Modelkollegin war nett und wunderschön gewesen, süßer als all die Pralinen. Außerdem hatte man uns ein Mitspracherecht eingeräumt, wie wir den Werbespot gestalten wollten, und die Kreativität hatte geradezu Funken geschlagen. Überhaupt waren all die Menschen, die in den letzten Monaten in mein Leben getreten waren, sehr inspirierend und weckten in mir den Willen, die Sehnsucht danach, ebenfalls so erfolgreich zu sein. Ich war bereit, meine ganze Kraft in diese Sache zu stecken, die mir wirklich wichtig war ‒ das Modeln. Es war inzwischen mehr als ein Job für mich, es war etwas, das mir Spaß machte, das ich gut konnte. Zum ersten Mal schien ich ein wirkliches Talent zu haben.
Ich hatte die Gelegenheit bekommen, etwas aus mir zu machen, etwas Großes zu erreichen. Diese Chance bekam nicht jeder, und sicher bekam man sie auch nur einmal im Leben. Deshalb hatte ich mir fest vorgenommen, sie zu nutzen. Das hier würde ich nicht versauen.
Nun stieg ich tropfend aus der Dusche, schnappte mir eines der weichen weißen Hotel-Frotteehandtücher und rubbelte mich damit notdürftig trocken, ehe ich Boxershorts, eine kurze schwarze Hose, ein schwarz-weiß gestreiftes T-Shirt mit V-Ausschnitt und darüber ein schwarzes Jackett anzog, dazu schwarze Sandalen. Das war jetzt mein neuer Stil, so hätte ich mich früher niemals angezogen. Aber mittlerweile gefielen mir die Sachen, die nun meinen Kleiderschrank bevölkerten.
Meine Modeberaterin Corinne und ich hatten meine Garderobe zusammengestellt und fast meine gesamten alten Klamotten dem Roten Kreuz gespendet.
„Herzchen, das ist ja ganz nett für einen gewöhnlichen Zwanzigjährigen, aber wenn du in der Modewelt Fuß fassen willst, musst du umdenken“, hatte sie mir entschieden erklärt und mir einen Stapel Hemden gereicht. Dabei trug ich normalerweise nie Hemden. Im Übrigen auch keine Hüte, Krawatten und Jacketts. Tja, die waren nun aber Hauptbestandteile meiner Outfits. Dazu blank polierte Lederschuhe, nagelneue Turnschuhe und schicke Sommerschuhe.
Jetzt hatte ich es ziemlich eilig, es war bereits weit nach halb eins. Ob der Rotschopf noch da war? Ich hoffte es mit einer Inbrunst, die mich selbst erstaunte. Ich würde mir nie verzeihen, wenn sie nun dächte, ich hätte sie reingelegt und nie vorgehabt, mich mit ihr zu treffen. Denn so war es nicht. Ich hatte wirklich vorgehabt, sie zu treffen, und dann verschlafen. Es erstaunte mich selbst, dass ich sie unbedingt wiedersehen wollte und dass mir so viel an der Meinung lag, die sie von mir hatte oder haben könnte. Aber es war nun mal so.
Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel, stellte fest, dass ich aussah wie zweimal durchgekaut und falsch herum wieder ausgespuckt, mit angeschwollenen Tränensäcken, gesprungenen Lippen und der Blässe eines Leintuchs, aber es war nun nicht mehr zu ändern. Ich konnte nicht abwarten, bis ich besser aussah, ich musste los.
Nachdem ich mein Handy und das Portemonnaie in meinen Hosentaschen verstaut hatte, verließ ich das Hotel und trabte zur Metro.
Mein Hotel lag direkt gegenüber der Haltestelle, sodass ich keinen weiten Weg hatte. Joachim hatte es für mich gebucht, es war Luxus pur. Ein Fünfsternehotel mit sämtlichem Komfort ‒ Frühstück aufs Zimmer, eine riesige Badewanne, hoteleigener Swimmingpool, Dachterrasse, 24-Stunden-Service. Und von meiner Fensterfront im Zimmer aus hatte ich einen fantastischen Blick über die Stadt.
Mein Zimmer war groß, geräumig und hell, ein Kingsizebett, in dem locker vier bis fünf Personen Platz gehabt hätten, stand darin. Es gab eine Minibar, die gefüllt war mit allem, was das Junggesellenherz begehrte, eine Sitzgruppe aus dunklen Ledersesseln und einer überdimensionalen Couch, einen Glastisch, auf dem eine Karaffe mit frischem Wasser stand, einen großen Kleiderschrank nebst Regal, in dem ein kleiner Fernseher untergebracht war, der allerdings ein unglaublich farbiges, scharfes Bild hervorbrachte. Jeden Tag fand ich frische Blumen in der Vase auf dem Sideboard neben der Eingangstür vor und das danebenliegende Badezimmer blitzte stets vor Sauberkeit. Ich hatte das niedliche Zimmermädchen in dem kurzen roten Outfit schon mehrmals eingelassen, kurz bevor ich aufgebrochen war, und wir hatten mit Blicken etwas geflirtet.
Das Badezimmer war ebenfalls ziemlich cool, es gab eine riesige Marmorbadewanne, in der zwei Leute bequem liegen konnten, eine Dusche, zwei Waschbecken, eine Spiegelwand und ein an der Wand befestigtes Regal, auf dem zahlreiche Duschutensilien aufgereiht waren. Außerdem gab es einen kleinen Schrank voller Handtücher und mit dem obligatorischen weißen Frotteebademantel, in dem ich morgens normalerweise immer herumlief.
Des Weiteren wurde man in diesem Hotel mit dem köstlichsten Frühstück überhaupt verwöhnt, es gab nichts, was es nicht gab, ich hatte bereits die ganze Karte einmal rauf und runter bestellt und aß so viel wie nie zuvor zum Frühstück.
Ich hatte mich mit Massagen verwöhnen lassen und den Geruch der ätherischen Öle genossen, der sanft dahinplätschernden Musik gelauscht und gedöst, während die kleinen, erstaunlich kräftigen Hände der Masseuse meine verspannten Schultern durchkneteten und dabei ordentlich zu tun hatten mit meiner Muskelmasse. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Lady am Ende der Massage einen Krampf in den Händen gehabt hatte.
Es gab einen Fitnessraum, in dem ich die tolle, kompetente Betreuung des Fitnesstrainers Carlos erhielt, und an der Hotelbar bekam man von der temperamentvollen, kurvigen Barkeeperin Estelle jede erdenkliche Art von Cocktail und ein super Gespräch. Mein Spanisch hatte sich enorm verbessert, seit ich hier war. Vor meiner Anreise hatte ich in Berlin einen Crashkurs in Spanisch belegt (Joachim hatte darauf bestanden) und mittlerweile war ich ganz froh darüber, ihn gemacht zu haben, denn mein Schulenglisch war mehr als lausig, außerdem hatte ich die Hälfte eh schon wieder vergessen.
In der Volkshochschule, wo ich den Spanischsprachkurs belegt hatte, hatte ich erstaunt festgestellt, dass es mir gefiel, eine neue Sprache zu lernen, es bereitete mir Vergnügen, fremde Texte zu lesen und Vokabeln zu lernen. In der Schule hatte ich es immer gehasst, für Englisch büffeln zu müssen, nichts schien einen Sinn zu ergeben, mehrere Wörter hatten die gleiche Bedeutung, andere Wörter klangen nur gleich ... ich raffte es nie ganz. In meinen Englischaufsätzen wimmelte es nur so von Sprachfehlern, Grammatikfehlern und Rechtschreibfehlern. Spanisch hingegen war einfach.
In den zwei Wochen, in denen ich hier war, hatten sich meine Sprachkenntnisse noch mal verbessert, ich hatte viele neue Wörter gelernt, an meiner Aussprache gefeilt und ich entwickelte allmählich ein Gefühl für die Sprache. Überhaupt gefiel mir Barcelona sehr gut, die Vielfältigkeit der Stadt, all die Möglichkeiten, die sich hier boten, das war wirklich toll.
Ich sprintete die Treppen zur U-Bahn hinab, schob meine Zehnerkarte in das Kartenlesegerät, quetschte mich ungeduldig durch die Absperrung und hechtete in letzter Sekunde in die Bahn, die Türen schlossen sich und wir fuhren an. Ich hielt mich an einer Stange fest und starrte unbeteiligt durch die von Fliegenschiss und Fingerabdrücken verschmierte Fensterscheibe. Das tat ich immer, wenn ich verhindern wollte, dass mich jemand ansprach. Hier und heute fehlten mir dafür die Zeit und die Nerven.
Die Metro war ziemlich voll, alles Leute, die gerade Mittagspause hatten oder diese beendeten, viele Deutsche, die hier Urlaub machten. Ein paar Österreicher und Schweizer hatte ich auch herausgehört.
Als die Tür sich das nächste Mal öffnete, stieg ein Schwall von Leuten aus und riss mich fast um, ich hielt wacker dagegen und erkämpfte mir einen Sitzplatz am Fenster. Ich schwitzte, schon jetzt klebte mir das T-Shirt am Leib. Es war unglaublich heiß heute, hier drin war die Luft stickig, man konnte kaum atmen.
Mir gegenüber saß ein Pärchen, er war Afrikaner, sie Asiatin. Die beiden hielten Händchen, sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und die Augen geschlossen, er schaute selbstvergessen aus dem Fenster. Ich betrachtete die beiden unauffällig und lächelte unwillkürlich ‒ sie passten gut zusammen, die beiden. Das kam mir so in den Sinn, während ich sie angaffte. Natürlich total unauffällig. Sie würden sicher mal süße Kinder bekommen, farbig und mit Mandelaugen.
Ich musste schmunzeln, als ich mir das vorstellte, und dabei fiel mir auf, dass ich noch nie ein Kind gesehen hatte, dessen Eltern asiatischer und afrikanischer Abstammung waren.
Mitten in meinen Überlegungen hielt die Metro an der Haltestelle, an der ich aussteigen musste. Ich sprang auf und sagte, ohne groß darüber nachzudenken, zu dem Afrikaner und seiner Freundin: „Einen schönen Tag noch, meine Freunde!“, wofür ich nur einen verständnislosen, überraschten Blick erntete. Ich schenkte den beiden ein Lächeln, verließ die U-Bahn, hastete die Treppen hoch und sprintete den Gehweg entlang.
Es herrschte ein Gedränge und Geschubse, als gäbe es was umsonst. Die Spanier rannten, wie immer, über die rote Fußgängerampel, ohne Rücksicht auf das herannahende Taxi zu nehmen, das eine Vollbremsung hinlegte, dass die Reifen quietschten. Der Fahrer hupte und brüllte wütend etwas aus dem geöffneten Fenster. Endlich sprang die Fußgängerampel auf Grün, ich überquerte mit dem Rest der Minderheit, die sich an die Verkehrsregeln hielt, die Straße. So, jetzt einmal links, einmal rechts, noch mal über die Straße und da war es ... das Amigo, eine moderne, edle Tapas-Bar nördlich der Altstadt, ganz in der Nähe der Sagrada Familia.
Ich entdeckte den Rotschopf sofort. Sie stand an einem der Stehtische auf der Terrasse, ihr rötliches Haar, das sie offen trug, leuchtete in der Sonne in einem leichten Goldton und sie unterhielt sich angeregt mit einem Kellner, der mit einer Speisekarte an ihrem Tisch stand. Sie trug ein weißes Kleid mit rosa und roten Blümchen drauf, das kurz über den Knien endete.
Ich blieb in sicherer Entfernung stehen, versuchte abzuschätzen, ob der Rotschopf sehr verärgert über meine Verspätung war, gleichzeitig war ich jedoch erleichtert, dass sie überhaupt noch da war. „Also los, Chris“, dachte ich, „auf in den Kampf!“
Ich holte tief Luft, straffte die Schultern und begab mich auf direktem Wege zu ihrem Tisch. „Hola“, begrüßte ich sie überschwänglich und platzte dabei gleichzeitig ziemlich unhöflich in ihr Gespräch mit dem smarten Kellner.
Ihr Blick, den sie mir schenkte, war wenig liebenswürdig, ihr Lächeln steinern. „Hola“, entgegnete sie bissig. Oh weh!
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, sagte ich ehrlich zerknirscht.
„Kein Problem, ich bin auch gerade erst gekommen“, behauptete sie. Das war natürlich gelogen. Vor ihr stand ein leeres Glas, außerdem hatte der Kellner diesen mitleidigen Blick aufgesetzt. Die anderen Gäste schauten verstohlen zu uns herüber, so als hätten sie nicht damit gerechnet, dass wahrhaftig noch jemand auftauchte. Und dann auch noch so ein Prachtbursche wie ich.
„Sie sollten sich schämen, Kumpel, man lässt so eine schöne Frau doch nicht warten“, rügte der Kellner mich auf Spanisch und zwinkerte Edda zu. Die lächelte verkniffen zurück und schien ihn per Telepathie dazu bringen zu wollen, die Klappe zu halten. Tja, nun hatte er sie eh schon verraten.
„Ich weiß, es tut mir auch schrecklich leid, aber ich bin aufgehalten worden“, erklärte ich dem Kellner schnell. „Ich bin untröstlich, dass es so gekommen ist. Aber Sie haben sich ja offensichtlich gut um sie gekümmert, Kumpel, danke dafür.“
Der Kellner grinste und machte eine spöttische Verbeugung. „Gern geschehen. So, ich bringe dann mal eine zweite Karte. Hier, Señorita.“ Schwungvoll reichte er der mürrisch dreinblickenden Edda die Karte, zwinkerte ihr noch mal zu und verschwand, um auch mir eine zu bringen. Ich stützte mich mit den Unterarmen auf der Tischplatte ab und betrachtete sie, während sie stur in die Karte sah und mich keines Blickes würdigte. Na, das konnte lustig werden!
Während ich sie so ansah, fiel mir auf, was für sinnliche Lippen sie hatte. Ihre blauen Augen waren ohnehin der Knaller. Sie hatte ordentlich Wimperntusche aufgetragen, das sah ich sogar, obwohl sie den Blick gesenkt hatte.
Ich riss mich von ihrem Anblick los und räusperte mich. „Ed, ehrlich, es tut mir leid, dass ich zu spät bin, das war keine Absicht.“ Wie immer wenn ich verlegen war, rieb ich mir den Nacken. „Ich hab total verpennt ...“
„Schon okay, Christopher“, fiel sie mir ins Wort und blätterte eine Seite der Karte um. „Ich bin auch erst seit fünf Minuten hier. Höchstens.“
Sie beharrte also wirklich darauf. Die ganze Geschichte musste ihr enorm peinlich sein.
„Warum bist du dann so sauer auf mich?“, fragte ich in provozierendem Tonfall und funkelte sie herausfordernd an. „Wenn du doch angeblich erst fünf Minuten wartest? Bist wohl sauer, dass du überhaupt deine kostbare Zeit verschwendet hast, und dann noch für einen wie mich, was?“ Ich schnaubte.
„Christopher, bitte“, sie blickte auf, ihr Gesicht glühte puterrot, sodass ihre blauen Augen besonders stark hervorstachen, „belassen wir’s einfach dabei, okay? Bitte! Lass mir wenigstens einen letzten Rest Stolz. So, ich nehme die Patatas bravas. Wenn du willst, kannst du die Karte nehmen.“ Sie klappte sie zu und reichte sie mir, den Blick abgewandt.
Im selben Moment tauchte der Kellner mit übertrieben strahlendem Lächeln an unserem Tisch auf und wollte mir ebenfalls eine Karte reichen. Ich winkte ab und hob die, die Edda mir gerade gegeben hatte, hoch.
Er registrierte es mit einem kleinen Nicken und erkundigte sich bei Edda, ob sie schon gewählt hatte. „Hast du dich entschieden, mi hermosa?“
Er nannte sie „meine Schöne“, du meine Güte! Ich konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen. Charmeoffensive oder was? Wollte er sie jetzt hier vor meinen Augen angraben? War ja lächerlich.
Edda sah mit einem entzückenden Augenaufschlag zu ihm auf und antwortete in perfektem Spanisch, bestellte die frittierten Kartoffelwürfel mit scharfer Soße und dazu eine Cola. Ich wurde dabei mit voller Absicht komplett ignoriert. Nachdem der Typ umständlich alles auf seinem Block vermerkt hatte, wollte er wissen: „Und hat dein Freund auch schon gewählt?“ Er wandte sich mir zu.
Ich setzte ein falsches Lächeln auf und antwortete nach einem knappen Blick in die Karte: „Ich hätte gerne die Riñones, bitte. Und ein Wasser.“
Der Kellner nickte. „Sehr gerne.“
„Im Übrigen ist er nicht mein Freund“, verkündete Edda ungehalten.
Der Kellner grinste, warf mir einen mitleidigen Blick zu und zog ab.
Ich schnaubte entnervt, sie regte mich furchtbar auf. Dieses zickige Getue machte mich ganz wahnsinnig. Ich hätte nie gedacht, dass sie so sein konnte. Außerdem übernahm sie hier die Rolle der beleidigten Leberwurst und schien sich darin auch noch ziemlich wohlzufühlen. Dabei hatte ich mich doch entschuldigt. Ich hatte verschlafen, das konnte ja wohl mal passieren. Sollte ich jetzt vor ihr auf die Knie fallen und sie um Vergebung anbetteln oder was? Das konnte sie vergessen. „Du weißt schon, dass du dich total lächerlich verhältst, oder?“, fuhr ich sie an.
Edda zuckte die Achseln. „Ist Ansichtssache. Ich glaube, dir passt es nur nicht, dass ich dich nicht anhimmle wie all die anderen Groupies, mit denen du sonst abhängst. Es passt dir nicht, dass sich mein Leben nicht nur um deines dreht, du kommst nicht damit klar, dass mal ausnahmsweise ein Mädchen nicht hin und weg von dir ist.“
Der Zorn kroch in mir hoch, ich ballte meine Hände zu Fäusten, verfluchte mich dafür, dass ich mich unbedingt mit ihr hatte verabreden wollen, und bemühte mich darum, den Wutanfall zu unterdrücken. Nicht aggressiv werden ... ich atmete tief durch.
„Wenn du mich so bescheuert findest“, ich sah ihr fest in die Augen, „warum bist du dann noch hier? Warum bist du nicht längst abgehauen, als ich nicht gekommen bin? Du hättest dich ja an den Kellner ranmachen können, sieht so aus, als würde der auf dich stehen.“
Minutenlang duellierten wir uns mit Blicken, einer war giftiger als der andere. Schließlich antwortete sie: „Ich hatte Hunger. Und ich liebe Tapas.“
Wir schwiegen uns böse an, jeder wartete darauf, dass endlich das Essen kam. Ich würde meine Nierenscheibchen hinunterschlingen und dann die Biege machen, es musste nicht sein, dass die Tussi mir den Tag verdarb.
Das Handy klingelte, dankbar für die Ablenkung zog ich es aus der Hosentasche ‒ Joachim. Mist, das fehlte mir gerade noch. Sicher wollte er wissen, ob ich schon fleißig Sport getrieben und gesund gefrühstückt hatte. Und jetzt sollte ich mich wohl daran machen, mich auf das Casting in den kommenden Tagen vorzubereiten. Ich wollte eigentlich nicht mit ihm reden, mir irgendwelche klugen Ratschläge anhören, ich war ohnehin schon gereizt.
„Sag mal, willst du das Ding hypnotisieren oder endlich mal rangehen?“, fragte der Rotschopf spitz.
Am liebsten hätte ich sie angebrüllt, ihr verkündet, dass sie sich, verdammt noch mal, aus meinem Leben raushalten und mich zufriedenlassen sollte. Warum hatte ich Idiot sie nur auf ein paar Tapas eingeladen? Ohne sie eines Blickes zu würdigen, drückte ich den grünen Knopf, drehte mich von ihr weg und sagte: „Hi Joachim. Alles klar bei dir?“
„Sag mal, was dauert denn da so lange, musstest du das Handy erst vom Mount Everest holen oder was?“, begrüßte er mich nicht gerade freundlich. Er hatte heute wohl schlechte Laune und die würde er an mir auslassen. Toll. Ich war der Prellbock für alle mit mieser Laune.
Verdrossen sah ich hinauf in den wolkenlosen babyblauen Himmel und dachte bei mir, dass ich nachher, sobald ich den Giftzwerg und den nölenden Chef losgeworden war, eine Runde schwimmen gehen könnte.
„Sorry“, nuschelte ich undeutlich, „war grad noch beschäftigt.“
„Womit denn?“, fragte Joachim ironisch. „Irgendeine Latina zu bezirzen? Du liegst doch hoffentlich nicht noch im Bett, oder?“
„Nö“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich stehe.“
„Solange du nicht auf einem Surfbrett stehst, beruhigt mich diese Antwort nicht besonders“, erwiderte Joachim düster. „Im Ernst, Chris, ich hab eben mit Rebekka telefoniert, sie ist Journalistin von Belleza, da hattest du letzte Woche ein Casting. Und du bist nicht mal in die engere Auswahl gekommen.“
Na toll, darum ging es also. Ich überlegte, welche der drei Jurymitglieder noch gleich Rebekka gewesen war. Da war eine drahtige Blonde mit Pferdegebiss gewesen, die ständig mit den Augen zuckte, eine süße Blonde mit künstlichen Fingernägeln, die sich wie besessen irgendwelche Notizen gemacht hatte, und eine Schwarzhaarige mit langen Beinen, vollen Lippen und festen, großen Brüsten, die sich in einer Tour lasziv die Lippen geleckt und mir eindeutige Signale gesendet hatte. Schade eigentlich, dass ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, mit ihr in engeren Kontakt zu treten.
„Christopher, ich rede mit dir!“, herrschte Joachim mich an. Manchmal hatte er den gleichen Ton drauf wie mein Alter, was nicht gerade dazu beitrug, mich zu motivieren. Wenn ich angeschrien wurde, blockte ich ab. War schon immer so gewesen, würde immer so sein.
„Ja, tut mir leid“, murmelte ich nicht gerade aufrichtig. „War irgendwie nicht so mein Ding.“
„Nicht so dein Ding?“ Joachim lachte freudlos. „Rebekka meinte, du wärst gar nicht bei der Sache gewesen, hättest dich von all den hübschen Frauen um dich herum komplett aus dem Konzept bringen lassen. Das ist unprofessionell, Chris, wie oft haben wir schon darüber gesprochen? Außerdem hat sie mir ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, dass du deine Selbstherrlichkeit ablegst und dich mehr auf die Wünsche des Kunden konzentrierst als darauf, wie toll du bist.“
Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Überrascht schnappte ich nach Luft. Eigentlich war ich der Meinung gewesen, die bisherigen Castings ganz gut hingekriegt zu haben. Dass ich schlussendlich nicht genommen wurde, schob ich tatsächlich darauf, dass ich nicht ganz der richtige Typ für den jeweiligen Job war. Das hatte ich mir jedenfalls erfolgreich eingeredet. Das Feedback, das die Damen mir gegeben hatten, war keineswegs schlecht gewesen, allerdings auch wenig lobend, eher gespickt mit guten Ratschlägen und Tipps, wie ich es nächstes Mal besser machen konnte. Aber nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ich einen so schlechten Eindruck hinterlassen hatte. Selbstherrlich? Pah!
„Bist du dir sicher, dass das ihre Worte sind und nicht eher deine?“, fragte ich pampig und bereute die Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. Indem ich Joachim die Schuld in die Schuhe schob, machte ich es nicht besser, eher im Gegenteil.
Dieser rang hörbar um Fassung. „Jetzt pass mal auf, mein Lieber, ich schlage vor, dass du mal schleunigst von deinem hohen Ross runtersteigst, wenn du es in dieser Branche zu was bringen willst“, herrschte er mich mit bedrohlich gesenkter Stimme an. „Rebekka war nämlich nicht die Einzige, die mir wenig Erfreuliches zu berichten hatte. Auch die anderen beiden Castings hast du, gelinde gesagt, verkackt. Immer bekam ich zu hören, du wärst zu unprofessionell, zu selbstverliebt, würdest dich zu wichtig nehmen und die Anweisungen des Fotografen unzureichend befolgen. Ich hab’s dir schon mal gesagt und ich sage es immer wieder: Christopher, in diesem Beruf geht es nicht um dich, sondern um das, was du präsentieren sollst, egal, ob das Kleidungsstücke sind, Pflegeprodukte, Pralinen oder ... keine Ahnung, Mikrowellen. DU bist nicht der Mittelpunkt der Welt, Christopher, und auch nicht der Mittelpunkt der Kampagnen. Und wenn du nicht die Arschbacken zusammenkneifst und dich anstrengst, bin ich leider gezwungen, unseren Vertrag zu beenden. Beim Modeln geht’s nicht nur um gutes Aussehen, das musst du endlich begreifen. Dein Körper und dein Gesicht sind dein Grundkapital, darauf kannst du aufbauen, aber dafür musst du auch was tun. Du hast sehr viel Potenzial, das weiß ich, sonst hätte ich dich niemals kontaktiert. Aber mir fehlt bei dir der Kampfgeist, Christopher, der Wille, es zu etwas zu bringen. Du hast keinen Biss, keinen Antrieb, du machst einen Fehler nach dem anderen. Ich erwarte von dir, dass du dich jetzt zusammenreißt und etwas tust. Fang an zu kämpfen, verdammt noch mal! Hast du das kapiert?“
„Ja“, murmelte ich niedergeschlagen. Dass ich so schlecht war, war mir nicht klar gewesen.
„Gut. Ich hoffe, du denkst mal darüber nach. Ich habe keine Lust, dir endlos Standpauken zu halten, ich bin schließlich nicht dein Vater. Aber bitte komm in die Gänge! Ich hab noch einen wichtigen Termin, ich ruf dich wieder an, wenn das Casting bevorsteht. Übermorgen, denk dran! Und sei pünktlich!“
„Ja“, wiederholte ich tonlos. Er maßregelte mich, machte mich zum Volldepp und ich war nicht mal in der Lage, mich zu wehren, sondern nickte wie ein Idiot alles kommentarlos ab. Was war nur los mit mir?
„Na dann. Tschüss, Christopher.“
„Adios.“ Ich legte auf, schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch, steckte das Handy in meine Hosentasche und drehte mich wieder zu Edda um, die mit der Hüfte gegen den Tisch gelehnt dastand und mich prüfend ansah. Das fehlte mir noch, diese Meckerziege, die mich gleich auch noch in die Mangel nehmen würde. Es war unerträglich heiß, ich schwitzte, zog mein Jackett aus und warf es mir über die linke Schulter.
„Na endlich, ich hatte mich schon gewundert, wie du es so lange in dem Ding aushältst. In Gedanken sah ich dich schon zu einer Pfütze zerschmelzen“, sagte sie mit schief gelegtem Kopf.
Ich antwortete nicht, starrte nur finster auf die Tischplatte. Scheiße, scheiße, was für ein Scheißtag!
Ein Kellner, ein anderer als zuvor, brachte unsere Getränke, Edda bedankte sich für uns beide, ich trommelte eine nervöse Melodie auf der Tischplatte, kratzte mich an der Stirn und nahm einen großen Schluck von dem kühlen Wasser.
„Okay, was ist los?“, fragte Edda schließlich einfühlsam. „Du bist ja geladen wie ein Schießgewehr.“ Sie klang nicht neugierig oder sensationslüstern, sondern einfach nur ehrlich interessiert. „Hast du ein Problem, Chris?“ Sie hatte einen versöhnlichen Tonfall angeschlagen, nun legte sie auch noch ihre Hand auf meine. Unser Streit von eben schien vergessen zu sein. „Rede doch mit mir!“
Genervt zog ich meine Hand weg. „Hör auf, mit dieser Psychologenstimme zu reden, das macht mich wahnsinnig.“ Ich stürzte etwa die Hälfte meines Wassers in einem Zug hinunter, ein kleiner Sturzbach rann mir übers Kinn. Mit dem Handrücken wischte ich ihn weg. „Gerade eben noch fandest du mich total scheiße und auf einmal soll ich mit dir über meine Probleme quatschen, als wären wir alte Freunde? Stimmt noch alles bei dir? Bist du schizophren oder was?“
Sie blinzelte, verdutzt über meinen Ausbruch. Die anderen Leute reckten die Hälse, gafften uns an, als wären wir die Attraktion im Zirkus. Da ich deutsch gesprochen hatte, hatten sie vermutlich nicht verstanden, was ich gesagt hatte. Dennoch ging sie das hier überhaupt nichts an.
„Was glotzt ihr denn alle so?“, rief ich wütend auf Spanisch. „Habt ihr kein eignes Leben? Kümmert euch gefälligst um euren eigenen Dreck!“
Entrüstetes Raunen wurde laut, einige zogen beschämt die Köpfe ein, andere drohten mir mit den Fäusten. Mir war alles egal, ich war genau in der richtigen Stimmung für eine Schlägerei.
„Chris, bitte, wir fliegen noch raus hier“, zischte Edda leicht panisch. „Die Leute sehen aus, als würden sie uns gleich mit ihren Tapas bewerfen. Kannst du dich bitte beruhigen und mir einfach sagen, was los ist? So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Hast du eine Ahnung“, fuhr ich sie an, senkte aber meine Stimme und leerte mein Glas in einem Zug. „Wenn ich das Casting übermorgen versaue, verliere ich wahrscheinlich meinen Vertrag und bin arbeitslos. Marvin reißt mir den Kopf ab, wenn ich kein Geld mehr verdiene, er schmeißt mich raus und ich sitz auf der Straße.“
Keine Ahnung, wo das jetzt herkam, aber so empfand ich im Moment. Ich war total panisch und stellte mir ein Leben unter der Brücke vor ‒ genau da hatte ich nie enden wollen. Genau da hatte mein Vater mich sehen wollen, als er mich vor einem Jahr rausschmiss. Ich konnte ihm diese Bestätigung nicht geben, er durfte nicht recht behalten mit dem, was er gesagt hatte.
„Mein Alter würde sich vor Freude nicht wieder einkriegen, wenn sich herausstellt, dass er recht gehabt hat“, brummte ich bitter.
„Recht womit?“, hakte Edda nach und beugte sich über den Tisch hinweg zu mir. Sie wollte einfach nicht lockerlassen.
Ich sah sie direkt an, ohne mich diesmal von der Farbe ihrer Augen verwirren zu lassen. „Damit, dass ich ein Versager bin, ein Nichts, ein Niemand, ein Schmarotzer, den andere Leute durchbringen müssen. Einer, der es in seinem Leben nie zu etwas bringen wird.“ Ich starrte auf meine geballten Fäuste und biss mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut schmeckte.
Ich hatte noch nie jemandem erzählt, wie mein Vater mit mir umgegangen war, nur Marvin wusste davon. Dass er mich auch verbal jahrelang runtergemacht hatte, wusste keiner. Und ich hatte nicht vorgehabt, es je irgendwem zu erzählen. Keine Lust, von den Leuten mitleidig angesehen zu werden, weil mein Vater ein Arsch war.
„Chris, das ist doch Schwachsinn“, versuchte Edda mich zu besänftigen. „Du bist kein Versager! Denk doch nur, was du schon alles erreicht hast. Überall in Deutschland hängen Werbeplakate von dir. Du wurdest in Werbespots im Fernsehen gezeigt. Ist das denn nichts wert?“
Ich schnaubte und seufzte gequält. „Das mit den Werbespots und den Plakaten war nur Glück. Die Frau, die mich damals entdeckt hat, war scharf auf mich, nur deshalb hab ich diese Chance überhaupt bekommen. Und jetzt bin ich dabei, es richtig zu vermasseln. Mein Sexappeal hat mich hierher gebracht und nun lässt mein Gehirn mich im Stich.“
Wir wurden kurz unterbrochen, als ein Korb mit aufgeschnittenem, herrlich duftendem Brot vor uns auf den Tisch gestellt wurde, dazu bekam jeder von uns ein Schälchen Olivenöl. Mein Magen knurrte, ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war. Kein Wunder, ich hatte heute schließlich noch nichts gegessen.
Edda nahm sich eine dünne Brotscheibe, tunkte sie ins Öl und nahm einen großen Bissen. Genüsslich verspeiste sie das Häppchen. „Schmeckt großartig, das Brot, probier doch mal. Vielleicht hebt das deine Laune.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und dann kommst du mal wieder runter, das ist doch Bullshit, was du da erzählst, Chris. Ja, gut, du bist nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber du bist nicht blöd.“
„Na, herzlichen Dank auch“, schnaubte ich sarkastisch, nahm mir ebenfalls eine Brotscheibe, tauchte sie in das fettige Öl und schlang sie in Rekordzeit hinunter. Schmeckte köstlich, ich griff gleich nach der nächsten.
Edda zerkrümelte ihre zweite Scheibe zwischen den Fingern. „Gestern hast du mir noch erzählt, man könnte alles lernen, und heute willst du aufgeben, nur weil du bei den letzten Castings nicht die Nummer eins warst? Du lieber Himmel, Chris. Ich weiß ja, dass du es normalerweise gewohnt bist, immer zu gewinnen, und dass es vermutlich an deinem übergroßen Ego nagt, wenn mal nicht alle hin und weg von dir sind. Aber, und es tut mir leid, wenn ich dir jetzt deine Illusionen raube, das Leben ist kein Ponyhof. Man bekommt nicht immer das, was man sich vorstellt. Manchmal muss man ... da muss man kämpfen, wenn man was haben will. Es fällt einem im Leben nicht immer alles in den Schoß, Chris, so einfach ist das nicht. Andere Leute kämpfen pausenlos, verlieren, liegen im Dreck und stehen wieder auf. Das ist übrigens eine Metapher“, klärte sie mich auf, als wäre ich völlig blöd.
„Ich weiß“, fuhr ich sie an. „Denkst du, ich bin bescheuert oder was? Dann kannst du dich gleich mit meinem Agenten zusammentun, der behandelt mich auch, als wäre ich ein Vollidiot, der nichts auf die Reihe kriegt. Dabei reiß ich mir den Arsch auf, ich tue alles, damit diese bescheuerten Schnepfen von den Modemagazinen mich gut finden, und was kriege ich zum Dank? Einen Anpfiff.“ Vor Wut verschluckte ich mich an meinem Brot und musste würgen. Ich war auf 180, diese unterschwellige Aggression schwappte in Wellen über mich hinweg und es war schwer, mich zu beruhigen.
„Chris“, Edda sprach mit sanfter Stimme, als müsste sie einen wilden Stier beschwichtigen, „ich weiß doch, dass du nicht dumm bist. Seit wann bist du denn so ein Sensibelchen?“ Ich knurrte, sie verdrehte die Augen. „Okay, du bist sauer auf deinen Agenten, weil er dich kritisiert hat, und offenbar auch auf mich, weil ich nicht das Richtige sage. Dabei möchte ich dir doch nur klarmachen, dass ich nicht glaube, dass du deinen Job oder deinen Agenten verlierst, nur weil du diesen einen Auftrag nicht bekommen hast.“
„Bisher waren es drei Aufträge“, korrigierte ich sie finster, „und den vierten übermorgen werde ich auch nicht bekommen, weil ich nämlich, wie du gestern herausgefunden hast, weder windsurfen noch segeln kann.“
Der Rotschopf ließ sich davon nicht beirren. „Ich glaube, dass es deinem Agenten um was ganz anderes geht. Ich glaube, er möchte einfach, dass du dich anstrengst und mal ein bisschen Einsatz zeigst, anstatt wie Mr Cool herumzuhängen und deinen Charme auf Frauen zu versprühen, die schon so lange in dieser Branche tätig sind, dass sie sofort erkennen, was für ein Blender du bist. Was dein Agent will ist, dass du ihm beweist, wie sehr du es willst, wie sehr du diese Karriere als Model anstrebst. Du bist sicher nicht schlecht, sonst hätte er dich nicht unter Vertrag genommen und dein Konterfei würde nicht sämtliche Jungs in deutschen Städten aufregen.“ Bei dieser Bemerkung wurde sie etwas rot. „Aber es wird Zeit, dass du auf den Teppich kommst, Chris. Da wird es dir nicht gefallen, es ist nämlich keinesfalls der rote, sondern eher ein alter, schmutziger Bettvorleger, die unterste Sprosse der Karriereleiter. Wenn du da draufwillst, musst du an dir arbeiten, dich verbessern. Von nichts kommt nichts. Du willst fliegen, bevor du überhaupt Flügel hast, das funktioniert so nicht. Du musst was reinstecken, damit was rauskommt, und ich habe den Verdacht, dass du bisher nur ein Prozent deiner zur Verfügung stehenden 100 genutzt hast. Du kannst das schaffen, Chris, ganz sicher! Jeder fängt mal klein an, aber du kannst es bis ganz nach oben schaffen, wenn du dich nicht aufgibst. Dadurch, dass du hier herumjammerst und dir selbst leidtust, wird es bestimmt nicht besser. So“, sie pustete eine rote Haarsträhne aus ihrem Gesicht und griff nach einer Brotscheibe, „und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du mir auch noch etwas Brot übrig lassen würdest. Ich habe nämlich noch ziemlich viel Öl. Und du solltest vielleicht mal deine ganzen Krümel aufessen, hm?“
Sie zwinkerte mir zu, und als ich sie nur perplex angaffte, deutete sie mit dem Kinn auf die Brotbrocken, die vor mir lagen. Ich hatte, während ich ihr zuhörte, unbemerkt mein ganzes Brot zerpflückt. Langsam machte ich mich daran, die Brocken aufzuklauben und zu einer festen Masse zusammenzupressen. Sprechen konnte ich gerade nicht, mein Mund war ganz trocken. Die Wahrheit war, ich war baff. Absolut verblüfft von Eddas Ansage. Sie ging glatt als kleine Motivationsrede durch. So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen, schon gar kein Mädchen. Alle hatten mir immer gesagt, wie toll ich war, keine hatte sich je die Mühe gemacht, mir zu verklickern, dass ich besser sein könnte, wenn ich mich anstrengte.
Unsere Tapas kamen, dampfend und duftend, und mir lief das Wasser im Munde zusammen, mein Magen knurrte laut. Rasch schob ich mir den Brotklumpen in den Mund, rückte die Ölschüssel beiseite, um Platz für den vollen Tapasteller zu machen, und beobachtete Edda dabei, wie sie es mir gleichtat.
Nachdem wir wieder allein waren, räusperte ich mich. „Wow“, brachte ich schwach hervor, „das war mal ’ne Ansage. Du hast mir mächtig den Kopf gewaschen, weißt du das?“
„Na ja“, Edda zuckte lässig die Achseln und griff nach dem ersten Tapasspieß, „anders begreifst du es ja nicht.“ Sie lächelte mir zu und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund. Kurz darauf wedelte sie heftig mit der Hand vor ihrem Mund herum und japste keuchend: „Himmel, ist das scharf, ich kann gleich Feuer spucken.“
„Soll ich Wasser holen? Oder Milch?“, fragte ich hilfsbereit und sah mich bereits nach einem der Kellner um.
Edda winkte bescheiden ab und tupfte sich den Mund mit einer Serviette sauber. „Danke, nicht nötig, schon gut. Herrje, sind diese Teile würzig. Willst du mal probieren?“
Als mir von ihren scharfen Kartoffeln die Augen tränten und das Fett meiner bestellten Nieren um ihren Mund herum verteilt war, fingen wir eine lockere, gesittete Unterhaltung an, ohne uns gegenseitig irgendwelche Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Ich erzählte ihr, wie ich wirklich entdeckt worden war, von meinem Geburtstag und dem vergangenen Jahr. Irgendwann kamen wir dann auf unsere Schulzeit zu sprechen, sie berichtete mir, wie sie mit diesem Timo zusammengekommen war und warum Olivia sie so abgrundtief hasste.
„Olivia kann niemanden leiden, der klüger ist als sie“, schloss sie ihren Bericht ab.
Ich zuckte die Achseln. „Dann hasst sie die ganze Welt. Dümmere Geschöpfe als Olivia wären kaum lebensfähig.“
Darüber lachte Edda sich kaputt, hielt sich regelrecht den Bauch vor Lachen und hing mit dem Oberkörper halb in den Tapas. Sie hatte Grübchen und unzählige Lachfältchen um die Augen, eine kleine Mulde am Kinn und ihre Augen blitzten, wenn sie so lachte. Das gefiel mir, sehr sogar. Sie war süß. Sie war klug. Und sie war gut darin, mich auf andere Gedanken zu bringen und mich aufzumuntern. Mit einem Mal fragte ich mich, wie der blöde Streit vorhin überhaupt zustande gekommen war, und es erschien mir geradezu lächerlich, sie einfach stehen zu lassen, sobald die Tapas verspeist waren. Nein, ich würde diesen Tag mit ihr verbringen ‒ wenn sie damit einverstanden war ‒ und mich überraschen lassen, was noch alles in ihr steckte. Ich mochte Mädchen, die vielseitig und nicht so leicht zu durchschauen waren. Sie war anders als all die anderen, mit denen ich bisher zusammen gewesen war. Ein echter Kumpeltyp.
„Sag mal“, ich leckte mir etwas Soße von der Unterlippe, „würdest du nachher gerne mit mir schwimmen gehen? Ich meine, es ist so heiß, was anderes als schwimmen macht kaum Sinn. Vielleicht gelingt es mir sogar, irgendwo ein Surfbrett aufzutreiben, dann könnte ich noch etwas üben. Was meinst du?“
Edda blinzelte verdutzt, sah aber alles in allem erfreut aus, wie ich begeistert feststellte. Ich hatte es mir also nicht endgültig mit ihr versaut.
„Also, an sich gerne, aber ich wollte heute eigentlich in den Park Güell, weißt du. Es ist unglaublich, dass ich schon seit zwei Wochen hier bin und es nicht geschafft habe, dahin zu gehen. Heute hatte ich mir das fest vorgenommen, sonst kommt mir doch immer wieder etwas dazwischen.“
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, ich wollte so gerne mehr Zeit mit ihr verbringen. Es war ein Gefühl in meiner Brust, das mir sagte, dass es mir guttäte, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Sie brachte mich auf den rechten Weg.
Nachdem ich ein großes Stück Niere runtergeschluckt hatte, räusperte ich mich und sagte: „Wie wäre es mit einem Kompromiss, erst gehen wir in den Park, in dem ich übrigens auch noch nie war, und dann schwimmen? Und eventuell windsurfen?“
Gespannt wartete ich auf ihre Antwort. Sie ließ sich Zeit damit, dachte lange darüber nach und ich befürchtete schon, dass sie Nein sagen würde, doch dann lächelte und nickte sie. „Gut, abgemacht. Erst Park, dann schwimmen. Klingt nach einem spaßigen Nachmittag.“
Ich grinste sie an. „Auf jeden Fall. Mit mir ist es immer spaßig, Ed.“
„Darauf verwette ich meinen rechten Arm, Waldoff.“ Sie grinste schelmisch zurück und deutete auf meinen leeren Teller. „Fertig?“
„Fertig.“ Ich zog schwungvoll meinen Geldbeutel aus der Hosentasche. „Ich zahle.“
Sie schmunzelte. „Das hätte ich jetzt auch erwartet.“
Ich wusste, dass es ein Scherz war. Aber ich zahlte gerne für sie.
Später an diesem heißen Nachmittag schlenderten wir gemeinsam, Seite an Seite, durch den wunderschönen Park Güell. Ich hatte Edda mein Jackett gegeben und sie hatte es sich um die Hüfte gebunden, weil ich der Meinung war, dass es bei Männern dämlich aussah, wenn sie eine Jacke um die Taille trugen. Edda machte das gerne für mich.
Wir hatten zuvor noch einen raschen Abstecher zur Sagrada Familia gemacht, um ein paar Fotos zu schießen, und auch wenn wir nicht im Inneren gewesen waren, weil die Schlange davor locker bis nach Madrid reichte, bot diese von Gaudi im Jahre 1882 erbaute römisch-katholische Basilika auch von außen einen umwerfenden Anblick. Trotz der vielen Baukräne und Gerüste rings ums Gebäude herum. Ich hatte mal gehört, die Basilika sollte planmäßig im Jahre 2026 fertiggestellt werden, pünktlich zum 100. Todestag des Bauherrn.
Nun liefen wir den von Bäumen, Palmen und bunten Blumen gesäumten Weg entlang, Edda hatte aus ihrer Handtasche einen kleinen Fotoapparat hervorgezaubert und knipste eifrig.
Wir kamen an einer Ansammlung von Männern vorbei, die auf ausgebreiteten Decken Hüte, Sonnenbrillen, Fächer oder selbst gemachten Schmuck verkauften. „Nur fünf Euro!“, riefen sie uns, natürlich auf Spanisch, zu und zeigten mit großer Geste auf ihre dargebotenen Schätze. „Fünf Euro! Eine Sonnenbrille, der Herr? Ohrringe für die schöne Frau?“
Edda knipste die Verkäufer mitsamt ihren Waren und ein großer, muskulöser Schwarzer mit unzähligen Lederbändern um Hals und Arme brachte sich grinsend in Stellung, posierte für sie und hielt seine unzähligen in allen Farben und Formen vorhandenen Sonnenbrillen hoch.
„Na, chica“, er grinste Edda gewinnend an, „wie wär’s?“
Edda gab nach, kniete sich hin und begutachtete die Brillen eingehend. Sie nahm einige in die Hand und setzte sie auf. „Wie sehe ich aus?“, fragte sie jedes Mal und holte sowohl meine als auch die Meinung des Verkäufers ein. Es gefiel mir, wie sie mit ihm Witzchen machte und herumalberte, ganz locker und wie selbstverständlich. Schließlich kaufte sie eine schwarze Brille mit runden Gläsern und Glitzersteinchen an den Bügeln. Er verlangte sieben Euro, Edda gab ihm zehn und schenkte ihm den Rest.
Er strahlte. „Usted es muy guapa“, verkündete er fest.
Edda strahlte. „Gracias“, sagte sie inbrünstig.
In der Tat, sie war sehr hübsch.
Wir verabschiedeten uns von dem netten Verkäufer und setzten unseren Weg fort. Die ganze Zeit über trug Edda die Sonnenbrille, ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war absolut bezaubernd und ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Ihre lange feurig rotgoldene Mähne reichte mittlerweile fast bis zum Hintern, der zwar recht klein und knochig, allerdings dennoch appetitlich war.
Und diese Lebenslust und Freude, die sie ausstrahlte, wirkte auf mich äußerst anziehend.
„Chris, sag mal, hab ich irgendwas im Gesicht kleben?“ Sie blieb stehen und sah mich fragend an.
Verblüfft schüttelte ich den Kopf. „Nein, alles gut. Äh, wieso?“
„Na, weil du mich die ganze Zeit so anstarrst“, erwiderte sie. „Wenn du nicht aufpasst, stolperst du noch über deine eigenen Füße.“
Mist, sie hatte mich voll erwischt. „Blödsinn!“ Schnell legte ich ihr einen Arm um die Schultern und zog sie weiter. „Ich hab nur deine schicke neue Sonnenbrille bewundert, darum beneide ich dich echt.“
„Ja, ja.“ Sie lachte und verpasste mir einen sanften Rippenstoß, doch sie schüttelte meinen Arm nicht ab. Sie war recht klein, ihr Haaransatz reichte gerade mal bis knapp unter meine Achselhöhle.
Wir sahen uns das Wohnhaus Gaudis an, das sich ebenfalls im Park befand, genossen den Ausblick vom großen Terrassenplatz aus, dessen Begrenzung gleichzeitig als Sitzgelegenheit diente. Die Mauer an sich war ein kleines Kunstwerk, denn sie bestand aus kleinsten Keramik- und Kristallsteinchen und war in Mosaikmustern angelegt. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was das für eine Fusselarbeit gewesen war. Dafür verdiente der Künstler, Josep Maria Jujol, meinen größten Respekt.
Familien, Liebespärchen und Senioren lungerten ebenfalls hier herum, machten Fotos, genossen den Ausblick und strichen ehrfürchtig über das Mosaikmuster. Musikanten gaben ein klasse Gitarrenkonzert und es roch nach frischer Farbe, da sich eine Handvoll Maler mit Staffeleien und Farbpaletten hier tummelten, die all die schönen Pförtnerhäuser mit den Zuckergussdächern oder die Wasserspeier zeichneten, die hier überall herumstanden.
Wir sahen uns den Turm der Portierloge an und den aus bunten Mosaiksteinen zusammengesetzten, Wasser speienden Salamander, an dem ich einen Narren gefressen hatte. Edda fotografierte gefühlte hundertmal die Haupttreppe. Schließlich wurden wir fast von einem Haufen Japaner überrannt, die eng aneinandergepresst wie eine aufgeregte Schar Hühner dastanden und wie von Sinnen Fotos schossen.
„Gib mal her.“ Grinsend entwand ich Edda den Fotoapparat und fotografierte das lustige Grüppchen, das beim Anblick der Terrasse und des Mosaiksalamanders völlig aus dem Häuschen geriet.
Edda klapste mir auf den Arm. „Chris, was machst du schon wieder für einen Unfug?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht, ihre Backen waren von der Hitze gerötet, ihr Haar klebte am Kopf, sie sah absolut niedlich aus, so niedlich, dass ich mich hinabbeugte und ihr einen Kuss auf die überhitzte Wange gab. Es kam einfach so über mich, geschah, ohne dass ich groß nachdachte. Edda war mir so vertraut, obwohl wir uns eigentlich gar nicht kannten, bei ihr konnte ich einfach ich selbst sein, musste nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, ich konnte reden, ohne zu denken, und Dummheiten machen in dem Wissen, dass sie es mir nicht übel nehmen würde.
Jetzt nahm sie den Fotoapparat wieder an sich und lächelte mich lieblich an. „Ich finde, wir sollten ein Foto von uns machen, oder? Schließlich ist das ein denkwürdiger Tag.“
„Ja“, ich lachte, „die Streberin und der Aufreißer zusammen in Barcelona, ein Herz und eine Seele.“
Dafür bekam ich wieder einen Rempler und ein missbilligendes Zungenschnalzen. „Sehr witzig, Waldoff. Ich war keine Streberin, sondern einfach nur klug. Aber mit überbordender Intelligenz bist du ja nicht geschlagen, deshalb nehme ich dir den Neid nicht übel.“ Ich verpasste ihr eine sachte Kopfnuss, sie lachte und schlug im Spaß meine Hand weg. „Komm, ich frag den Mann da drüben mal, ob er ein Foto von uns macht.“
Gesagt, getan. Keine Minute später hielt ich sie im Arm, während ich mit meinem professionellen Modelgrinsen und einem frechen Glitzern in den Augen in die Linse sah. Edda schmiegte ihren Kopf an meine Schulter und lehnte sich zutraulich gegen mich. Es fühlte sich gut an, dass sie mir vertraute. Ich mochte das Gefühl von ihr in meinem Arm. Es fühlte sich irgendwie ... richtig an.
Bevor mir auch noch ein kitschiger Spruch über die Lippen kam, löste Edda sich wieder von mir und nahm die Kamera an sich. Sie bedankte sich bei dem Fotografen, stopfte die Kamera in die Hülle und nickte mir zu. „So, ich glaube, das hätten wir. Wir haben alles gesehen, oder?“
„Das meiste schon“, sagte ich erschöpft, aber zufrieden. Meine Füße fühlten sich an, als wäre ich den Jakobsweg an einem Tag gelaufen, und an meiner rechten Ferse entstand eine Blase. Aber es hatte Spaß gemacht, die Zeit war wie im Flug vergangen. „Lass das Foto bloß deinen Freund nicht sehen“, legte ich ihr ans Herz, als wir den Rückweg antraten, „sonst wird er noch eifersüchtig und macht dir eine Szene.“
Edda rollte mit den Augen. „Wir sind so gut wie getrennt, was ich mit wem mache, geht ihn also überhaupt nichts an“, verkündete sie bockig. Die Antwort befriedigte mich sehr.
Am Ausgang kauften wir uns je eine Flasche Wasser für einen Euro bei einem der Verkäufer und gemächlich machten wir uns auf den Rückweg.
„Ich muss schnell noch ins Hotel und meine Badehose holen, bei der Gelegenheit frag ich mal an der Rezeption nach, wo es hier einen Surfbrettverleih gibt“, sagte ich. „Hoffen wir, dass uns nicht auch noch ein Surflehrer aufgebrummt wird. Kommst du schnell mit ins Hotel?“ Sie nickte und ich legte wieder den Arm um sie. „Was ist mit dir, gehst du in Unterwäsche ins Wasser?“
„Das würde dir so passen.“ Sie kniff mich in die Seite. „Ich hab den Bikini drunter.“
Bei so viel Klugheit und Weitsicht verschlug es mir glatt die Sprache.
Natürlich bekamen wir einen Windsurflehrer aufs Auge gedrückt, was mich anfangs zwar nervte, doch schließlich erwies es sich als ein Riesenglück. Das Hotel vermittelte uns zu einem Surfbrettverleih, der auch am späten Nachmittag noch geöffnet und sowohl erstklassige Bretter als auch super Surflehrer hatte. Voraussetzung fürs Alleinesurfen war das Vorlegen eines Surfscheins, den man allerdings nur besaß, wenn man surfen konnte. Da dies nicht der Fall war, blieb mir nichts anderes übrig, als das spontane Angebot eines übereifrigen Surflehrers anzunehmen, der uns zum halben Preis eine Stunde geben wollte.
Emilio hieß er, war groß und fest gebaut, muskulös und in Topform, er könnte zwei Surfbretter und darauf thronende Models problemlos stemmen. Er hatte kurzes kohlrabenschwarzes Haar und dunkle, fast schwarze Augen, die Edda von oben bis unten musterten. Unwillkürlich zog ich sie fester an mich, es gefiel mir nicht, dass er sie so offensichtlich anmachte. Am Ende würde sie noch mit ihm anbandeln und dann stand ich allein da.
Aber auch ich kam auf meine Kosten. Der Strand war bevölkert mit sexy Latinamädchen in knappen Bikinis, alle kurvig und an den richtigen Stellen üppig, und ich ahnte, dass es mir schwerfallen würde, mich aufs Surfen zu konzentrieren.
Anfangs war es ein einziger Reinfall, ich platschte in einem fort ins Wasser und zog mir dabei unzählige blaue Flecken zu, während Edda schon nach kurzer Zeit den Bogen raushatte und jauchzend das Segel aus dem Wasser hievte.
„Schau, Emilio, ich kann’s, ich kann’s!“, jubelte sie, als sie mit sicherem Stand gen Horizont surfte und ich zum wiederholten Mal ein unfreiwilliges Bad nahm.
Nachdem ich es geschafft hatte, meine wilden Sexfantasien mit all den Mädels hier zurückzupfeifen und mich auf das zu konzentrieren, was wichtig war, nämlich das Surfen und meine Karriere, kam auch ich endlich vom Fleck.
Eine ganze Weile surften wir so hin und her, drehten unser Segel in den Wind und veränderten unsere Stehposition, der Wind kühlte angenehm meinen schweißbedeckten Körper. Am Ende der Stunde spürte ich zwar jeden Muskel, war aber guter Dinge, das Casting zu bestehen. Mein Aussehen und mein Talent würden mir diesen Job sichern, und wenn das alles nicht reichte, würde ich meinen unvergleichlichen Charme spielen lassen. Vor dem war keiner gefeit. Irgendwie würde ich das hinkriegen, zur Not musste ich einfach improvisieren. Sämtliche Versagensängste des Nachmittags waren wie weggeblasen, ich fühlte mich jung, wild und unbezwingbar.
Nachdem ich für mich und auch für Edda die Surfstunde bezahlt hatte, gingen wir noch eine Runde schwimmen.
Es war fast Mitternacht, als wir beschlossen, dass es nun genug war. Ich fühlte mich erholt, zufrieden und übermütig und Edda schien es ähnlich zu gehen. Verwegen grinsend strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und rückte den tiefen Ausschnitt ihres Kleides zurecht. „War ein schöner Tag heute“, meinte sie und ich konnte nur zustimmen.
„Ja, war es. Nur schade, dass wir uns am Anfang immer streiten müssen“, merkte ich grinsend an. „Aber wer weiß, vielleicht brauchen wir einfach was, das die Gemüter so richtig aufheizt, bevor wir locker zusammen abhängen können.“
„Ja“, sie nickte, „vielleicht.“
Wir wussten nicht genau, wie wir uns voneinander verabschieden sollten. Außerdem war ich mir unsicher, ob ich nach ihrer Handynummer fragen sollte oder eher nicht. Wollte sie mich denn wiedersehen? Wollte ich sie wiedersehen? Oder sollten wir es bei diesem einen schönen Tag belassen? Ich hatte Spaß gehabt, sie war ein cooles Mädchen, aber ...
Nein. Kein Aber. Ich wollte sie wiedersehen, so viel stand fest. Ich spürte deutlich, dass es ein Fehler wäre, wenn ich zuließe, dass wir uns aus den Augen verloren.
„Sag mal ...“ Ich scharrte verlegen mit dem Fuß im Sand herum, obwohl ich sonst absolut kein Problem damit hatte, mir die Handynummer eines Mädchens zu besorgen, war ich jetzt richtig nervös. Was, wenn sie Nein sagte? Würde mir das was ausmachen? Scheiße, ja, das würde es. „Sag mal, gibst du mir deine Handynummer oder sollen wir abwarten, ob das Schicksal uns noch mal zusammenführt?“
In meinem Kopf hatte das wie ein cooler, flotter Spruch geklungen, der mir leicht über die Lippen kam, doch ausgesprochen klang er irgendwie kitschig und ging in eine romantische Richtung, in die ich gar nicht wollte.
Edda kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, rieb sich die Stirn und sah mich dann entschlossen an. „Ich gebe dir meine Handynummer. Und du mir deine, ja? Und wenn das Schicksal es gut mit uns meint, werden wir uns sowieso wiedersehen, ob verabredet oder nicht.“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, errötete sie. Ha! Sie fand mich toll. Sie wollte mich wiedersehen.
Grinsend zückte ich mein Handy und streckte die Hand nach ihrem aus. Sie reichte es mir zögernd. Ich speicherte meine Nummer in ihrem Telefon ein und sie ihre in meinem Gerät. Kaum hatte ich das erledigt, summte ihr Handy leise in meiner Hand und das Symbol für SMS leuchtete auf. Neue Nachricht.
„Hier, ’ne SMS für dich“, meinte ich, „bestimmt von deinem Lover. Er muss irgendwie gespürt haben, dass ich mit dir abhänge.“
„Erzähl keinen Blödsinn.“ Schnell schnappte sie mir das Handy weg und steckte es, ohne die SMS eines Blickes zu würdigen, in ihre Tasche. Dann holte sie tief Luft, trat dicht an mich heran und umarmte mich. Ich konnte ihre Rippen spüren, ihre hervorstehenden Knochen. Gott, das Mädel musste dringend zulegen. „Nacht, Chris. Danke für den tollen Tag.“ Sie trat zurück, lächelte verlegen. „Es hat Spaß gemacht. Mehr als erwartet.“
Ich grinste. „Mit mir hat man immer Spaß, Rotschopf. Darauf kannst du dich verlassen.“
Sie blinzelte. „Na dann. Vielleicht sehen wir uns ja die Woche noch.“
„Ja, vielleicht“, sagte ich unbestimmt und hoffte doch, dass wir uns recht bald wiedertrafen.
„Sag mir Bescheid, wie das Casting gelaufen ist. Du Supersurfer.“ Sie lächelte freundlich, ich grinste gequält.
„Ja. Ich hoffe, die blauen Flecken verheilen bis übermorgen. Wasser ist ziemlich hart.“ Edda nickte, dann gähnte sie. Es wurde Zeit fürs Bett. Wir bewegten uns langsam in unterschiedliche Richtungen.
Ich hob die Hand und winkte. „Nacht, Rotschopf. Bis dann.“
„Nacht, Waldoff. Man sieht sich.“
***
Edda: „Und, wie ist Bayreuth?“ Ich klemmte mir den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter, während ich mir die Schnürsenkel zuband.
„Ganz nett so weit. Ich war noch nicht so viel draußen unterwegs, weißt du. WG, Supermarkt,
Uni ... das ist so meine Route tagein, tagaus“, antwortete Kim.
Verwundert hakte ich nach: „Keine Studentenpartys?“
„Doch, aber die meisten finden bei uns statt. Meine Mitbewohner sind ein recht feierwütiges Völkchen, weißt du. Vor allem Mike, unser Schwuler, geht ab wie Schnitzel. Übrigens, ich hab einen neuen Freund.“
Fast fiel mir der Hörer runter, im letzten Moment konnte ich ihn noch greifen. „Echt? Ist ja Wahnsinn. Wer denn? Wie denn? So schnell ... ich meine, du bist doch erst acht Wochen da.“
„Tja“, ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme, „war quasi Liebe auf den ersten Blick. Gesehen, verliebt, zusammen. Einer aus meiner Uni, er heißt Leon und ist so was von scharf, das glaubst du nicht. Ich schreib dir mal ’ne E-Mail und füge ein Foto von ihm als Anhang hinzu, ja?“
„Tu das“, erwiderte ich. „Ich kann’s kaum erwarten. Und was hast du an diesem Abend noch so vor?“
„Es ist Freitag, also ist die Antwort ja wohl klar: Party! Leon kommt in einer halben Stunde vorbei und bringt ein paar seiner Kumpel mit. Annika und Vivien sind noch beim Shoppen, aber die wollten auch ein paar Mädels und Typen aus ihren Kursen mitbringen und Mike hat wahrscheinlich die halbe Studentenvereinigung zu uns nach Hause eingeladen, wir können nur hoffen, dass das keinen Ärger mit dem Vermieter gibt.“ Sie seufzte gespielt sorgenvoll, doch an ihrem Tonfall und der Art, wie sie erzählte, hörte ich deutlich heraus, dass sie rundum glücklich war mit ihrem Leben. Das freute mich für sie.
Ich vermisste sie wahnsinnig, seit sie fort war. Als ich vor knapp zwei Monaten aus Barcelona zurückgekommen war, war sie so gut wie auf dem Sprung gewesen. Ich hatte ihr dabei geholfen, die letzten Kisten zu packen, und hatte sie auf ein Abschiedseis in unserer Lieblingseisdiele eingeladen. Es war ein geradezu feierlicher, aber auch sehr trauriger Moment gewesen. Wir waren beide sentimental und melancholisch geworden und hatten uns heulend in den Armen gelegen ‒ eine Ära ging zu Ende. Vor uns lag das pure, reine Leben mit all seinen Herausforderungen und Überraschungen und wir blickten beide sowohl gespannt als auch angespannt in die Zukunft.
Dann war Kim abgefahren, nach Bayreuth, und ich blieb zurück mit schwerem Herzen und einem tapferen Lächeln auf den Lippen.
Wir telefonierten fast täglich, die Telefonrechnung würde horrend sein, aber ich musste unbedingt hören, wie es ihr ging und welche Abenteuer sie in der neuen Stadt erlebte.
Bei mir hielten sich die Abenteuer in überschaubaren Grenzen, ich machte derzeit ein bezahltes Praktikum in einem Kindergarten, und obwohl ich Kinder liebte, gingen sie mir bald schon tierisch auf die Nerven. Aber ich hatte einfach nicht gewusst, was ich mit meinem Leben, meiner Zeit anfangen sollte, hatte daher im Internet nach einer Lösung gesucht und war schließlich auf eine Seite gestoßen, deren Betreiber Au-pair-Auslandsaufenthalte in Australien, Kanada, Neuseeland, Irland, England und Frankreich anbot. Ich hatte mich genauer informiert, eine E-Mail hingeschrieben und schließlich hatte ich mich dazu entschieden, im nächsten Jahr als Au-pair ins Ausland zu gehen. Ich hatte meine Bewerbung bereits abgeschickt. Es war eine richtig dicke Mappe geworden, unter anderem waren darin mein Abiturzeugnis und zwei Charakterzertifikate, eines erstellt von meinem ehemaligen Klassenlehrer Herrn Feist, der in den höchsten Tönen von mir schwärmte und mich mit den Adjektiven zuverlässig, hilfsbereit, engagiert und lebensfroh ausgezeichnet hatte, das andere stammte von unserer Nachbarin Frau Heider, deren Jungs ich früher gebabysittet hatte. Auch sie bewertete mich ausgezeichnet. Die 200 Stunden praktische Erfahrung in der Kinderbetreuung bekam ich durch das Jahr, das ich nun im Kindergarten arbeiten würde, zusammen und hatte eine vorläufige Bestätigung ausgestellt bekommen. Mein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis hatte ich beigelegt. Die Bestätigung, dass die Bewerbung angekommen war, hatte ich vor zwei Wochen erhalten, seitdem hatte sich nichts mehr getan und ich wartete ungeduldig auf Neuigkeiten.
Das Reisen fehlte mir wahnsinnig, ich vermisste es, jeden Tag Neues zu entdecken, neue Leute kennenzulernen, einfach in den Tag hineinzuleben. Ich hatte mich noch nicht wieder ganz an das normale Alltagsleben gewöhnt, manchmal langweilte ich mich entsetzlich und versank in Tagträumen, die mich direkt vom Kindergarten oder von meinem Zimmer aus auf eine Insel irgendwo in der Karibik oder in eine aufregende Großstadt irgendwo in Europa brachten.
Das Kindergartenpraktikum machte ich zum einen, weil ich Erfahrungen in Sachen Kinderpflege und -betreuung brauchte, um den Au-pair-Job antreten zu können, zum anderen des Geldes wegen. Und natürlich wollte ich nicht das ganze Jahr untätig zu Hause herumsitzen und Löcher in die Decke starren. Außerdem hatte ich über das Gespräch mit Chris nachgedacht, das wir in Barcelona am Strand geführt hatten, dass ich die Welt zu einem besseren Ort machen wollte. Da war es doch am besten, wenn ich bei den Wurzeln anfing, in dem Fall bei den Kindern. Auf sie hatte ich noch Einfluss, ihnen konnte ich beibringen, was richtig und was falsch war, sie konnte ich lehren, dass man andere Menschen nicht schlagen oder beißen durfte, und ich konnte ihnen Liebe und Zuneigung geben und ihnen zeigen, dass mit ihrer Hilfe und der richtigen Einstellung die Welt ein schönerer, besserer, gerechterer Ort werden konnte.
„Das hast du dir ja fein ausgedacht“, hatte Chris bei einem unserer Telefonate scherzhaft gesagt, „wälzt die ganze Verantwortung auf die Nachkommen ab und kannst später behaupten, es wäre dein Verdienst, dass es so viele kleine Retter auf der Welt gibt.“
Obwohl er es nicht böse gemeint hatte, fühlte ich mich geohrfeigt und ging auf ihn los. Manchmal trieb er mich mit seiner großen Klappe wirklich zur Weißglut. „Im Übrigen ist jedes Kind, das keine Ringelnatter tottritt, eine Bereicherung für die Welt“, beendete ich schließlich meine Schimpftirade. „Rettest du nur ein Leben, rettest du die ganze Welt. Sagt man so.“
„Ja, ja, ist schon gut“, sagte Chris beschwichtigend und seufzte. „Meine Güte, du bist vielleicht launisch. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass ich gerade bei einer Kampagne gegen Pelz mitgemacht habe. Der Slogan lautet: Natürlich schön ‒ trag deine eigene Haut! Was sagst du, das ist doch auch ’ne Heldentat, oder? Vielleicht denken ein paar Menschen mal drüber nach, wenn sie mich quasi als Vorbild über den Bildschirm flimmern sehen.“
„Ja, ganz bestimmt“, meinte ich ironisch. „Die zwei Minuten zwischen der Hundefutterwerbung und der Sexszene im Abendprogramm bleiben bestimmt im Gedächtnis der Leute haften.“
„So, du Stubenhockerin, mich würde jetzt eher mal interessieren, was du heute Abend so machst“, riss Kim mich aus meinen Gedanken und katapultierte mich ins Hier und Jetzt zurück. „Wie sieht’s aus, gehst du auch aus?“
„Ja, tue ich tatsächlich. Ich gehe ins Kino“, erzählte ich und kam mir albern vor, weil ich tatsächlich stolz darauf war, dass ich an einem Freitagabend mal nicht zu Hause herumgammeln würde.
„Echt? Super. Mit wem, in welchen Film?“
„Mit Marlene, das ist eine Kollegin aus dem Kindergarten, wir wollen uns Fluch der Karibik ansehen.“
„Oh, cool, der Film ist richtig super, da war ich letzte Woche mit Annika und Vivien drin. Captain Jack Sparrow wird von Johnny Depp gespielt, der ist so was von heiß. Und Orlando Bloom ist ...“
„Stopp!“, unterbrach ich sie aufgeregt. „Nun verrate doch nicht alles, wo bleibt denn sonst die Spannung? Im Übrigen weiß ich, dass Johnny Depp den Captain spielt, und Orlando Bloom heißt Will Turner und schmiedet Schwerter, wenn ich das im Kinoprogramm richtig gelesen habe.“
„Hast du“, antwortete Kim zufrieden, „ich wünsche dir viel Spaß, Süße. Der Film ist der Hammer!“
Einen Moment lang schwiegen wir, ich warf einen kurzen Blick durch das Fensterviereck in der Tür, um zu sehen, ob Marlenes roter Opel schon in der Einfahrt stand, doch sie war noch nicht in Sicht.
„Hast du mal wieder was von Timo gehört?“, wollte Kim vorsichtig wissen.
Ich seufzte leise. Timo und ich hatten uns kurz nach meiner Rückkehr einvernehmlich getrennt und beschlossen, Freunde zu bleiben. Es war eine sehr friedliche, erwachsene Trennung gewesen, ohne viel Drama. Zum Abschied hatten wir uns ein letztes Mal geküsst und einander ganz fest gehalten. Zu Hause waren mir dann die Tränen gekommen und ich hatte den ganzen restlichen Tag geweint, weil es sich doch irgendwie seltsam anfühlte, Schluss zu machen, zumal mit einem Menschen, den ich so sehr liebte wie Timo. Auf freundschaftlicher Ebene.
Er hatte mir an jenem Abend, als ich zum ersten Mal mit Chris unterwegs gewesen war, eine SMS geschrieben. Er hatte bekundet, dass ihm unser Streit leidtäte und er sich wie ein absolutes Arschloch verhalten hätte. Und dass er mich natürlich nicht betrogen hätte. Zumindest nicht wirklich. Er gab zu, mit einem anderen Mädchen herumgeknutscht zu haben, schwor aber hoch und heilig, dass er nicht mit ihr im Bett gewesen sei, und meinte, wir sollten in Ruhe darüber reden, wenn wir beide wieder in Köln wären.
Die Tatsache, dass er eine andere geküsst hatte, tat weniger weh als erwartet. Es versetzte mir lediglich einen leichten Stich ins Herz, dieser Vertrauensbruch machte mir zwar schwer zu schaffen, rief aber keinen unerträglichen Schmerz oder kochende Wut in mir hervor. Ich empfand nur eine große Erschöpfung in diesem Moment.
Die restlichen zwei Wochen in Barcelona verbrachte ich, wann immer es mir möglich war, mit Chris, ganz ohne schlechtes Gewissen gegenüber Timo.
Chris hatte den Job bei dem Sportmagazin leider nicht bekommen, aber er war auch nicht von seinem Agenten gefeuert worden. Es war, wie ich gesagt hatte, die Anstrengung und der Wille zählten. Joachim, der Agent, rief Chris an und teilte ihm mit, dass er stolz auf ihn sei, weil er endlich erkannt habe, worum es wirklich ginge. Offenbar hatte er von der Jury des Sportmagazins gutes Feedback bekommen.
Die Zeit mit Chris war etwas ganz Besonderes für mich, sie war geprägt von Spaß, abenteuerlichen Touren quer durch die Stadt und einer Menge Unsinn. Die zwei Wochen rasten vorüber und dann wurde es Zeit, Abschied zu nehmen ‒ von der Stadt und meinem neuen Kumpel. Wieder mal flossen bei mir Tränen. Es fiel mir schwer, ihn gehen zu lassen, denn wir hatten quasi jede freie Minute zusammen verbracht in den letzten vierzehn Tagen. Chris war mir ans Herz gewachsen, ich vermisste ihn schmerzlich. Mit ihm verstrich ein Tag so schnell wie eine Minute. Ein Wimpernschlag und der Tag war um.
„Nein“, beantwortete ich Kims Frage, „seit der Trennung nicht mehr. Das war vor sieben Wochen. Wir wollten Freunde bleiben, aber irgendwie gehen wir jetzt beide auf Abstand. Ist vielleicht vorerst besser so. So wird keiner von uns verletzt.“
„Liebst du ihn denn noch?“, fragte sie einfühlsam.
„Ein Teil von mir wird ihn immer lieben und ich liebe ihn als Freund“, erklärte ich. „Ich vermisse ihn als Freund. Wir haben früher viel zusammen unternommen, er konnte mich immer zum Lachen bringen.“
Bei mir dachte ich, dass nun Chris derjenige war, der mich zum Lachen brachte, doch ich sprach es nicht laut aus. Es hätte sich angehört, als hätte ich Timo ersetzt.
„Vielleicht solltest du euch beiden ein wenig Zeit geben, euch an die neue Situation zu gewöhnen“, meinte Kim nachdenklich. „Ich meine, es ist ja auch kompliziert bei euch. Erst wart ihr jahrelang Freunde, dann zwei Jahre ein Paar, ein Jahr davon habt ihr euch gar nicht gesehen ... Ich glaube, keine Beziehung hätte das verkraftet.“
„Doch“, dachte ich resigniert, „wenn es die wahre Liebe gewesen wäre.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte ich.
„Na ja“, Kim wechselte das Thema, „wie sieht’s eigentlich mit dem Sexy Boy aus, kommt Chris dich nun besuchen oder nicht?“
Ich fing automatisch an zu strahlen, fast zerriss mir das Gesicht. „Hm, ja. In zwei Wochen ist er wegen eines Shootings hier in Köln und dann werden wir uns sicher mal über den Weg laufen.“
„Ja, ganz sicher.“ Kim lachte. „Du bist mir eine, Süße! Hast dir das Sahneschnittchen gekrallt, unfassbar. Aber sag, ist das zwischen euch beiden wirklich alles rein platonisch?“
„Ja“, erwiderte ich fest und ignorierte das Kribbeln im Bauch, „noch mehr Platon geht nicht. Glaub mir, zwischen uns herrscht null sexuelle Spannung, wir sind einfach nur Freunde.“
„Hm.“ Wirklich überzeugt klang Kim nicht. „Ich weiß nicht, eine Freundschaft zwischen Männern und Frauen, ist das überhaupt möglich?“
„Natürlich“, antwortete ich überzeugt, „das geht. Warum denn nicht? Verspürst du bei jedem Mann, den du zu Gesicht bekommst, das Bedürfnis, ihm die Kleider vom Leib zu reißen und ihn mit ins Bett zu nehmen?“
„Nein, nicht bei jedem, aber ich wundere mich doch sehr über deine Zurückhaltung. Ich meine, wie lange hast du keinen Sex mehr gehabt, über ein Jahr? Und bisher hast du nur mit einem Kerl geschlafen oder hab ich was verpasst?“
„Nein“, murmelte ich verlegen. „Also, ja, es gab bisher nur Timo. Und ja, ich hab schon lang nicht mehr. Über ein Jahr ...“
Kim schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ich frage mich, wie du das aushältst. Ich meine, Sex ist doch so was von geil. Findest du nicht? Falls du anderer Meinung bist, hat der gute Timo was falsch gemacht, dann muss ich mal ein Hühnchen mit ihm rupfen.“
„Nein, Kim, untersteh dich!“, rief ich erschrocken und lief rot an. „An Timo liegt es wirklich nicht. Zwischen uns war alles prima, der Sex war sehr schön und ... ja, den vermisse ich. Ein bisschen wenigstens. Aber ich bin Single, da gestaltet sich das schwierig.“
„Na, dann such dir doch einen Freund“, rief Kim ungeduldig, als läge es glasklar auf der Hand, dass ich das tun musste. „Du bist jung, frei, schön und ungebunden, du lebst in einer der vier größten Städte Deutschlands, da wird sich ja wohl einer finden lassen.“
„Ich kann mich nicht auf Knopfdruck verlieben“, meinte ich unbehaglich.
Kim schnaubte. „Wer redet denn vom Verlieben? Babe, du brauchst einfach jemanden, mit dem du’s mal so richtig treiben kannst, damit du wieder lockerer wirst und dich besser fühlst.“
Also wirklich, manchmal war Kim echt unmöglich!
Ich wickelte mir eine Haarsträhne um den Finger, während ich geduldig die alte Leier aufsagte: „So bin ich nicht, Kim. Ich kann nicht einfach mit irgendjemandem ins Bett steigen, der mir nichts bedeutet. Dazu bin ich zu verklemmt.“ Ich schob die Erinnerung, wie Chris und ich eines Nachts in Barcelona nackt baden gegangen waren, weit von mir. In jener Nacht hatte ich mich verwegen, heiß und unwiderstehlich gefühlt, kein bisschen entblößt oder unwohl. Chris’ Augen auf meinem nackten Körper hatten mir wohlige Schauer beschert und ich hatte es genossen, ihn zu betrachten, auch wenn ich in der Dunkelheit nicht allzu deutlich sehen konnte. Mir entging allerdings nicht, dass er zwischen den Beinen eine Menge zu bieten hatte. Mehr als Timo.
Allein beim Gedanken daran zog sich da unten alles sehnsuchtsvoll zusammen. Ich seufzte und holte tief Luft. Währenddessen hielt Kim mir eine ihrer berühmten Reden über das Leben und den Sinn des Lebens und die Tatsache, dass das Leben kostbar war und man nicht alles auf die lange Bank schieben sollte, dass man das Spontansein erlernen könne und ich nur keine Lust hätte, mich darauf einzulassen. Erleichtert erblickte ich Marlenes roten Opel, der in die Auffahrt rollte, die Scheinwerfer blendeten mich kurz, ehe sie ausgingen.
„Kimmi, ich muss leider los, Marlene ist grad gekommen“, erklärte ich meiner besten Freundin ohne großes Bedauern. „Ich melde mich wieder, ja?“
„Gut. Und, Edda?“
„Ja?“
„Versuch’s wenigstens mal mit dem One-Night-Stand. Wenn du dich mit jemand Fremdem nicht traust, mach’s doch mit Chris. Ihn kennst du und er hat sicher nichts dagegen. Mit ihm bleibt es auch garantiert unverbindlich.“
„Du bist echt unmöglich“, lachte ich, doch Kim blieb ernst.
„Das war kein Witz, Edda. Ich mache mir Sorgen um dich. Nicht, dass du dich einsam und allein in deinem Zimmer in Köln zu Tode langweilst. Du musst wieder rauf auf die Piste, Süße. Die Jagd auf die Junggesellen ist eröffnet.“
„Keine Sorge, Kim“, erwiderte ich patziger als beabsichtigt, „ich werde schon nicht als einsame, alte Jungfer sterben. Aber das ist eh nicht dein Problem, genieße du mal dein Leben in Bayreuth. Tschüss.“
„Edda ...“, setzte sie besänftigend an, doch ich drückte sie weg, legte das Telefon auf die Kommode und holte mit geschlossenen Augen tief Luft. Manchmal machte Kim mich wahnsinnig, vor allem, wenn sie auf diesem Sexthema herumritt. Ich hatte momentan eben keinen Sex und ich würde mich sicher nicht aus Verzweiflung auf irgendeinen Wildfremden einlassen, das war unter meiner Würde und zu riskant. Ich wollte weder Mutter mit 19 werden, noch irgendeine Geschlechtskrankheit bekommen. Wer wusste schon, ob so ein Kondom immer seinen Zweck erfüllte? Wenn das dumme Ding riss, schaute man blöd aus der Wäsche.
Die Türklingel schrillte und ich zuckte leicht zusammen, obwohl ich wusste, dass Marlene da war. Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, besah mein Outfit ‒ enge dunkelgrüne Hose, schwarze Turnschuhe, bunter Wollpulli mit Rollkragen, das rote Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ich hatte Wimperntusche, Kajal und ein wenig Lipgloss aufgetragen und entschied, dass ich für einen Abend im dunklen Kinosaal hübsch genug war.
Hastig schlüpfte ich in meine schwarze Lederjacke, schnappte mir meine Handtasche und rief „Tschüss, Papa!“ in Richtung Wohnzimmer. Die Worte verhallten ungehört. Seit zwei Stunden lag mein Vater schnarchend auf der Couch, vor ihm auf dem Tisch eine leere Flasche Wein, die er ganz allein getrunken hatte. Meine Mutter war ausgegangen mit einer Freundin, sie hatte sich total aufgebrezelt, trug reichlich Make-up, knallroten Lippenstift und ein kurzes taubenblaues Kleid mit Seidenstrumpfhose darunter. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, dass sie sich zum Stelldichein mit einem Liebhaber traf, doch das war natürlich ausgeschlossen. Meine Mutter würde meinen Vater niemals betrügen.
Bei meiner Rückkehr hatte ich gemerkt, dass sich das Verhältnis meiner Eltern verändert hatte. Sie hatten sich irgendwie voneinander entfernt. Beklommen sah ich dabei zu, wie jeder sein Leben lebte, wie sie sich entfremdeten. Sie waren nicht mehr eine Einheit wie früher, schienen einander nicht mehr zu verstehen. Sie stritten auch nicht miteinander, wie sie es früher getan hatten, sondern schwiegen sich an, nahmen die Fehler des anderen mit einer Gleichgültigkeit hin, als wäre es ihnen egal, was er tat oder nicht tat.
Ich hatte keine Zeit, mich auch noch darum zu kümmern, ich hatte mit meinem eigenen Leben mehr als genug zu tun. Aber ich war nicht blind, mir entging nicht, dass es mit ihrer Ehe offensichtlich abwärtsging. Momentan brachte ich jedoch nicht den Elan auf, mir darum Gedanken zu machen.
Einen Moment lang vermisste ich mein Leben, wie es früher gewesen war, mit glücklichen Eltern, die sich auch nach vielen Jahren Ehe noch gegenseitig ihre Liebe zeigten, und Flocke, der munteren Hündin, die immer an meiner Seite gewesen war. Doch meine Eltern waren nicht mehr glücklich miteinander und Flocke war gestorben, bevor ich von meiner Reise zurückgekehrt war. Sie war vor ein Auto gelaufen.
Es klingelte erneut, ich riss die Tür auf und blickte auf Marlene hinab, denn diese war winzig klein, zart und zierlich, sodass ich mir neben ihr immer schrecklich plump und wie ein Trampeltier vorkam, obwohl ich selbst auch nicht viel auf den Rippen hatte.
„Hi Marlene.“ Ich beugte mich zu ihr hinab und umarmte sie, ehe ich die Haustür abschloss. Dann gingen wir, beieinander untergehakt, zu ihrem Wagen.
Es war recht frisch draußen, ein kühler Wind wehte und ich fröstelte. Bald sollte ich mir meine Winterjacke vom Speicher holen.
Nach einem heißen Sommer mit Rekordhitzewerten und einem anfangs recht warmen Oktober waren die Temperaturen jetzt gegen Ende des Monats doch ziemlich kalt, es regnete häufig. Für die Natur war es gut, dass nach der Hitzeperiode endlich wieder Regen fiel, doch ich fand es schade, dass wir einen solch verregneten Herbst hatten. Der Herbst war meine Lieblingsjahreszeit. Wenn die Bäume ein buntes Blätterkleid trugen, man Kastanien, Eicheln und Bucheckern sammeln konnte, wenn die Kartoffelfeuer brannten, die Maronen gebraten wurden und man Drachen steigen lassen konnte, fühlte ich mich wohl. Außerdem kamen viele schöne Kindheitserinnerungen hoch. Wie ich mit meinen Großeltern einmal einen Drachen mit vielen bunten Bändern gebastelt hatte zum Beispiel oder wie wir eine Igelfamilie den ganzen Herbst hindurch mit Katzenfutter versorgt hatten und sie abends stundenlang im Garten beobachten konnten. Ich erinnerte mich ans Kürbisschnitzen, an das Schneidern der Halloweenkostüme und die Vorfreude aufs Erntedankfest.
Heute war der Himmel den ganzen Tag über mit dunklen, tief hängenden Wolken übersät gewesen, und als ich nun zu Marlene ins Auto stieg, tröpfelte es. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss, legte den ersten Gang ein und schaltete die Heizung an. Kurz darauf blies mir warme Luft entgegen, während wir zum Kino fuhren und uns gemeinsam auf den spannenden Film freuten.